Die Übertrittsfrage. Teil I: Vom biblisch-religiösen Blickpunkt aus

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Angeknüpft an den Beitrag Zum "Wesen" Israels, wird nun die Übertrittsfrage beleuchtet, zunächst aus der Perspektive des orthodox-religiösen Judentums, das sich, sofern man überhaupt verallgemeinern darf, als Fortsetzung des biblischen Judentums versteht.

Im besagten Beitrag habe ich erklärt, warum die biblische Vorstellung von der Auserwähltheit Israels sich nicht auf den Rechtscorpus zurückführen lässt, der Israel am Sinai von Gott gegeben worden sei, sondern, wenn man der Bibel gut zuhört, eher mit dem göttlichen Auswahlverfahren zusammenhängt, an dessen Ende der Erzvater Jakob bzw. Israel steht und aufgrund dessen die Nachkommenschaft Israels das göttliche Recht überhaupt erhalten habe.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Übertrittsfrage recht schwierig. Im Gegensatz zum Christentum, das auf dem Glauben an die heilsgeschichtliche Rolle Jesu, d.h. auf einer Idee basiert, zu der man sich "einfach" bekennen kann, spielt im Judentum die Idee, die v. a. im jüdischen Recht verkörpert ist, eine erst zweitrangige Rolle. Sie unterliegt nämlich dem (angeblich) objektiven Umstand, dass man Jude ist (oder nicht). So darf sich ein Nichtjude z. B. nicht an die Schabbes-Vorschriften halten; sonst sollte er mit dem Tode bestraft werden, selbst wenn er sich zu dieser Idee bekennt. Übertrittskandidaten, die sich auf ihr neues Leben vorbereiten, müssen daher jeden Schabbes einen kleinen Verstoß gegen die Schabbes-Vorschriften begehen. Erst wenn man Jude wird, darf bzw. muss man sich an das jüdische Recht halten. Bis dann gelten für ihn nach jüdischem Recht nur die sieben Noachidischen Gebote, und zwar selbst dann, wenn er sich gar nicht dazu bekennt; denn in diesem essentialistischen Weltverständnis spielt das Bekenntnis, wie gesagt, kaum eine Rolle.

Doch wie kann man eigentlich Jude werden, wenn es auf kein Glaubensbekenntnis ankommt, d.h. wenn die Sache von vornherein nicht universell gemeint ist, sondern auf eine bestimmte Essenz, eine angeblich klar definierte Blutlinie beschränkt ist?

Diese Frage beantwortet die lurianische Kabbalah mithilfe von Begriffen ("Funken" und "Schalen"), die auf das eigene System dieser mystischen Lehre zurück beziehen und das Vorhandensein von Über- und Austritten damit erklären sollen, dass die betroffenen Seelen von vornherein jüdisch bzw. nichtjüdischen gewesen und mit dem Über- bzw. Austritt nur zu ihrem jeweiligen Ursprung, d.h. in ihr eigentliches Wesen zurückgekehrt seien, innerhalb dessen sie sich wohl fühlen. Sieht man jedoch von solcher Mystik ab, so bleibt die religionsrechtliche Frage bestehen: Wie kann ein nichtjüdisch Geborener in eine fremde Blutlinie eintreten?

Um die Problematik nachvollziehbarer zu machen, muss ich zuerst etwas anderes erklären: Im Judentum gibt es eigentlich keine Nachnamen; man (X) ist der Sohn (bzw. die Tochter) seines Vaters (Y) und seiner Mutter (Z), je nach der Situation: Wenn man bspw. in der Synagoge zur Thora-Lesung aufgerufen wird, heißt man "X, der Sohn von Y". Wird man aber krank und wollen andere Gott um seine Genesung bitten, so heißt er "X, der Sohn von Z". Und warum habe ich es erwähnt? Weil Proselyten, die als Neugeborene nichts mehr mit den biologischen Eltern zu tun haben sollen, interessanterweise dem Erzvater Abraham und der Erzmutter Sarah zugeschrieben werden. Nur gilt das genau so für die Muslime, die Abrahams Erstgeborenem Ismael zugeschrieben werden, sowie für die Christen, die im Judentum Isaaks Erstgeborenem Esau zugeschrieben werden.

Mit anderen Worten: Proselyten werden – auch bzw. gerade nach dem erfolgreichen Übertritt – nicht dem Erzvater zugeschrieben, der am Ende des göttlichen Auswahlverfahrens steht: Jakob bzw. Israel. Der Bezug des Proselyten auf die Blutlinie Israels ist also eher problematisch. Die ehrliche Antwort auf die Übertrittsfrage lautet also: In diese Blutlinie, nach der sich im jüdischen Recht alles richtet, kann ein nichtjüdisch Geborener selbst durch den Übertritt nicht wirklich eintreten.

Dies hat z. B. zur Folge, dass einem Priester (heb. Cohen) eine Proselytin verboten ist (d.h. er darf sie nicht heiraten oder begatten). In diesem Zusammenhang wäre es wohl gut zu bemerken, dass im Judentum – im Gegensatz zur üblichen, aber falschen Meinung – nicht die Mutter, sondern der Vater die Blutlinie bestimmt (vgl. etwa bei Leviten im Allgemeinen und bei Priestern im Besonderen). Nur bei Mischehen jeder Art wird der Vater ausgeschlossen und die Blutlinie nach der Mutter bestimmt. Und dennoch: Eine jüdisch Geborene, bei der die Mutter zwar Jüdin, der Vater aber keiner ist, ist einem Priester ebenfalls verboten.

Bei den Kindern des Proselyten bzw. der Proselytin tritt diese Schwierigkeit übrigens nicht mehr auf. Das Kind X ist dann einfach der Sohn (bzw. die Tochter) des Vaters Y und der Mutter Z (der übergetretene Elternteil hat bei seiner Neugeburt einen neuen, hebräischen Namen bekommen).

Zum Schluss möchte ich abermals die Erklärungsversuche berühren, die das Judentum, etwa durch den oben erwähnten mystischen Ansatz, im Laufe der Zeit hervorgebracht hat, um diese Problematik abzumildern: Wie man es auch immer dreht und wendet, bleibt der Übertritt schließlich eine Schwierigkeit, die es bei allen jüdischen Denkern, die sich darauf beziehen, stets zu rechtfertigen gilt. Wie man es tut und ob der Versuch jeweils plausibel erscheint oder nicht, ist eine andere, und zwar zweitrangige, weil subjektive Frage. Vor allem in diesem Punkt steht das Judentum im scharfen Gegensatz zu anderen Religionen, in denen die Konversion nicht nur positiv bewertet, sondern ja auch erwartet wird. Dieser Unterschied rührt, wie gesagt, daher, dass die jüdische "Botschaft" nicht universell gemeint ist, sondern sich auf Israels Blutlinie beschränkt, von der der Zugang zur Botschaft bzw. die angebliche Pflicht, die in ihr enthaltenen Ge- und Verboten gerecht zu werden, abhängig gemacht wird.

Im Übrigen gibt es im Pentateuch – dem am meisten geheiligten Kern der hebräischen Bibel, aus dem die Rechtsanweisungen abgeleitet werden – keine rechtliche Grundlage für den Übertritt. Ganz im Gegenteil: Das hebräische Wort "Ger", das im Talmud "Proselyt" bedeutet, kommt im Pentateuch ausschließlich im Sinne von "Fremdling" vor.

Soweit zur Übertrittsfrage aus biblisch-religiöser Perspektive. Im nächsten Beitrag wird diese Frage nunmehr vom kritisch-philosophischen Blickpunkt aus betrachtet. Doch auch dort wird auf die Bibel Bezug genommen und zwar auf die Erzählung von der Welt wohl berühmtester Proselytin: Ruth der Moabiterin.

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

8 Kommentare

  1. Konversion politisch

    Moin Yoav.

    Das ist ein hochspannendes Thema. Ich erinnere mich, dass es vor etwa zwei Jahren in der (englischsprachigen) israelischen Presse einige sehr angeregte Debatten über das Thema gab. Hast Du geplant, dazu, bzw. zum innenpolitischen Hintergrund der Frage noch mal gesondert was zu sagen?

  2. Religion = Evolution?

    Wenn sich die orthodoxen Juden in den letzten tausend Jahren an diese Sichtweisen streng gehalten haben, sollte man das ja in ihrem Genom wiederfinden.

    Und wenn ich beispielsweise Dean Hamers “Gottes-Gen” richtig gelesen habe, ist ja genau das der Fall.

    Die jüdische Religion, die kulturell weitergegeben wird, stellt also einen Faktor in der menschlichen Evolution dar.

  3. Übertritt im Pentateuch?

    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man von einem Übertritt sprechen kann, wenn man sich Ex. 12.44

    וכל־עבד איש מקנת־כסף ומלתה אתו אז יאכל בו׃ – Jeder um Geld gekaufte Sklave eines Mannes aber – wenn du ihn beschneidest, dann darf er davon essen.

    anschaut oder eine Zwangskonversion. Oder Vergleichbar dem Beschneidungsauftrag an Avraham, auch seine Knechte zu Beschneiden, was ja eine Aufnahme in den Bund bedeutete, oder nicht? Wie siehst Du es?

  4. Hi Yoav,

    mich interessiert in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die ich aus der Bibel kenne, und nun aus dem Gedächtnis zitiere:

    Auf der Wanderung ins gelobte LAnd wird ein Fremdling aufgegriffen, der am Sabbath Feuerholz gesammelt hat. Das Volk bringt ihn vor Moses. Auch Mose ist ratlos, wie mit ihm verfahren werden soll und fragt direkt bei JACHWE nach. Der meint “Steinigen” und so wird er dann gemäß Gottes eigenem Urteil gesteinigt.

    Wie verträgt sich dies mit den Vorschriften, dass ein vermutlich Konvertietswilliger gar nicht alle Vorschriften einhalten darf. Einige muss er aber wohl doch einhalten, oder?

    Wie ist es im heutigen Israel. Muss sich z.B. ein Tourist an spezielle religiöse Gebote halten?

    mfg
    Luchs

  5. Kein Fremdling

    Der Aufgegriffe war kein Fremdling.
    Siehe z. B. http://www.myjewishlearning.com/…hlah_ou5761.htm

    Und als Tourist kannst Du in IL
    im Prinzip machen was Du willst.
    Nur in religioesen Wohngebieten
    empfiehlt sich Ruecksichtnahme
    auf die Schabbath-Ruhe.

    > Doch wie kann man eigentlich Jude werden,
    > wenn es auf kein Glaubensbekenntnis ankommt,
    > d.h. wenn die Sache von vornherein nicht universell gemeint ist,
    > sondern auf eine bestimmte Essenz,
    eine angeblich klar definierte Blutlinie beschränkt ist?

    Sorry, das ist doch Unsinn.
    – Wer war die Frau von Joseph?
    Asenath, die Tocher des Potiphar.
    – Wer war die Frau von Moses?
    Zipporah, die Tochter von Jithro,
    des Hohepriesters von Midian.
    – Der juedische Messias stammt
    ueber Ruth und David von Moab ab!
    – …..

    Es stimmt zwar, dass wir nicht erwarten,
    dass Nichtjuden je alle Ge- und Verbote
    einhalten.
    Aber wir erwarten durchaus,
    dass im Zusammenhang mit der Ankunft
    des Messias alle Menschen G-tt
    als ihren “Koenig” anerkennen.

    YM

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