Die Übertrittsfrage. Teil II: Vom kritisch-philosophischen Blickpunkt aus

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Nachdem die Problematik des Übertritts im letzten Beitrag aus ihren biblisch-religiösen Grundlagen heraus beleuchet worden ist, darf sie nun auch vom zeitgenössischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden.
"Die Existenz geht der Essenz voraus", lautet ein berühmter Leitsatz des sartreschen Existentialismus. Das bedeutet z. B., dass kein Mensch als Lügner oder Wahrheitssager geboren ist, sondern sich es erst als Erwachsener werden lässt, indem er sich immer wieder dazu entschließt, zu lügen bzw. die Wahrheit zu sagen. Es sind mithin seine Handlungen, die ihm ein bestimmtes Wesen verleihen, indem sie bestimmen, wie er sich selbst ansieht und von anderen angesehen wird.

Nun wird auch kein Mensch als Jude oder als Christ geboren. In sein religiöses Wesen, etwa in das Jüdischsein, wird man vielmehr passiv hineinerzogen. Wenn er sich als Erwachsener dann aktiv dazu entschließt, das Jüdische weiterhin zu praktizieren, nimmt er erst recht ein jüdisches Wesen an. Er kann sich aber auch zum Übertritt ins Christentum entschließen, christliche Handlungen durchführen, sich christliche Sichtweisen aneignen und diese vor anderen vertreten. Dadurch wird er Christ, d.h. er verleiht sich ein christliches Wesen bzw. konstruiert sich eine christliche Identität.

Welche Handlungen und Meinungen jeweils als jüdisch oder christlich gelten, ist zeit- und ortsgebunden und hängt i. d. R. davon ab, was die Gruppe, der man angehören will, für jüdisch oder christlich hält. Man kann aber auch neue Wege einschlagen, wie es etwa die Entstehung des rabbinischen Judentums und die des kirchlichen Christentums selbst zeigen. Ob und wie sich das Neue durchsetzt, darüber entscheidet schon die Geschichte.

Nun braucht man von anderen gar nicht als Christ angesehen zu werden, um eine neue Richtung zu entwickeln: Der Schreiber dieser Zeilen wird heute zwar, soweit er weiß, von keinem für einen Christen gehalten, könnte sich jedoch morgen Sichtweisen aneignen und Handlungen ausüben, die er selbst für christlich hält und dadurch, zumindest in den eigenen Augen, Christ werden. Weiteres, etwa die Taufe durch einen Geistlichen, wäre mithin nicht nötig, um ein christliches Wesen zu konstruieren. Philosophisch betrachtet, ist der Übertritt schon durch die aktive und bewusste Erfüllung der eigenen Vorstellungen erfolgt.

Ein anderer Aspekt des Übertritts ist jedoch die Akzeptanz durch die eine oder andere Bezugsgruppe. Bei der Akzeptanz geht es kaum um die eigenen Vorstellungen, sei es nun vom Judentum oder vom Kommunismus; wünscht man sich die gesellschaftliche Akzeptanz, so kommt es nunmehr auf die bereits bestehende Gruppe an, an der man sich orientiert und der man beitreten will. Diese definiert sich durch bestimmte Vorstellungen, anhand deren sie sich von anderen Gruppen abgrenzt. Es kommt also auf jene Vorstellungen vom Judentum bzw. Kommunismus an, die in der jeweiligen Bezugsgruppe bereits vorherrschen. Dem Übertretenden liegt es dann ob, sich an das bereits Bestehende anzupassen.

Daher handelt es sich beim Übertritt fast immer um Akkulturation: Wer sich selbst noch nicht für einen Juden bzw. Kommunisten hält, wird einer, indem er sich die Sichtweisen aneignet und die Handlungen ausübt, die in der Gruppe, der er angehören will, als jüdisch bzw. kommunistisch gelten. Ein Beispiel hierfür liefert Rut, die biblische Moabiterin, die sich in die israelitische Gesellschaft bewusst akkulturiert und demzufolge als "eine von uns" angesehen wird. Ob die angestrebte Akzeptanz erreicht wird und wie lange es bis dorthin dauert, hängt von der jeweiligen Konstellation ab. Der Akkulturationsversuch kann zwar scheitern, wie es die neuere Geschichte der Juden in Deuschland zeigt, aber im Grunde genommen wird der Übertritt durch die Akkulturation vollzogen.

Vor diesem Hintergrund kann nun die besondere Problematik des Übertritts zum Judentum beleuchtet werden: Selbst im heutigen Judentum, so facettenreich es ist, reicht es doch nicht aus, dass man Jude ist, damit man als Jude auch akzeptiert wird. Zur Veranschaulichung dieses Problems kann man sich eine Situation vorstellen, in der ein Kommunist von irgendeiner kommunstischen Partei doch nicht als Kommunist angesehen wird, solange er dieser Partei nicht beigetreten ist und dabei alle bürokratischen Bedingungen erfüllt hat, die sie voraussetzt.

Bei Rut genügte noch ein subjektiver Sprechakt, um den Übertritt zu vollziehen: "[W]o du hingehst, dort gehe ich auch hin, und wo du weilst, dort weile ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott!" (Rut 1:16). Freilich war Rut eine weibliche Gestalt, weshalb in ihrem Fall ein Großteil der Problematik, die man später hierin erblickte, wohl gar nicht entstanden war (im biblischen Judentum kommt es vornehmlich auf die väterliche Blutlinie an). Jedoch konnten die Israelitin Rut und ihre damaligen Volksgenossen kein Judentum ahnen, geschweige denn eines, in dem solch ein formloser und dennoch erfolgreicher Übertritt kaum vorstellbar ist. Im Judentum, wie etwa im Christentum auch, ist der Übertritt bzw. die Anerkennung der neuen Identität streng institutionalisiert worden.

Dieser Entwicklungsgang beruht auf den sozusagen theologischen Grundsätzen, die ich im vorherigen Beitrag zur Übertrittsfrage erläutert habe. Vor diesem theoretischen Hintergrund lässt sich das Problem nun auch so formulieren: Im rabbinischen Judentum, wo man als Jude geboren (!) wird, geht die Essenz der Existenz voraus. Mit anderen Worten: Es ist die Essenz, die die Existenz bestimmen soll.

Die Institutionalisierung kann allerdings nur deswegen zum persönlichen Problem werden, weil man bei der Akkulturation in die eine oder andere Bezugsgruppe auch die institutionalisierten Denkmuster verinnerlicht, die einen selbst disqualifizieren bzw. ausschließen können. Wird einem Juden die amtliche Anerkennung tatsächlich vorenthalten, so versteht er sich selsbt oft nicht wirklich als Jude und leidet demzufolge unter innerer Spaltung.

Jedoch liegt es stets im Ermessen des Einzelnen, inwiefern man sich von rabbinischen Institutionen abhängig macht und ob man sein jüdisches Selbstverständnis überhaupt nach solchen Institutionen richtet. Der rabbinische Übertritt ist mithin eine Procedere, die ein Jude stets sich selbst auferlegt. Dass viele ausgerechnet damit ihr Jüdischsein zum Ausdruck kommen lassen wollen, zeugt schließlich von dem Ausmaß dieser weit verbreiteten Selbstentmündigung bzw. selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

6 Kommentare

  1. Rabbinischer Übertritt…

    Kann es nicht einfach sein, dass der Unterwerfungsaspekt, den Du so schön als “Selbstentmündigung” bezeichnest, gerade ein spirituelles Bedürfnis darstellt? Und dass die Erfüllung dieses Bedürfnisses gerade ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Institutionalisierung ist?

    Meiner Erfahrung nach sind die meisten Leute, die im Erwachsenenalter aktiv einer Religionsgemeinschaft beitreten, eher vom Typus “gequälter Sinnsucher”. Und die geben sich, wenn sie denn ihre spirituelle Heimat gefunden haben, eher nicht mit einer Spruch-aufsagen-und-gut-ist-Konversion zufrieden.

  2. Das habe ich gemeint

    …mit dem letzten Satz.

    ad 2.: Da hast du Recht. Bei manchen scheint auch so ein Mechanismus wirksam zu sein bei bei Groucho Marx: “I don’t care to belong to any club that will have me as a member”. Allerdings sind wir hiermit schon bei einem völlig anderen Thema: “Die Übertrittsfrage vom psychologischen Gesichtspunkt aus”. Nimmst du es auf?

  3. Hmmm

    Das ist ehrlich gesagt absolut nicht meine Welt. Das Thema ist zwar sehr spannend, aber ich verstehe im Grunde überhaupt nichts davon. Religiosität ist mir auch zu fremd, als dass ich mich ersthaft daran versuchen könnte, über die Motive anderer Leute zu schreiben.

  4. Hallo!
    Ich bin über zig Links und zufällge Weiterverlinkungen hier gelandet und muss sagen, ich finde das hochinteressant zu lesen!

    Als etwa 9järhiges Kind wollte ich “wenn ich groß bin” zum Judentum übertreten. Der Grund: Ich hatte zwei Kinderbücher gelesen über das Leben einer jüdischen Familie und fand speziell die Feste und Feiertage so toll, dass ich das auch gerne gehabt hätte.

    Inzwischen bin ich aus der katholischen Kirche aus- und nirgendwo mehr eingetreten, aber mein Interesse am Judentum hat sie so ganz nachgelassen. Vielleicht auch gerade weil es so schwer zu begreifen ist – aber vielleicht finde ich ja beim weiteren Lesen hier die ein oder andere Antwort!

  5. Selbstentmündigung

    “Dass viele ausgerechnet damit ihr Jüdischsein zum Ausdruck kommen lassen wollen, zeugt schließlich von dem Ausmaß dieser weit verbreiteten Selbstentmündigung bzw. selbstverschuldeten Unmündigkeit.”

    Nun hast Du leider lediglich eine Wertung eingebracht, die sich mir im Übrigen nicht erschliessen kann, weil sie sehr persönlich ist, also eine Meinung.
    Ich sehe Konversionen zur einen oder anderen Religion eher an als ein Bedürfnis nach einer Verbindlichkeit. Eine Eigenentscheidung, die aus mir einen Juden, einen Christ o.a. macht, weil ICH mich dazu entschliesse – ohne eine Akzeptanz bzw. Verbindung mit der Gruppe zu suchen, die auch eine Konsequenz aus dieser Entscheidung verlangt, mag zwar persönlich bereichernd und schön sein, ist aber ohne die Antwort des Gegenübers ein einseitig geschlossener Vertrag, der aufgrund dieser Einseitigkeit womöglich keine Gültigkeit besitzt. Du hast selbst das Bespiel der Akkulturation der deutschen Juden in die nichtjüdische Gesellschaft gebracht und ihr Scheitern erwähnt. Diese Akkulturation ist ein gutes Beispiel für eine einseitige Entscheidung, die nicht selten zu der Illusion führt man “wäre” – in Wahrheit ist man es nicht, denn die Gesellschaft, die Gruppe erkennt Dich nicht als einen der ihren. Dazu bedarf es offensichtlich mehr. Das übrigens war schon in biblischen Zeiten so, denn nicht umsonst wurden die Rechte des Ger Toshav und des Ger Zedek recht genau umrissen – jener wie dieser hatte sich an gewisse Dinge zu halten, die “jüdische Gruppe” gewährte ihm im Gegenzug gewisse Rechte. Er beschloß nicht im “stillen Kämmerlein” ein angehöriger dieser Gruppe zu sein, sondern im Kontext seines Gegenübers.

  6. Zentralrat der Juden in Deutschland will

    Zentralrat der Juden in Deutschland will Konversionen erleichtern

    (…)

    Sowohl in den israelischen, US-amerikanischen wie auch deutschen Gemeinden erfolgte in den letzten Jahren eine intensive Debatte über die Zukunft des Judentums. Dabei wurde erkannt, dass einerseits eine breitere, durchaus auch wettbewerbliche Akzeptanz der innerjüdischen Vielfalt, die weitere Förderung von Familien, aber eben auch eine Erleichterung von Konversionen für das Überleben des Judentums in modernen Gesellschaften nötig werde.
    (…)
    Die Jüdische Allgemeine brachte Anfang Juli zu all dem ein Interview mit dem zuständigen Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, Nathan Kalmanowicz

    (…)

    Gefunden bei Michael Blume:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…048261/

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