Israels Schatztruhe

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

SchatztruheDie Sonne geht unter und Chanukka, das Fest der Glaubenskämpfer, verabschiedet sich zusehends. Zeit ist es für eine kleine Bestandaufnahme des Jüdischen, für eine Rückbesinnung: Worum geht es "eigentlich" bei dieser Sache? Was sind die möglichen Bausteine jüdischer Nationalidentität?

Vor allem Überlieferungen.
 
Überlieferungen aus zigster Hand: redigiert, stilisiert, korrigiert. Aber oft auch geflissentlich problematisch.
 
Es bedarf, um mit Foucault zu sprechen, viel archäologischer Arbeit. Doch in allen Schichten enthüllt sich das Schöne an der Unvollkommenheit.
 
Und schließlich ist es unsere Unvollkommenheit, unsere Bruchstücke, unser gewundener Faden durch die Weltgeschichte hindurch.
 
Es sind die vorbiblischen Ursprünge, deren Spuren uns nur spärlich erhalten geblieben sind,
die frühbiblische Vielfalt, in deren Schoß viele Propheten Gottes Worte erschallen ließen,
der hochbiblische Kulturkampf für Jahwe und gegen andere Gottesvorstellungen
und die spätbiblische Festlegung von Kultformen und sozialen Regelungen.
 
Es sind auch die dialektisch unausbleibliche Versteinerung der Kultformen zur nachbiblischen Zeit
sowie die begleitende Gärung, von der uns die sog. Apokryphen erzählen.
 
Es ist der hochantike Aufbruch in neue Gottesverständnisse:
die frührabbinische Verrechtlichung des Kultes und die kritischen Gegenströmungen,
nicht zuletzt durch Jesus von Nazaret, der bald von heidnischen Fremden angeeignet wurde.
 
Es sind die Entstehung rabbinischer Grundschriften in der Spätantike und dem frühen Mittelalter,
die gleichzeitige Ideologisierung der alten Oppositionsgruppen
und die wohl unvermeidliche Spaltung in ein rabbinisches und ein karäisches Judentum.
 
Es sind der allmähliche Untergang der jüdischen Gesellschaft in Israel
und die Verlagerung des Mittelpunkts des Volkslebens nach Babylonien.
 
Es sind die Blüte jüdischer Literatur und jüdischen Denkens im hochmittelalterlichen Iberien,
deren frühneuzeitliche Fortsetzung im slawischen Osteuropa
sowie die breit gefächerte Schöpfung in der deutschen Moderne.
 
Es ist sowohl die Migration in alle Himmelsrichtungen und die Globalisierung von Israels Erbe,
als auch die erneute Hinwendung zum Kernland und die Rückkehr als selbstbewusstes Subjekt in die Geschichte.
 
Israels Schatztruhe ist voll
auch voller Gegensätze:
 
Sie enthält Kulturgüter aus der ganzen Erde,
aber dreht sich nach wie vor um Jerusalem.
Ihre Entstehungsgeschichte ist dialektisch,
ihr Gehalt widersprüchlich
und ihre Besitzer zerspalten,
doch in all ihren Manifestationen
bleibt sie jüdisch.
 
Einfach jüdisch.
 
So sehr jüdisch, wie es nur aus dieser Perspektive, mit der Fülle der Gegensätze und auf dem Gipfel der Geschichte, möglich ist:

Unsere Geschichte, unsere Schatztruhe.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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