Breslauer Notizen

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Im kürzlich verabschiedeten Spätsommer hat es mich zu einem Historikertreffen nach Breslau verschlagen. Oder vielleicht nach Wroclaw? Es war meine vierte Reise nach Polen, in dies sowohl menschlich als auch topographisch faszinierendes Land. Dort, im Graben zwischen Breslau und Wroclaw, 1939 und 2009 sind die nachstehenden Notizen entstanden, die nun hier, in der Terra Cisoderana, abgeschrieben und etwas umformuliert werden, damit sie anderen Menschen hoffentlich ebenfalls nachvollziehbar sind…

Eine kleine Vorbemerkung: Aus mir unverständlichen Gründen ist es hier unmöglich, das polnische Strich-L wiederzugeben (das System macht daraus immer ein großgeschriebenes B). Daher habe ich es im Namen “Wroclaw” durchgehend (und einmal auch im Namen “Boleslaw”) durch ein normales L umschreiben müssen; desgleichen im Namen Cech, wo das tschechiche Umlaut-C durch “Tsch” ersetzt ist.

 

I. Verstreute Fragmente

Ein freier Nachmittag. Zeit ist es, ins Museum zu gehen. Draußen: ein alter Bau. Drinnen: moderne Kunst. Ich, ein Israeli, Sohn eines Holocaustüberlebenden, beobachte moderne polnische Kunst in einem alten deutschen Bau. Mein Besuch in Breslau erscheint mir manchmal wie die Quintessenz der Dissonanz.

Wroclaw, das wird man wohl sagen dürfen, ist eine relativ unscheinbare Stadt. Ziemlich vergebens sucht man in den noch stehenden Bauten und auf den umbenannten Straßen nach dem ehemaligen Breslau. Das einstige Rabbinerseminar ist in sinnbildlicher Weise zum Parkplatz geworden, und in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde versucht uns eine Dame in ihrem durch einen deutlich polnischen Akzent auffallenden Englisch die Geschichte “ihrer” Gemeinde zu erklären. War die Verwandlung der Stadt ins polnische Wroclaw eine Bestrafung Breslaus für dessen Umgang mit seinen Juden?

 

II. Das Rad der Geschichte dreht sich

Boleslaw der Tapfere, mit dem herausgezogenen Schwert gen Westen (!) reitend: Ein topographisch auffallendes Monument des mittelalterlichen Herrschers, das erst vor wenigen Jahren am südlichen Rande der Altstadt, mithin mitten im Zentrum Wroclaws, errichtet worden ist. Auch wenn die deutschen Touristen, die sich hier zahlreich auf Spurensuche begeben, nichts mit diesem Standbild anzufangen wissen, gilt diese unverkennbare Aussage auch ihnen. Doch als Jude muss ich das akzeptieren, lebt das jüdische Volk doch nur dank des Schwertes in seinem wiederbefreiten Ländle. Ja, die polnische Rückkehr an die Oder erinnert notwendigerweise an die jüdische Rückkehr an den Jordan.

Doch hier herrscht Friede. Trotz Enteignung und Vertreibung darf Wroclaw gedeihen. Ein feiner Unterschied mit gewaltigen Konsequenzen: Während die Palästinenser sich nicht mit Transjordanien begnügen möchten, haben sich die Deutschen doch mit der erzwungenen Grenze abgefunden, diese teilweise sogar als gerechte Strafe rechtfertigt.

 

III. …aber nicht von alleine

Bei allem Respekt vor dem polnischen Narrativ: Es fehlt hier doch was, im “wieder gewonnenen” Niederschlesien bzw. im Vergleich mit dem jüdischen Fall. Nämlich die trotzige Selbstbefreiung. Es fehlt die jüdische Heroik, weil die Polen nicht dank eigener Kraft diese Gegend neu besiedeln durften bzw. mussten.

Aber immerhin: Hier fiel Polen kein zwischenzeitlich in Vergessenheit Geratenes zu, sondern eine Landschaft, die im kollektiven Gedächtnis des Polentums fortbestand und nach der man sich auch schon vor dem Krieg sehnte. Denn der polnische “Drang nach Westen”, an die Oder und darüber hinaus, war in der Zweiten Republik, dem infolge des Ersten Weltkrieges wiederauferstandenen Polen, ein bekanntes Motiv (s. hierzu den gut recherchierten Wikipedia-Artikel der polnischen “Westforschung”).

    

(Beide Abbildungen sind beclickbar, da sind auch Übersetzungen zu finden).

In der Zwischenkriegszeit aus verständlichen Gründen noch eine ziemliche Randerscheinung, konnte der Traum dank der Kriegswirren bzw. erst mithilfe der Sowjets in Erfüllung gehen. Polen erstreckt sich nunmehr wieder bis an die Oder, jedoch geschah dies nicht mit Polen als Vorreiter des slawischen Ostens, sondern als Opfer zunächst nationalsozialistischer und anschließend vornehmlich sowjetischer Expansionspolitik; Schlesien, Pommern etc. wurden zwar endlich “wieder gewonnen”, aber um welchen Preis?

 

IV. Einheimisch-Sein in der Fremde

Um mich herum leben polnische Siedler, die sich hier inzwischen zuhause fühlen. Wroclaw: Eine “gesquatete” Stadt. Es wirkt gekünstelt. Wichtige Institutionen wie auch ganze Bevölkerungen wurden etwa aus dem an die Sowjetunion verlorenen Galizien nach Schlesien übersiedelt. Es mutet ausgesprochen unheimlich, aber zugleich auch spannend an, dass kaum jemand wirklich von hier stammt, vom neuen Wroclaw.

Ist dieses Unbehagen ein Teil der Dissonanz oder ein mir längst bekanntes Phänomen? Tatsächlich gibt es hier im Vergleich mit Israel viele Ähnlichkeiten, aber auch klare Unterschiede. Auf der einen Seite muss ich in Wroclaw stets an uns denken, die Pieds-Noirs der Ostmittelmeerküste; meine Kindheit an der Haifaer Bucht war für mich wohl keineswegs weniger natürlich als das Leben der Wroclawer Kinder, die mir auf auf den Straßen entgegenlaufen und teilweise ebenfalls aus Galizien stammen. Und auf der anderen Seite muss man bedenken: Unter uns in Haifa leben ca. 10% (großteils christliche) Palästinenser, die das Stadtbild mitprägen. Das ist erheblich mehr als die gezählten Deutschen, die es in Schlesien noch gibt.

Wie fremd Wroclaw auch für die Polen selbst sein kann, wird bei den Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestages des Kriegsbeginns umso deutlicher. Denn im September 1939 wurde Breslau ja gar nicht angegriffen. Ganz im Gegenteil: Aus Schlesien – einer Hochburg der deutschen Ostsiedlung und einem mitteleuropäischen Keil, getrieben zwischen die slawischen Ostvölker von Tschech und Lech – wurde doch der Feldzug gegen die Zweite Republik (mit) geführt.

An diesen geschichtsträchtigen Tagen werden auf dem zentralen Marktplatz, dem Wroclawer Rynek, jeden Abend à la Freiluftkino Kriegsfilme gezeigt. Deutsche Flugzeuge im polnischen Himmel, runterfallende Bomben und dergleichen. Vor der großen Leinwand scharen sich Familien, junge Paare umarmen sich. Es ist ein gemeinschafliches Ereignis mit etwas surrealem Charakter. Doch gerade um diesen Ort, um diese Stadt, geht es dabei ganz und gar nicht: Das große, wirklich heroische Drama vom 1. über den 17. September bis zum 6. Oktober, dessen Polen jetzt äußerst identitätsstiftend gedenkt, spielte sich ja ganz woanders ab.

In Breslau hingegen herrschte damals noch Ruhe. Deutsche Ruhe. Noch.

 

V. Und nun: eine “europäische” Stadt?

Mit seiner böhmisch-deutschen-polnischen Geschichte will sich Wroclaw als der neue “Meeting Place” profilieren: Auf Internationalität wird gesetzt.

Dabei liegt die Stadt heute doch im Osten, wo Nationalstolz nach wie vor alles andere ist als ein fremdes Wort. Und Gott sei Dank für diesen Osten, ohne den Europa so unerträglich langweilig wäre: Amerika durfte den “Westen” erschließen, dafür hat Europa den Wilden Osten.

Der Osten war schon immer relativ wild. Im Laufe der Jahrhunderte immer weniger – und dennoch stets das schelmische Brüderchen, das dem immer weiter, immer tiefer gezähmten Kontinent hinterherlaufen muss. Der Osten aber, wie Europa selbst, war und ist kein rein geographischer, sondern ein ethnisch-kultureller Begriff. Der Osten kennzeichnet(e) sich dadurch, das er jenseits der deutschen “Mittelerde” lag und liegt. Der Osten: ein vornehmlich slawisch geprägter Siedlungsraum, der zum west- und südlateinischen Kulturkreis kaum unmittelbare Kontakte hatte und dem die Funktion der deutschen Völker als Kulturvermittler entsprang.

Weil der Osten sich von seiner Beschaffenheit her bestenfalls relativ erfassen lässt, ist er stets im Fluss begriffen. Was im historischen Vorgestern noch Teil des Ostens gewesen war, befand sich gestern im Zentrum, und liegt heute doch wieder im (neuen) Osten. Den Gezeiten der Geschichte vermag nicht einmal ein Riesengebirge zu entfliehen, geschweige denn eine von Sterblichen erschaffene Stadt. So auch das (ob tatsächlich oder vermeintlich) von Vratislav I. gegründete Vratislavia: zunächst eine slawische Stadt, die sich im Laufe der Zeit inmitten des mittleren “Arms” (Karl Dietrich Erdmann) der deutschen Ostsiedlung befand. Und heute wieder slawisch geworden: Ebbe und Flut…

In diesem Wroclaw zu sein, bedeutet auch, auf den Ruinen der Ostsiedlung zu stehen und deren weitgehenden Untergang mit allen Sinnen zu spüren bekommen. Und vielleicht ist die Stadt gerade deswegen “europäisch”? Die deutsche Ostsiedlung: kein einstaatliches, dafür aber ein wahrhaft deutsches Projekt; das große, jahrhundertelange Projekt der Erweiterung Europas: ins Baltikum, in die Karpaten, an die Wolga und noch ferner. Ein Projekt, das im Zusammenspiel von Völkervertreibung und EU-Erweiterung seinen Höhepunkt und Abschluss zugleich erreicht hat. Breslau, also Wroclaw, ist jetzt in der EU; auch das Baltikum wurde integriert, desgleichen Siebenbürgern; irgendwann auch das, was aus dem historischen Bessarabien, dem Herkunftsland der Familie Köhler, noch werden muss; und danach? Wer weiß: Das Konzept “Europa” geht so weit wie die deutsche Ostsiedlung.

Nun liegt Wroclaw also ganz offiziell in “Europa”; eine nachträgliche Genugtuung an Breslau. Europa: kein (rein) mythologischer Begriff mehr, auch kein geographischer Raum, sondern in dessen heutigem Sinn erst im Mittelalter allmählich entstanden. Angefangen mit dem Frankenreich, entwickelte es sich auf drei Hauptschienen: Im Westen, Süden und dem Südwesten der lateinische Kulturkreis; im Herzen Europas der zunächst noch germanisch geprägte, später deutsche Kulturkreis; und im Osten der vornehmlich slawische, aber auch magyarisch und ostlateinisch geprägte Raum, der – ziemlich im Gegensatz zu den beiden anderen Schienen – lange noch weitestgehenden Veränderungen unterworfen war.

Und Hand in Hand mit der Geschichte verschoben sich diese durchlässigen Räume: Mal liegt Vratislavia im slawischen Osten, mal wird es als Breslau Teil des deutschen Mitteleuropa, dann aber kehrt es als Wroclaw wiederum in den slawischen Raum zurück. Der Kreis hat sich geschlossen.

Ja, es ist eine wahrhaft europäische Stadt, ein Meeting Place der historischen Gezeiten.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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