Die Rabin-Problematik

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Jährlich findet in Israel sowie im nichtjüdischen Ausland ein Festival statt, nämlich um den 12. Cheschwan (das hebräische Datum) und den 4. November (das gregorianische) herum, also in der Zeit, in der wir uns gerade befinden.
 
Es ist das Rabin-Festival, angeblich zum Gedenken an den Staatsmann, der zu dieser Zeit im Herbst 1995 ermordet wurde, tatsächlich jedoch mit sehr viel Gesinnungszwang. Es ist inzwischen eine Mischung entstanden aus politischen Zielen und historischen Unwahrheiten, die der eigentlichen Sache – dem Mord an einem jüdischen Staatsmann – einen Bärendienst erweist. Je lauter die umstrittene Feier wird, umso weniger Leute wollen daran teilnehmen.

In diesem Text, mit dem ich die laufende Debatte in Israel zusammenzufassen versuche, findet ihr einen kurzen Überblick über die Schwierigkeiten beim Umgang mit diesem heiklen Thema sowie einen Lösungsvorschlag.
 
Problematisch ist diese bisherige Gedenkform unter vier Aspekten:
 
1. Das Phänomen an sich: Soll die Gestalt eines Politikers so sehr verehrt werden?
2. Die Person Rabins: Darf es einem so leicht fallen, Rabin so undifferenziert und verherrlichend zu gedenken?
3. Das Erbe: Wenn man Rabin und seinen Weg feiert, worum geht es dann eigentlich?
4. Der Attentat: Wissen wir überhaupt, was für eines Sachverhaltes wir gedenken?

Diese Aspekte erläutere ich im Folgenden.

1. Die Verehrung einer politischen Person
 
Es bereitet mir schon Unbehagen, zu sehen, wie oft Rabin gedacht wird, wie viele Einrichtungen in Israel nach ihm bekannt werden, wie sehr man seinen Weg fortzusetzen beschwört. David Ben-Gurion, ebenfalls ein Sozialdemokrat, leistete unermesslich mehr für Volk und Land als Rabin und dennoch bleibt sein Gedenken fern hinter dem fast religiös anmutenden Eifer des jährlichen Rabin-Festivals zurück.
 
Wenn einer toten Person so viel Verehrung erwiesen wird, kann das nur Schlimmes andeuten.
 

2. Die Person Rabins
 
Zu seinen Lebzeiten, auch lange vor seiner letzten Amtszeit, war Rabin eine sehr umstrittene Person. Um ein Beispiel zu nennen: Im Juni 1948 war Rabin als Kommandant vor Ort mitschuldig an einem berühmten Angriff auf ein jüdisches Schiff namens »Altalena«, auf dem auch Holocaust-Überlebende waren. Das Schiff brachte nicht nur Menschen nach Israel, sondern auch Waffen, die im jüdischen Unabhängigkeitskrieg anderen Einheiten bestimmt waren als die von Rabins Fraktion, der Fraktion Ben-Gurions, der den Angriff befahl, den Rabin ausführte. Manche Soldaten weigerten sich, auf Juden zu schießen, doch andere gehorchten, darunter auch Rabin, der Befehlshaber am Strand. Also wurde geschossen, bis das Schiff dem Beschuss durch Rabins Soldaten unterlag und sank. Die angegriffene Fraktion wehrte sich nicht, da Menachem Begin, ihr Leiter, sich dagegen entschied; er wollte damit einen jüdischen Bürgerkrieg vermeiden.

 

 

Aufnahmen des Beschusses (bitte zu Minute 1:10 überspringen):
Rabin erzählt eher gleichgültig von dem, was unter seiner Aufsicht geschah, desgleichen zwei weitere Zeitzeugen, darunter ein ehemaliger Soldat Rabins, der vom Erschießen schwimmender Verwundeter erzählt (Hebräisch mit englischen Untertiteln).
Danke an den Leser David Cahn, 2009 ebenfalls Bundestagsstipendiat

Von 1964 bis 1968, also auch während des Sechs-Tage-Kriegs im Juni 1967, war Rabin Generalstabschef. Für den Sieg bekam er von der Hebräischen Universität in Jerusalem, deren Campus auf dem Scopusberg erst in diesem Krieg befreit werden konnte, den Doktortitel honoris causa. Viel später, als bekannt wurde, dass er Alkoholiker war, tauchten Fragen zu seinem eigenen Beitrag auf, doch erst mal galt er als Kriegsheld. Aus diesem Ruhm sollte sich seine Karriere auch in Zukunft speisen – ohne ihn wäre er nie zweimal Premierminister geworden.
 
Seine zweite und erst recht berühmte Amtszeit zerriss das Volk im In- und Ausland zusehends, doch Rabin nahm daran keinen Anstoß. Seine Politik führte das Land in eine katastrophale Sicherheitslage, die danach noch jahrelang dauern sollte und im Grunde genommen bis heute besteht. Angesichts der sich häufenden Judenmorde sank die Zustimmungsquote im Volke, was bei Rabin indes Verachtung fand. Zwischen dem ersten und dem zweiten »Oslo«-Abkommen verlor er die Unterstützung einiger Abgeordneter und somit auch die Mehrheit im Parlament; um das zweite Abkommen dennoch ratifizieren zu lassen, kaufte er die Stimmen zweier sonst völlig unbedeutender Abgeordneter, die gegen seine Politik gestimmt hatten, bis sie von ihm Regierungsfunktionen bekamen. Die Kritik an den Schäden, die er dem demokratischen System zufügte, wollte er nicht wahrnehmen.
 
Rabin war und ist bis heute eine höchst umstrittene Person, deren Taten und Entscheidungen sich teilweise nur schwerlich verteidigen lassen.
 

3. Sein politisches Vermächtnis
 
Im Gegensatz zu anderen jüdischen Führern wie etwa David Ben-Gurion war Rabin kein »Philosoph auf dem Thron«, auch kein Visionär. Er hinterließ keine nennenswerten Schriften, keine klare Weltanschauung, keine Bekenntnisse, die über den politischen Alltag hinausgehen. Das ist keine Kritik an ihm, so sind ja nun mal die meisten Politiker. Das bedeutet jedoch, dass sein heutzutage vielerorts beschworenes »Vermächtnis« nicht von ihm selbst stammt, sondern posthum von anderen geschaffen worden ist, die seine Person für ihre jeweils eigenen Zwecke benutzen wollen.
 
Dabei gehören der Beschuss von Holocaustüberlebenden oder der Kauf von Abgeordneten natürlich nie zum immer positiv konstruierten »Vermächtnis«, das mit der Zeit immer weniger plausibel und überzeugend wird.
 

4. Der Attentat
 
Es spricht nicht für die weltweit einzig jüdische Demokratie, dass die Allgemeinheit bis heute nicht alles über diesen Fall erfahren durfte. Verbunden mit dem Gedenken an Rabin ist heutzutage auch eine spezifische Version davon, was sich am 4.11.1995 ereignete. Das einfache Volk, zu dem ich auch zähle, weiß, was die staatliche Untersuchungskommission dazu veröffentlichte. Genauso bekannt sind jedoch auch die Unstimmigkeiten in diesem Bericht wie auch die Tatsache, dass wichtige Teile davon der Allgemeinheit noch nicht freigegeben sind.
 
Warum der offizielle Bericht in manchen Fragen dokumentierten Tatsachen widerspricht, ist in Israel umstritten. Was diese Widersprüche zu bedeuten haben, ist ebenfalls umstritten. Und schließlich ist auch die Frage, wie Rabin in jener Nacht wirklich ermordet wurde, ein umworbener Forschungsgegenstand. Es kam sogar zu einem Fernsehprogramm, das auf diese Fragen Antworten geben wollte, aber sie dann doch nur mehr vertiefen konnte. Kurzum: Der Mord an Rabin ist die jüdische Version der US-amerikanischen Kennedy-Affäre oder des schwedischen Realitätskrimis um Olof Palme.
 
An Hinweisen und Indizien fehlt es anscheinend nicht, aber sie zu interpretieren, ist eine ganz andere Sache. Solange das Kernstück des Kommissionsberichts streng geheim gehalten wird, bleiben dem Volk nur Spekulationen – von links und rechts gleichermaßen. Dass darüber in Israel relativ frei gesprochen und geschrieben werden kann, bildet zwar wiederum ein gutes Zeugnis für die jüdische Demokratie; aber solange wir die Wahrheit nicht erfahren dürfen, gibt es keinen Platz, einer zweifelhaften Version zu »gedenken«.
 

Was nun? Ein Lösungsvorschlag
 
Die Person Rabins ist, »indisch« gesprochen, zu einer heiligen Kuh geworden, zu einem Sakrosanktum, zumindest für bestimmte Teile der jüdischen Linken. Dabei gilt es zwischen zwei Aspekten zu differenzieren:
 
1. Rabin als Ältester des »Friedensstamms«
2. Rabin als Premierminister des jüdischen Staates
 
Viele Juden wollen des Mordes an Rabin als jüdischem Premierminister gedenken, ohne damit seine höchst problematische Biographie gutheißen zu müssen. Darum muss man einen Ansatz finden, der dem eigentlichen Sachverhalt, dem des Mordes, gerecht wird, aber diesen nicht für politische Zwecke missbraucht.
 

1. Rabin und der »Friedensstamm«

Rabin wird heute von vielen als Anführer jener jüdischen Fraktion gesehen, die Israels oberstes Ziel – ob zu Recht oder Unrecht – im Frieden erblickt. Somit wird ihm posthum die Rolle einer vereinigenden Vaterfigur zugeschrieben, was jedoch nur auf bestimmte Teile der Bevölkerung zutrifft. Die Zerrissenheit, die er damals herbeiführte, wird verdrängt. Man versucht, den Diskurs durch die posthume Totemisierung Rabins einzuengen, wie es in den USA in Bezug auf J. F. Kennedy geschah.

Die Idolisierung seiner Person führt notwendigerweise zu einem partikularistischen Totenkult, an dem Anhänger des »Friedensstammes« Gefallen finden. Unter diesem Aspekt wandelt sich das Gedenken an Rabin in eine durchaus politische und darum höchst umstrittene Veranstaltung. Dieser Ansatz hat wenig mit Gedenken zu tun, dafür aber sehr viel mit dem oben beschriebenen Missbrauch.
 
Diese Form erweist sich von Jahr zu Jahr als nicht tragfähig. Immer mehr Leute fühlen sich beim Missbrauch unwohl und wollen unter solchen Umständen lieber nicht am Rabin-Festival teilnehmen.
 

2. Rabin als Staatsmann
 
Auch wenn wir nicht wissen, wie das passierte und von wem das zu verantworten war/ist, bleibt eines klar: In der Nacht vom 4. auf den 5. November 1995 wurde Rabin ermordet. Damit haben wir hier mit einem Attentat an einem jüdischen Würdenträger zu tun. Hinzu kommt, dass Rabin allen Indizien nach von einem oder mehreren Juden ermordet wurde.

Dass ein jüdischer Staatsmann von jüdischer Hand ermordet wird, passierte dann nicht zum ersten Mal. Der hebräische Kalender kennt z. B. einen jährlichen Gedenktag an Gdalja ben Achikam, einem jüdischen Statthalter, der nach der ersten Tempelzerstörung, im Jahre 586 v. u. Z., von den Babyloniern ins Amt gesetzt und kaum zwei Monate später von einem anderen Juden namens Ismael ben Netanja ermordet wurde (vgl. Jeremia 40-41).
 
Genau dieses Sachverhalts gilt es auch im Fall Rabin zu gedenken: Es geht darum, dass ein jüdischer Staatsmann von jüdischer Hand ermordet wurde – nicht mehr und nicht weniger. Daran wird sich nichts ändern, auch dann nicht, wenn der Tag kommt, an dem wir endlich die ganze Wahrheit über jene Schreckensnacht erfahren dürfen.

Weg vom politisierenden und zerreißenden Fraktionspartikularismus und hin zur überparteilichen Volkstrauer: Nur so kann des Eigentlichen, des wahrhaft Entsetzlichen, gedacht werden.

Fazit 

Rabin war, ist und wird als Person auch in absehbarer Zukunft ein sehr heikles Thema sein. Doch der jüdische Mord an einem jüdischen Staatsmann verpflichtet uns, Rabin jenseits des Umstrittenen zu gedenken und somit ohne politischen Missbrauch das Amt zu ehren, das mit mit seiner Ermordung verletzt wurde. Nach fünfzehn Jahren Rabin-Festival scheint das der einzig vertretbare und in der Praxis tragfähige Ansatz zu sein, den auch ausländische, etwa deutsche Organisationen beherzigen sollten, die mit dieser schwierigen, ja schmerzlichen Sache zu tun haben.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

Schreibe einen Kommentar