Das noch junge Tel-Aviv aus der Sicht eines Zugewanderten

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Das Tel-Aviver Wappen 1925Heuer feiert Tel-Aviv (links: das erste Stadtwappen von 1925), die älteste und wichtigste unter allen neu-jüdischen Städten, das Jubiläum seines hundertjähriges Bestehens. Obwohl ich kein großer Fan bin von dem, was aus Tel-Aviv geworden, möchte ich hier ein Zitat wiedergeben, das beschreibt, worin die große Bedeutung der Stadt seinerzeit bestand.

 

 


 

Es ist unmöglich, Tel-Aviv nicht zu mögen. Schließlich ist es der einzige Ort auf der Welt, wo der Jude einfach Jude sein kann; weder deswegen, weil es erlaubt ist, noch deswegen, weil es verboten ist, sondern bloß als ein Mensch, der Jude heißt. Er fühlt sich jüdisch, doch nicht dadurch, dass er ständig auf Nichtjuden prallt. Es ist der einzige Ort auf der Welt, wo ein Jude leben kann, ohne dass er zu spüren bekommt, dass er Jude ist, ohne dass er es überhaupt zu wissen braucht: wie ein Baum in seinem Wald, wie ein Strauch auf dessen Boden, wie ein russischer Bauer im Pensa-Raum, wie ein Franzose am Doubs, wie ein Deutscher in seinem pommerschen Dorf. Hier kann der Jude die Welt sehen mit hebräischen Augen, ohne zu wissen, dass es auch andere Sichtweisen gibt. Hier ist es ihm, dem einheimischen Juden, möglich, nicht zu verstehen, was das Leben im Exil bedeutet, und sich somit über die ganze Welt zu freuen, und zwar ausschließlich aus der Perspektive eines rein hebräischen Auges.

 

Diese Worte, die ich hier ins Deutsche übersetzt habe, schrieb der jüdische Dichter Saul Tschernichowski anlässlich der zwanzigjährigen Eigenständigkeit der Stadt, die bis 1921 kommunalrechtlich noch dem arabisch dominierten Jaffa angegliedert war (übrigens ist Jaffa seit 1949 wiederum Tel-Aviv angegliedert). Hinter der Freude, die der Jude in Tel-Aviv sich damals doch noch leisten konnte, hallen also zwischen Tschernichowskis Zeilen wohl auch andere Töne des Jahres 1941.

Tschernichowski selbst wurde 1875 in einem ostjüdischen Dorf mitten im russischen Reich, an der noch nicht bestehenden Grenze zu dem, was später die Ukraine werden sollte. Um die Jahrhundertewende in Heidelberg und Lausanne Arzt geworden, kehrte er ins zaristische Russland zurück, wo er neben der medizinischen Tätigkeit auch weiterhin seiner Liebe zur Dichtung nachging. Insbesondere ließ er sich von der griechischen Antike beeinflussen, deren wichtigste Werke er ins Hebräische übersetzte. Nach einem relativ kurzem Aufenthalt in den USA siedelte er 1931 ins jüdische Palästina über, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1943 lebte und arbeitete. Dort wohnte er nicht nur in Tel-Aviv: Sein Hang zur griechischen Kultur brachte ihn ab und an als Untermieter in die Residenz des griechisch-orthodoxen Partriarchen in Jerusalem. Jedoch war Tel-Aviv sein Lebensmittelpunkt.

Man darf wohl davon ausgehen, dass die eigene Lebenserfahrung als Kind, Jungedlicher und Erwachsener im nichtjüdischen Ausland es ihm nicht ermöglichte, die hebräische Stadt an der Mittelmeerküste wirklich so naiv bzw. natürlich zu erleben, wie er es festhielt. Seine Worte scheinen sich daher auf andere zu beziehen, in die er seine Hoffnungen, seine Sehnsüchte hineinprojizierte; womöglich waren es die “rein hebräischen” Kinder, die im damaligen Tel-Aviv geboren worden waren und nie gezwungen wurden, das Leben im Exil zu kosten.

Ob seine Hoffnungen in Erfüllung gingen? Ich glaube schon. Wenn ich mir allerdings den selbstreflektierten Text zu meiner jüdischen Identität anschaue, wird mir auch ein Vorbehalt bewusst: Die Selbstverständlichkeit des jüdischen Lebens im jüdischen Lande kann sich bisweilen auch hinderlich auswirken, nämlich dahin gehend, dass diese Existenz doch nicht als natürlich empfunden wird. Nicht obwohl, sondern weil er einen ganz anderen, ja fast fremden Hintergrund hatte, konnte Tschernichowski diese naive Selbstverständlichkeit wahrnehmen und wusste sie hochzuschätzen. Mit den hebräischen Kindern wie mir steht es hingegen dialektisch anders, und zwar gerade deswegen, weil man oft leben kann, “ohne dass man überhaupt zu wissen braucht”, dass man Jude ist.

Das schöne Zitat von Tschernichowski habe ich auf der Website des Zentrums für jüdisch-zionistisches, humanistisch-liberales Denken gefunden, das von Ruth Gavison gegründet worden ist und sich u. a. mit eben dieser Herausforderung befasst: Die Selbstverständlichkeit bewusst zu machen und dennoch zu bewahren, d.h.: das jüdische Gemeinwesen im jüdischen Land zu untermauern – in seiner Einzigartigkeit und Natürlichkeit zugleich. Diese wichtige Einrichtung hat jedoch nicht in Tel-Aviv, sondern in Jerusalem ihren Sitz. Bei allem Respekt vor der seligen Naivität, die Tschernichowski am frisch entworfenen Tel-Aviv erkennt, kommt der Jude offensichtlich nicht um seine alte, ja uralte Hauptstadt herum, mit der seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, d.h. schließlich seine Selbsterkenntnis verwoben ist.

 

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

1 Kommentar

  1. Pingback:Jerusalem und Wien, Berlin und Tel Aviv › un/zugehörig › SciLogs - Wissenschaftsblogs

Schreibe einen Kommentar