Biblische Fremdenpolitik

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Einer Einladung der Theologischen Arbeitsgemeinschaft im christlich-jüdischen Dialog (TAD) zufolge bereite ich zurzeit ein Vormittagsprogramm zum Thema "Biblische Fremdenpolitik" vor, dessen Grundriss ihr im Nachstehenden findet. Aber Vorsicht: Es ist kein kurzer Text.
 
 
1. Einführung
 
Das jüdische Gedankengut weist zwei traditionelle Literaturen auf, die den jüdischen Fremdlingsbegriff wesentlich geprägt haben: die biblische und die rabbinische (andere Gattungen wie etwa die mystisch-kabbalistische knüpfen wiederum an das rabbinische Begriffsverständnis an).
 
Die rabbinische Literatur entstand zu Zeiten, in denen Israel nicht souverän und weitgehend auch nicht im eigenen Lande war. Es konnte den öffentlichen Rechtsraum nicht selbst gestalten und folglich auch keine eigene Fremdenpolitik betreiben. Aus dieser immanenten Schwäche heraus interpretiert die rabbinische Literatur den biblischen Fremdlingsbegriff "Ger", mit dem wir uns gleich befassen, um: von einem umfassenden, gesellschaftspolitischen Begriff in einen rein kultischen bzw. religiösen.
 
Dabei widerfährt dem Begriff eine ganz neue, der ursprünglichen sogar diametral entgegengesetzte Bedeutung: Der "Ger" wird im rabbinischen Sprachgebrauch zum Proselyten, also zu jemandem, der Israel beitreten will bzw. sich dem Volke schon angeschlossen hat und somit eigentlich nicht mehr als Fremdling im eigentlichen, biblischen Sinne anzusehen ist.
 
Dieser zwischenzeitlichen Problematik gegenüber zeugt die Denkweise der hebräischen Bibel weitgehend von einer Zeit im israelischen Volksleben, die unserer heutigen – ob im (wieder) souveränen Israel oder im (nach wie vor) souveränen Deutschland – quantitativ, d.h. chronologisch, zwar ferner, aber qualitativ durchaus näher ist.
 
Es liegt also aus mehreren Gründen nahe, in dieser Sache ad fontes zu gehen, d.h. in den Pentateuch hinein. Zwar enthält die hebräische Bibel auch anderwärts Bezugnahmen auf Fremde, wie etwa im wohlwollenden Buch Rut oder, diesmal ausgesprochen negativ bewertet, in Esra Kap. 9-10; jedoch weist nur der Pentateuch – so, wie es überliefert worden ist und uns nunmehr vorliegt – den normativen Charakter auf, auf dessen Basis man ein Gesamtkonzept herausarbeiten kann. Darum sollen wir uns auf den Pentateuch fokussieren und dieses nun direkt zu uns sprechen lassen: Wird interpretiert, so soll keine rabbinische Interpretation, sondern der biblische Text selbst ausgelegt werden und zwar, wenn möglich, so, wie es gerade aus der heutigen Perspektive für uns Sinn ergibt.
 
 
2. Was heißt "Fremdling"?
 
Zum ersten Mal (in der hebräischen Bibel) kommt das Substantiv "Ger" (גר) bei der Bundesschließung Gottes mit Abraham in Gen. 15:13 vor:
 

"Da sprach Gott zu Abram: Das sollst du wissen, dass deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem Lande, das nicht das ihre ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre."

 
Die Israeliten gelten also aus biblischer Perspektive deswegen als Fremdlinge, weil jenes Land (in diesem Fall: Ägypten), in dem sie sehr lange wohnen sollen oder gewohnt haben, nicht das ihre war. Fremdlinge waren folglich auch noch diejenigen, die schon in Ägypten geboren waren. Denn: Das Land war nicht das ihre.
 
Der "Ger" wird hier mithin als ein qualitativer Begriff konstruiert, der sehr eng mit der Volkszugehörigkeit zusammenhängt. Das Fremdlingsein ist also keine umstandsbedingte, sondern eine identitätsbezogene Sache.
 
Ganz in diesem Sinne wird von Abraham erzählt, dass er sich nach dem Tode Saras vor den Kindern Heths selber als Fremdling bezeichnete (Gen. 23:4):
 

"Ich bin ein Fremdling und Beisasse bei euch; gebt mir ein Erbbegräbnis bei euch, dass ich meine Tote hinaustrage und begrabe."

 
Zu diesem Zeitpunkt in der biblischen Handlung weiß er zwar schon, dass das Land seiner Nachkommenschaft verheißen ist; aber noch ist das nicht geschehen, noch ist das Land nicht das seine. Darum gilt er noch als Fremdling. Abraham weist sich also als Fremdling aus und nimmt die Position des Fremdlings ein, um sich mit den Kindern Heths zu verständigen, in deren Gemeinschaft er lebt.
 
 
3. Der Fremdling als Zwischenstufe
 
Unbeachtet bleibt in diesem Zusammenhang der Ausländer (נכרי bzw. בן־נכר), für den – etwa im Hinblick auf das Zinsrecht oder auf das sog. Sklavenrecht – andere Regelungen gelten. Dass der Fremdling und der Ausländer keine Synonyme bilden, lässt sich etwa an Deut. 14:21 erkennen:
 

"Ihr sollt kein Aas essen; dem Fremdling in deiner Stadt magst du es geben, dass er es esse oder dass er es verkaufe einem Ausländer; denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. […]"

 
Bei seiner vorläufigen Begegnung mit dem einheimisch gewordenen Israel befindet sich zwar auch der durchreisende Ausländer in einem Land, das aus israelischer Sicht "nicht das seine ist". Jedoch entsteht bei dem Ausländer erst gar nicht die Problematik des persönlichen Bezugs zum Lande. Beim "Ausländer" herrscht nämlich Klarheit darüber, dass er nichts mit dem Land zu tun hat. Denn auch im Hebräischen wird die Bezeichnung "Ausländer" vom Substantiv "Ausland" (נכר) abgeleitet.

Demgegenüber wird die Bezeichnung "Fremdling" (Ger) vom Verb "wohnen" – hebr.: "lagur" – abgeleitet. Als Verb findet sich das Fremdsein im biblischen Text noch vor der oben erwähnten Bundesschließung Gottes mit Abraham (s. Gen. 15); es wird von den Sodomern verwendet, die mit Lot streiten:

Gen. 19:9: "Aber sie sagten: Zurück da! Und sie sagten: Da ist einer allein gekommen, hier zu wohnen [und somit Fremdling zu sein], und will sich schon als Richter aufspielen! Nun, wir wollen dir Schlimmeres antun als jenen. Und sie drangen hart ein auf den Mann, auf Lot, und machten sich daran, die Tür aufzubrechen."

 
An einem Ort zu wohnen und dort Fremdling zu sein: Im biblischen Sprachgebrauch ist das eine vom anderen untrennbar. Der Fremdling unterscheidet sich vom sonstigen Ausländer eben dadurch aus, dass er sich nicht (kurzfristig) aufhält, sondern im Land wohnt, sich dort wohnhaft bzw. ansässig gemacht hat. Der Fremdling ist, wörtlich, der "Wohnhafte", mithin eine Art Beisasse (vgl. Abrahams oben zitierte Worte in Gen. 23:4).
 
Gott, Abraham und die Sodomer verwenden denselben Begriff, d.h. denselben Wortstamm, in demselben Sinn. Weil dieser biblische Begriff, wie bei der Nachkommenschaft Abrahams auch, nicht vom einen oder anderen Umstand, sondern von der Identität bzw. Volkszugehörigkeit der Person abhängig ist, bleibt der Beisasse trotz seiner Wohnhaftigkeit im Lande ein Fremdling. Das Fremdlingsein wohnt also dem biblischen Wohnen inne.
 
Natürlich ist auch Israel in diesem Land wohnhaft, jedoch werden die besonderen Pflichten und Rechte Israels gar nicht davon abgeleitet, dass es im Lande wohnhaft geworden ist (das waren davor ja auch die sieben Nationen), sondern von seiner kollektiven Identität als Israel. Bei der Charakterisierung gerade als wohnhaft wird also auch gleich zum Ausdruck gebracht, was der auf diese Weise Charakterisierte eben nicht ist, nämlich Teil Israels.
 
Durch seine Eigenschaft als wohnhaft wird der Beisasse mithin nicht vom sonstigen Ausländer, sondern gerade von Israel abgegrenzt – und gilt daher als Fremdling.
 
 
4. Wann nimmt der Pentateuch Bezug auf den Fremdling?
 
Der Fremdling kommt nicht nur, aber vor allem im Zusammenhang mit den sozialen Geboten vor, wie z. B. in:
 

Ex. 22:20: "Den Fremdling sollst du weder bedrängen noch bedrücken; denn ihr seid in Ägyptenland Fremdlinge gewesen."
 
Ex. 23:9: "Den Fremdling sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um des Fremdlings Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid."
 
Ex. 23:12: "Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber am siebenten Tage sollst du ruhen, auf dass dein Rind und dein Esel ruhen und deiner Magd Sohn und der Fremdling sich erquicken."
 
Lev. 19:10: "Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen; ich bin der HERR, euer Gott."
 
Lev. 19:33: "Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken."
 
Lev. 23:22: "Wenn ihr aber euer Land aberntet, sollt ihr nicht alles bis an die Ecken des Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten, sondern sollt es dem Armen und dem Fremdling lassen. Ich bin der HERR, euer Gott."
 
Num. 35:15: "Für die Kinder Israels sowie für den Fremdling und den Beisassen in ihrer Mitte sollen diese sechs Städte als Zuflucht dienen, damit dorthin jeder fliehen kann, der einen Menschen aus Versehen erschlagen hat."
 
Deut. 5:14: "Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du."
 
Deut. 14:29: "Alle drei Jahre sollst du aussondern den ganzen Zehnten vom Ertrag dieses Jahres und sollst ihn hinterlegen in deiner Stadt. Dann soll kommen der Levit, der weder Anteil noch Erbe mit dir hat, und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben, und sollen essen und sich sättigen, auf dass dich der HERR, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hand, die du tust."
 
Deut. 24:14: "Dem Tagelöhner, der bedürftig und arm ist, sollst du seinen Lohn nicht vorenthalten, sei er von deinen Brüdern oder ein Fremdling in deinem Land und in deiner Stadt."
 
Deut. 24:19: "Wenn du auf deinem Acker geerntet und eine Garbe vergessen hast auf dem Acker, so sollst du nicht umkehren, sie zu holen, sondern sie soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen, auf dass dich der HERR, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hände."
 
Deut. 24:20: "Wenn du deine Ölbäume geschüttelt hast, so sollst du nicht nachschütteln; es soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen."
 
Deut. 24:21: "Wenn du deinen Weinberg abgelesen hast, so sollst du nicht nachlesen; es soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen."
 
Deut. 26:12: "Wenn du den Zehnten deines ganzen Ertrages zusammengebracht hast im dritten Jahr, das ist das Zehnten-Jahr, so sollst du ihn dem Leviten, dem Fremdling, der Waise und der Witwe geben, dass sie in deiner Stadt essen und satt werden."

 
Dem Pentateuch als überliefertem Gesamtwerk geht es beim Fremdling also vor allem darum, was ihm gewährt wird bzw. worauf er Anspruch hat. Dem Fremdling gegenüber ist der Pentateuch mithin grundsätzlich wohlwollend eingestellt. Der gedankliche Zug, mit dem wir uns hier befassen, ist ein positiver.
 
 
5. Der Fremdling als Einzelperson
 
Was bei diesem Gedankengang sofort auffällt, ist der besondere Sprachgebrauch, mittels dessen der Fremdling, der kein Grundstück besitzen soll (weil ihm als Nichtisraeliten von vornherein keines zugeteilt wurde und weil Land höchstens verpachtet werden darf), in wesentlichen Punkten mit den israelischen Volksangehörigen wie der Waise und der Witwe, dem ebenfalls grundbesitzlosen Leviten und dem Armen sowie ganz allgemein mit den eigenen Volksbrüdern gleichberechtigt und diesen oft sogar vorangestellt wird (eine deutliche Ausnahme hiervon bildet vor allem die Sabbatregelung, die der Fremdling dem Vieh und dem Pachtpersonal nachstellt).
 
Die Volkseigenen, mit denen der Fremdling gleichberechtigt wird, sind vor allem die Schwachen. Das entspricht dem besonders im hebräischen Original deutlichen Sprachgebrauch der Bibel, die vom Fremdling stets in der Einzahl spricht. So etwa auch in Deut. 29:9 f.:

Ihr steht heute alle vor dem HERRN, eurem Gott: die Häupter eurer Stämme, eure Ältesten, eure Amtleute, jeder Mann in Israel, eure Kinder, eure Frauen sowie dein Fremdling, der in deinem Lager ist, dein Holzhauer und Wasserschöpfer.

Diese Wortwahl rührt notabene nicht daher, dass der biblische Sprachgebrauch keine Mehrzahlform des Begriffs "Fremdling" kennte, im Gegenteil; ein Beispiel hierfür bilden jene Anweisungen, die den Fremdling bewusst in der Einzahl beschreiben, während unmittelbar auf sie Begründungen folgen, die auf Israels Zustand in Ägypten hinweisen – und dies gerade in der Mehrzahlform tun:

Ex. 22:20: "Den Fremdling sollst du weder bedrängen noch bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen."

Ex. 23:9: "Den Fremdling sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um des Fremdlings Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid."

Lev. 19:34: "Wie ein Einheimischer unter euch soll der Fremdling bei euch wohnen, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott."

Deut. 10:19: "Darum sollt ihr auch den Fremdling lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland."

(Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Luther an solchen Stellen oft vom biblischen Sprachgebrauch abweicht und die Einzahl gezielt durch die Mehrzahl ersetzt.)

Durch den bewussten Gebrauch der Einzahl erfährt der biblische Fremdlingsbegriff eine Pauschalisierung bzw. Vereinheitlichung. Damit schließt die Bibel Unterteilungen bzw. das Entstehen eigenständiger Fremdlingsgruppen aus. Der Fremdling ist stets nur ein Fremdling und nichts Weiteres. Wie die Waisen und die Witwen, die ja ebenfalls keine Nation an sich darstellen, können sich also auch Fremdlinge zu keinem Kollektiv zusammenschließen, sondern immer nur als Einzelpersonen auftreten. Nicht nur seiner Grundbesitzlosigkeit in einem landwirtschaftlichen Zeitalter, sondern auch seinem vorgeschriebenen bzw. vorausgesetzten Einzeldasein entspringt die Schwäche des Fremdlings sowie die Grundlage für den Schutz, der ihm als Fremdling gewährt wird.
 
Aus dieser Stellung des Fremdlings bzw. des Gers als Einzelperson ergibt sich der grundsätzliche Unterschied zu anderen Formen des Fremdseins, welche vom Pentateuch längst nicht so freundlich behandelt werden wie der Ger. Man denke in diesem Zusammenhang vor allem an die sieben Nationen, die als eigenständige Nationen zu Israel in mehrfacher Konkurrenz stehen und es aus dem Lande zu tilgen gilt (Deut. 7:1-2), oder an die männlichen Ammoniter und Moabiter, deren Frieden und Wohl Israel nicht suchen darf (Deut. 23:4-7). Da es sich hierbei um alles andere handelt als Einzelpersonen, die es ins Verheißene Land nur verschlagen hat, kommen sie nicht in Genuss der biblischen Schutzmaßnahmen für den Fremdling.
 
Wenn wir hier also über die Stellung des Fremdlings diskutieren, befassen wir uns stets mit Menschen, die nur dadurch charakterisiert werden, dass sie als Einzelne – also ggf. als Kernfamilien, aber nicht als Stamm oder als Volk – im Lande Israels wohnen.
 
 
6. Der Fremdling und die einheimische Kultur
 
Neben den sozialen Privilegien, die ihm gewährt werden müssen, wird vom Fremdling auch eine Anpassung bestimmter Verhaltensmuster erwartet, und zwar in Bezug auf die Verbote:
 

Lev. 16:29: "Auch soll euch dies eine ewige Ordnung sein: Am zehnten Tage des siebenten Monats sollt ihr fasten und keine Arbeit tun, weder ein Einheimischer noch ein Fremdling unter euch."
 
Lev. 17:8-16: "Darum sollst du zu ihnen sagen: Wer aus dem Hause Israel oder von den Fremdlingen, die unter euch sind, ein Brandopfer oder Schlachtopfer darbringt und es nicht vor die Tür der Stiftshütte bringt, um es dem HERRN zu opfern, der wird ausgerottet werden aus seinem Volk. Und einer vom Haus Israel oder ein Fremdling unter ihnen, der irgendwelches Blut isst, gegen den will ich mein Antlitz kehren und will ihn aus seinem Volk ausrotten. Denn des Leibes Leben ist im Blut und ich habe es euch für den Altar gegeben, dass ihr damit entsühnt werdet. Denn das Blut ist die Entsühnung, weil das Leben in ihm ist. Darum habe ich den Israeliten gesagt: Keiner unter euch soll Blut essen, auch kein Fremdling, der unter euch wohnt. Und einer vom Haus Israel oder ein Fremdling unter euch, der auf der Jagd ein Tier oder einen Vogel fängt, die man essen darf, soll ihr Blut ausfließen lassen und mit Erde zuscharren. Denn des Leibes Leben ist in seinem Blut und ich habe den Israeliten gesagt: Ihr sollt keines Leibes Blut essen; denn des Leibes Leben ist in seinem Blut. Wer es isst, der wird ausgerottet werden. Und wer ein gefallenes oder zerrissenes Tier isst, er sei ein Einheimischer oder ein Fremdling, der soll sein Kleid waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend; dann ist er rein. Wenn er seine Kleider nicht wäscht und sich nicht abwäscht, so muss er seine Schuld tragen."
 
Lev. 18:26 (nach einer Reihe geschlechtsbezogener Verbote): "Darum haltet meine Satzungen und Rechte und tut keine dieser Gräuel, weder der Einheimische noch der Fremdling unter euch."

 
An dieser Stelle muss betont werden: Es wird nirgends gesagt, dass der Fremdling zum israelitischen Kult verpflichtet wäre. Weder ist er zur Teilnahme daran verpflichtet, was Israel durchzuführen hat, noch muss er alles unterlassen, was Israel verboten ist (er ist z. B. nicht an die israelischen Speiseregeln gebunden und so darf ihm, wie wir gesehen haben, das Aas zum eigenen Verzehr gegeben werden). Ferner wird nicht gesagt, dass der Fremdling als Israelit gilt. Im Gegenteil: Die begriffliche Differenzierung zwischen Israel und dem Fremdling ist im biblischen Sprachgebrauch deutlich erkennbar. So wird Israel z. B. vor einer etwaigen Abkehr von seiner Gottheit gewarnt, indem es mit folgender Strafe bedroht wird:

Deut. 28:43: "Der Fremdling, der bei dir ist, wird immer höher über dich emporsteigen; du aber wirst immer tiefer heruntersinken."

 
Obwohl der Fremdling zu keiner Assimilation gezwungen wird, muss er sich immerhin an manchen Verboten halten, solange er bei Israel wohnt. Dass die Bibel nur sehr bestimmte Verbote auch auf den Fremdling anwendet, mag vielleicht daran liegen, dass die Nichteinhaltung gerade dieser Verbote durch Beisassen mitten in der israelischen Gemeinschaft als unzumutbar empfunden wurde (man denke an den 10. Tag des 7. Monats, damals und heute). Möglicherweise neigten Fremdlinge – aus der Sicht des damaligen Israel – zur Ausübung gerade dieser in der damaligen Kultur Israels verbotenen Handlungen; mit anderen Worten: Diese Handlungen wurden vielleicht mit Bräuchen von Fremdlingen verknüpft (das scheint besonders bei den Sexualverboten nahe zu liegen).
 
Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Bibel hier – wie in anderen Sachverhalten auch (vgl. die Rote-Kuh-Regelung in Num. 19:2) – gerade nicht überzeugen will, sondern ihre Autorität durch Willkür bekundet. In diesem Fall ist die Tatsache, dass die Bibel vom Fremdling nur dieses und jenes verlangt, auf keinen umfassenden Grund zurückzuführen, sondern als ein Mittel zum Zweck zu verstehen. Der Zweck besteht dann darin, gerade gegenüber dem Fremdling, der ja weder zum Pentateuch verpflichtet ist noch sich verpflichtet fühlt, das Autoritätsverhältnis zu befestigen.
 
Unterm Strich geht aus diesem Sachverhalt folgende Grundaussage hervor: Obwohl der Fremdling keineswegs zur Assimilation und somit zum Israelischwerden gezwungen ist, muss er, solange er bei Israel wohnt, bestimmte Verhaltensregeln akzeptieren. Denn mit seinem "Bleiberecht" bei Israel geht notwendigerweise einher, dass er in bestimmten, nach biblischem Ermessen ausgewählten Punkten der einheimischen Kultur der Israeliten den Vorzug einräumt. Ob diese Forderungen auch ihrem Objekt, d.h. dem Fremdling, einleuchten, stellt für den biblischen Gesetzgeber offenbar kein Kriterium dar.
 
Dass diese teilweise Anpassung allein dem Fremdling auferlegt wird, weist darauf hin, dass hier keine Gegenseitigkeit besteht. Bei aller Freundlichkeit gegenüber dem Fremdling gebietet der Pentateuch nirgendwo, dass Israel dem Fremdling und dessen Kultur ebenfalls Verständnis entgegenbringen würde. Im Gegenteil: Das allgemeine Götzendienstverbot (vgl. Deut. 12:2-3) im Lande Israels gilt für alle, die sich im Lande befinden, und somit selbstverständlich auch für den Fremdling (zumindest in der Öffentlichkeit, wie Magret Wolf-Shambadal schreibt, die 1991 hier, in der TAD, zum Thema "Der Fremde in Bibel und Talmud" referierte).
 
Die Freundlichkeit der Bibel gegenüber dem Fremdling ist mithin kein Blankoscheck. Im heutigen Sprachgebrauch würde man sagen: Die Bibel ist alles andere als Multikulti. Vielmehr zielt die Bibel auf ein ausgewogenes Verhältnis ab: Einerseits wird dem Fremdling nichts aufgezwungen, andererseits darf er nicht alles, was in seiner Heimat gang und gäbe ist.
 
 
7. Der Fremdling und der israelische Kult
 
Der Fremdling kommt nicht besonders oft im Zusammenhang mit Vorschriften vor, die sich auf den israelischen Jahwekult beziehen. Was das komplexe Gefüge der Opfergaben angeht, so wird dem Fremdling die Möglichkeit gewährt, freiwillige Gaben zu leisten. Man denke an die oben (im Zusammenhang mit den Verboten) erwähnten Brand- und Schlachtopfer. Auch Feueropfer darf der Fremdling darbringen:
 

Num. 15:1-16: "Der HERR redete mit Mose und sprach: Rede mit den Israeliten und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land eurer Siedlungen kommt, das ich euch geben werde, und ihr dem HERRN Feueropfer darbringen wollt von Rindern oder von Schafen, es sei ein Brandopfer oder ein Schlachtopfer oder um ein besonderes Gelübde zu erfüllen oder als freiwillige Gabe oder bei euren Festen, um dem HERRN einen lieblichen Geruch zu bereiten, dann soll, wer nun seine Gabe dem HERRN opfern will, als Speisopfer ein Zehntel feinstes Mehl dazutun, vermengt mit einer viertel Kanne Öl, und als Trankopfer auch eine viertel Kanne Wein zu dem Brandopfer oder zu dem Schlachtopfer, zu jedem Schaf, das geopfert wird. Wenn aber ein Widder geopfert wird, sollst du als Speisopfer darbringen zwei Zehntel feinstes Mehl, mit einer drittel Kanne Öl vermengt, und als Trankopfer auch eine drittel Kanne Wein. Das sollst du dem HERRN zum lieblichen Geruch opfern. Willst du aber ein Rind zum Brandopfer oder zum besonderen Gelübdeopfer oder zum Dankopfer dem HERRN darbringen, so sollst du zu dem Rind als Speisopfer hinzutun drei Zehntel feinstes Mehl, mit einer halben Kanne Öl vermengt, und als Trankopfer auch eine halbe Kanne Wein. Das ist ein Feueropfer für den HERRN zum lieblichen Geruch. So sollst du tun mit einem Stier, mit einem Widder, mit einem Schaf oder mit einer Ziege. Wie die Zahl dieser Opfer, so soll auch die Zahl der Speisopfer und Trankopfer sein. Wer ein Einheimischer ist, der soll es so halten, wenn er dem HERRN opfern will ein Feueropfer zum lieblichen Geruch. Und wenn ein Fremdling bei euch wohnt oder unter euch bei euren Nachkommen lebt und will dem HERRN ein Feueropfer zum lieblichen Geruch darbringen, so soll er es halten wie ihr. In der Versammlung gelte nur eine Satzung, für euch wie auch für den Fremdling. Eine ewige Satzung soll das sein für eure Nachkommen, dass vor dem HERRN der Fremdling sei wie ihr. Einerlei Gesetz, einerlei Recht soll gelten für euch und für den Fremdling, der bei euch wohnt."

 
Der Fremdling wird also nicht zur Teilnahme am Kult verpflichtet. Im Gegenteil: Dass die Teilnahme ihm bei den allermeisten Vorschriften im Pentateuch nicht eingeräumt wird, deutet an, dass dies unerwünscht ist und ihm im Allgemeinen verboten bleibt. In diesem Fall aber bekommt der Fremdling die Erlaubnis, ein freiwilliges Feueropfer darzubringen. Er wird keineswegs dazu gezwungen; er darf, sofern er auch will.
 
Allerdings muss er es, wenn schon, dann doch genau so vollziehen wie es die Einheimischen tun. Obwohl die freiwillige Gabe nur am Rande des israelischen Kultes stattfindet und der Fremdling dies, wenn überhaupt, nur freiwillig macht, hat er keine freie Wahl, wie er Jahwe dient: Wenn er mit dem Jahwekult zu tun haben will, dann gelten für ihn dieselben Vorschriften und Anweisungen wie für Israel.
 
Somit wird anscheinend ausgeschlossen, dass selbst diese kleine Erlaubnis zur Ausübung von fremdem Kult, d.h. von Götzendienst, missbraucht würde und dass israelische Riten durch fremde beeinflusst würden.
 
Besonders interessant ist aber die Stellung des Fremdlings bei den Pilgerfesten:

Deut. 16:9-11 "Sieben Wochen sollst du zählen und damit anfangen, wenn man zuerst die Sichel an die Halme legt, und sollst das Wochenfest halten dem HERRN, deinem Gott, und eine freiwillige Gabe deiner Hand geben je nachdem, wie dich der HERR, dein Gott, gesegnet hat. Und sollst fröhlich sein vor dem HERRN, deinem Gott, du und dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd und der Levit, der in deiner Stadt lebt, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die in deiner Mitte sind, an der Stätte, die der HERR, dein Gott, erwählen wird, dass sein Name da wohne."

Deut. 16:13-14: "Das Laubhüttenfest sollst du halten sieben Tage, wenn du eingesammelt hast von deiner Tenne und von deiner Kelter, und du sollst fröhlich sein an deinem Fest, du und dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, der Levit, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben."

 

Es handelt sich also um folgende Sonderfeste: das volkstümliche Wochenfest, das zentrale Erntefest eines landwirtschaftlichen Volkes (obwohl hier die erste Ernte gefeiert wird); und das Laubhüttenfest, das Tempelfest schlechthin.
 
Deut. 16 zieht für diese Feste, die beide Pilgerfeste sind, ausnahmsweise auch den Fremdling in Betracht. Da der Fremdling keineswegs zur Assimilation gezwungen und hier sowieso nur vom Fröhlichsein gesprochen wird, ist diese eigentlich seltene Erweiterung wohl als Erlaubnis zu verstehen, als Fremdling an den allgemeinen Festlichkeiten teilzunehmen.
 
Was aber sofort auffällt, ist das Fehlen des ersten und wichtigsten Pilgerfestes unter den drei, nämlich des Passahs. Hierzu schweigt das Kapitel natürlich nicht. Im Gegenteil: Es wird erwartungsgemäß mit dem Passah eröffnet (vgl. v.1-8). Jedoch sieht das Kapitel gerade in Bezug auf das Passah anscheinend keinen Grund, den Fremdling zu berücksichtigen.
 
Der Grund hierfür mag im besonderen Charakter des Passahs als identitätsstiftenden Festes begründet sein, bei dem das israelitische Gründungsnarrativ bestätigt wird. Die herausragende Bedeutung des Passahs bei der Identitätsstiftung des israelischen Kollektivs kommt nicht zuletzt auch in der Strafe zum Ausdruck, mit der die Nichtteilnahme an diesem nationalen Ritual geahndet wird:
 

Num. 9:9-13: "Und der HERR redete mit Mose und sprach: Sage den Israeliten: Wenn jemand unter euch oder unter euren Nachkommen unrein geworden ist an einem Toten oder auf einer weiten Reise ist, so soll er dennoch dem HERRN Passa halten, aber erst im zweiten Monat am vierzehnten Tage gegen Abend, und soll es mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern essen. Und sie sollen nichts davon übrig lassen bis zum Morgen, auch keinen Knochen davon zerbrechen und sollen’s ganz nach der Ordnung des Passa halten. Wer aber rein ist und wer nicht auf einer Reise ist und unterlässt es, das Passa zu halten, dessen Seele/Leben soll ausgerottet werden aus ihrem/seinem Volk, weil er seine Gabe nicht zur festgesetzten Zeit dem HERRN gebracht hat. Er soll seine Sünde tragen."

 
Die Nichteilnahme am Narrativfest hat also die schlimmste Strafe zur Folge, die die Bibel kennt. Die Bedeutung dieser Strafe hat im Laufe der Geistesgeschichte sehr verschiedene Interpretationen und Vermutung erfahren. Im Grunde genommen scheint hiermit grundsätzlich der Ausschluss aus der israelischen Volksgemeinschaft gemeint zu sein. Wie dieser Ausschluss verwirklicht wird – ob etwa durch die Verweisung aus der Gemeinschaft, den eigenen Tod, das Ausbleiben von Nachkommenschaft oder (wie bei Maimonides) den Verlust der "Kommenden Welt", die Israel im Rabbinertum versprochen wird – das ist eine grundsätzlich andere Frage.
 
Der Ausschluss aus dem Volk wird bei zahlreichen Verboten verhängt (nach rabbinischer Zählung sind es 34), aber bei nur noch einem anderen Gebot, das wie das Passah die Zugehörigkeit zu Israel bestätigt:
 

Gen. 17:14: "Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird seine Seele/sein Leben ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat."

 
Interessanterweise sind das Passah und die Beschneidung durch einen weiteren Aspekt miteinander verknüpft:
 

Ex. 12:43-48: "Und der HERR sprach zu Mose und Aaron: Dies ist die Ordnung für das Passa: Kein Ausländer soll davon essen. Ist er ein gekaufter Sklave, so beschneide man ihn; dann darf er davon essen. Ist er aber ein Beisasse oder Tagelöhner, so darf er nicht davon essen. In einem Hause soll man es verzehren; ihr sollt nichts von seinem Fleisch hinaus vor das Haus tragen und sollt keinen Knochen an ihm zerbrechen. Die ganze Gemeinschaft Israels soll das tun. Wenn ein Fremdling bei dir wohnt und dem HERRN das Passa halten will, der beschneide alles, was männlich ist; alsdann trete er herzu, dass er es halte, und er sei wie ein Einheimischer des Landes. Aber ein Unbeschnittener darf nicht davon essen."

 
Die Beschneidung ist also eine Voraussetzung zur Teilnahme am Passah. Nichtbeschnittenen, also Fremden als solchen, ist es verboten, sich am identitätsstiftenden Ritual Israels zu beteiligen. Wer sich trotzdem danach sehnt, muss zuerst so werden wie Israel. Das heißt, er muss sich – hier ausdrücklich durch die Beschneidung – assimilieren, also in Israel aufgehen und nicht mehr das sein, was er bislang gewesen ist.
 
Lesen wir nun in Num. 9 weiter:
 

Num. 9:14: "Und wenn ein Fremdling bei euch wohnt und auch dem HERRN Passa halten will, so soll er’s halten nach der Satzung und der Ordnung des Passa. Einerlei Satzung soll bei euch sein für den Fremdling wie für den Einheimischen."

 
Dies lässt sich nun als Verweis auf die sonstigen Anordnungen zum Passah verstehen: Wenn ein Fremdling sich am Ritual beteiligen will, dann aber nur bei Erfüllung der Voraussetzungen. Es gelte einerlei Satzung: Obwohl der Fremdling keinesfalls zur Beschneidung verpflichtet ist, darf er nicht so am Ritual teilnehmen, wie er nun mal ist. Denn auch für ihn müssen dann die Regeln gelten, zu denen Israel verpflichtet ist. Wird er so wie die Israeliten, so darf er sich am israelitischen Nationalnarrativ, d.h. am Passah-Ritual beteiligen. Genauso heißt es auch in der Fortsetzung von Ex. 12:
 

Ex. 12:49: "Ein und dasselbe Gesetz gelte für den Einheimischen und den Fremdling, der unter euch wohnt."

 
Was den Einheimischen verboten ist, das darf auch der Fremdling nicht: Wie ein Israelit, der sich nicht beschneiden will und sich somit – man denke an die Strafe, den Ausschluss aus der Volksgemeinschaft – dem Volk entfremdet, genauso wenig darf der Fremdling unbeschnitten am Ritual teilnehmen.
 
Was also den israelischen Kult angeht, sucht die Bibel nach einem Mittelweg: Der Fremdling ist keineswegs zum israelischen Kult bzw. zur Assimilation verpflichtet (daher auch nicht zur Beschneidung); er darf freiwillige Opfergaben entrichten und, was den israelitischen Kalender angeht, sich an den allgemeinen Festlichkeiten beteiligen, die das Kultische begleiten (und nichts mit dem Tempeldienst zu tun haben); aber er bleibt dem identitätsstiftenden Narrativfest fern, solange er dem Israelischwerden seine bisherige Identität vorzieht.
 
 
8. Gleichheit vor dem Gesetz
 
Ein Beispiel für die Ausgewogenheit des biblischen Umgangs mit dem Fremdling ist die Rechtsstellung, die dem Fremdling – Jahrtausende vor der Französischen Revolution – von der hebräischen Bibel gewährt wird:
 

Lev. 24:10-23: "Es ging der Sohn einer israelischen Frau und eines ägyptischen Mannes mitten unter die Israeliten und zankte sich im Lager mit einem israelischen Mann und lästerte den Namen des HERRN und fluchte. Da brachten sie ihn zu Mose; seine Mutter hieß Schelomit, Tochter von Dibri, vom Stamm Dan. Sie legten ihn gefangen, bis ihnen klare Antwort würde durch den Mund des HERRN. Und der HERR redete mit Mose und sprach: Führe den Flucher hinaus vor das Lager und lass alle, die es gehört haben, ihre Hände auf sein Haupt legen und lass die ganze Gemeinde ihn steinigen und sage zu den Israeliten: Wer seinem Gott flucht, der soll seine Schuld tragen. Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, soll sterben. Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. Wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s ersetzen, Leben um Leben. Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun. Wer ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s erstatten; wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben. Es soll ein und dasselbe Recht unter euch sein für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der HERR, euer Gott. Mose sagte es den Israeliten und sie führten den Flucher hinaus vor das Lager und steinigten ihn. So taten die Israeliten, wie der HERR es Mose geboten hatte."

 
Was also das Strafrecht angeht – in den obigen Fällen und, wenn wir es verallgemeinern, wohl auch in ähnlichen Fällen – wird der Fremdling dem Einheimischen gleichgestellt. Auch in puncto Rechtsstreit sollen für ihn dieselben Regelungen gelten wie für den Einheimischen. Denn Gerechtigkeit im Rechtsverfahren ist ein Thema, das der Bibel am Herzen liegt (vgl. im normativ anspruchsvollen Pentateuch etwa Lev. 19:15 oder Deut. 16:19-20) und immer wieder thematisiert wird. Interessanterweise wird in diesem Rechtsverständnis nicht nur der Schwache in der Gemeinschaft wie der Fremdling oder der Arme (vgl. Ex. 23:6) in Schutz genommen; weil die Bibel auf Ausgewogenheit abzielt, wird im Gegenzug auch die Begünstigung von Schwachen verboten (vgl. Ex. 23:3).
 
Die biblische Stellung des Fremdlings im Rechtsstreit kann man z. B. mit dem Status gleichsetzen, den der Schreiber dieser Zeilen in der Bundesrepublik innehat: Ich habe grundsätzlich nicht dieselben Rechte wie ein Bürger der BRD, dafür aber auch nicht dieselben Pflichten (man denke etwa an den Wehr- bzw. Zivildienst). Sollte es aber zu einem Rechtsstreit kommen, so muss für mich als eine der streitenden Parteien doch dasselbe Gesetz, dasselbe Recht, dieselbe Satzung bzw. Verfassung gelten wie es bei Bürgern der Fall ist. Und dennoch bleibt die grundsätzliche Differenzierung zwischen Bürgern und Ausländern bestehen.
 
In diesem Sinne sind Verse zu verstehen wie:
 

Deut. 24:17: "Du sollst das Recht des Fremdlings und der Waise nicht beugen und sollst der Witwe nicht das Kleid zum Pfand nehmen."
 
Deut. 27:19: "Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings, der Waise und der Witwe beugt! Und alles Volk soll sagen: Amen."

 
Die biblische Gleichstellung des Fremdlings mit israelischen Volksangehörigen bedeutet also keine durchgehende Gleichsetzung, sondern die Nichtbeugung und Nichtverachtung jener Gesetze, die von vornherein für alle gelten sollen. Heute gilt die allgemeine Gleichheit vor dem Gesetz als selbstverständlich, aber dieses Prinzip hat sich hier erst seit der Französischen Revolution langsam durchgesetzt. Was für eine ungeheuere Neuerung war es also im altertümlichen Israel.
 
 
9. Die Liebe zum Fremdling nebst der Liebe zum Nächsten
 
Der ausgewogene Umgang mit dem Fremdling bildet wohl eine Lehre aus der eigenen Geschichte, denn er ist – zumindest aus biblischer Sicht – in der Erfahrung Israels als Fremdling in Ägypten begründet (vgl. etwa Ex. 22:20 u. 23:9, Lev. 19:34, Deut. 10:19 u. 24:17-22), die Abraham, wie oben geschildert, bei der Bundesschließung vorhergesagt wird. Diese Erfahrung, auf die etliche Anweisungen explizit zurückgeführt werden, färbte auch auf die israelitischen Gottesvorstellungen ab, sodass die Attribute der israelitischen Gottheit über die Liebe zum eigenen Volk hinaus ausdrücklich die Liebe zum Fremdling umfassen:
 

Deut. 10:17-18: "Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt, der Recht schafft der Waise und der Witwe und der den Fremdling liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt."

 
Dieses Attribut strahlt dann von den Gottesvorstellungen Israels auf dieses, d.h. auf einen selbst, zurück und zwar in Form des anschließenden Liebesgebotes:
 

Deut. 10:19: "Darum sollt ihr auch den Fremdling lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland."

 
Dieses Gebot kommt auch im zentralen Wochenabschnitt "Kedoschim" bzw. in Lev. 19 vor, wo es, wie Magret Wolf-Shambadal zu Recht schreibt, mit dem innerisraelischen Liebesgebot zu korrespondieren scheint:
 

Lev. 19:17-18: "Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks, sondern deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR."
 
Lev. 19:34: "Wie ein Einheimischer unter euch soll der Fremdling bei euch wohnen, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott."

 
Der Fremdling ist also zwar kein Einheimischer (und kann es auch nicht werden, solange er Nichtisraelit bleibt), aber gerade deswegen will die Bibel gewährleisten, dass er vom Geschick Israels in Ägypten verschont bleibt und dass sein Wohlbefinden den Einheimischen genauso viel wert ist wie ihr eigenes bzw. jenes ihrer Brüder, ihrer Nächsten.
 
 
10. Position beziehen: Das Bekenntnis zum Fremdsein
 
Wie kann der Fremdling das, was ihm die Bibel gewährt, tatsächlich wahrnehmen?
 
Angefangen mit Materiellem wie der Feldernte über die Gleichheit vor dem Gesetz bis hin zum Gebot der Liebe zum Fremdling als solchem: Wie kann er in Genuss der Vorteile dieser Position kommen und das, worauf man als Fremdling Anspruch hat, tatsächlich in Anspruch nehmen?
 
Wie mir scheint, liegt diesem Gefüge eine klare Logik zugrunde: Wir haben gesehen, dass die Bibel in den verschiedenen Aspekten der Beziehung zum Fremdling eine Ausgewogenheit anstrebt. Diese Ausgewogenheit gilt auch für die Beziehung als Ganzes. Denn die materiellen, rechtlichen und fürsorglichen Vorzüge werden nicht allen Menschen sozusagen blind geschenkt, also nicht allen Nichtisraeliten, sondern bewusst und explizit nur dem Fremdling. Damit wird vorausgesetzt, dass eine Person, die diese besondere Position beziehen will, sich auch tatsächlich zum Fremdsein bekennt, sich selbst mithin als Fremdling versteht, um somit die andere Seite der Medaille bzw. Beziehung zu bilden und in dieser Beziehungsform das notwendige Pendant zu Israel zustande zu bringen.

Nicht zufälligerweise sind es gerade die Charakteristika des biblischen Fremdlingsbegriffs, die nahe legen, dass der Fremdling – in einer für die damalige Zeit unübliche Weise – von Israel in Schutz genommen wird. Wie oben erklärt (Kap. 5), lebt nämlich der biblische Fremdling als Einzelperson: gegebenenfalls mit der engen Familie um sich herum, aber ohne die Gemeinschaft, die man als Fremdling woanders hat, nämlich in seiner Heimat. Es fehlt dem Fremdling die unmittelbare Bezugsgruppe, es fehlt ihm an Bodenständigkeit.
 
Denn als Fremdling im biblischen Sinne lebt man ja in einem Land, das per definitionem "nicht das seine" ist. Dies bedeutet nicht nur, dass man in einem Land lebt, dass einem anderen Volk gehört (und wie im Fall der Israeliten in Ägypten, selbst nach 400 Jahren); im biblischen Israel bedeutete es, dass man auch kein Grundstück besitzt (s. oben in Kap. 5). In einer weitestgehend landwirtschaftlich orientierten Gesellschaft ist man also in dieser Position auf die Unterstützung durch die Umgebung angewiesen.
 
Daher werden dem Fremdling etwa die vergessenen Ähren zur Verfügung gestellt, auf die ein Nichtisraelit eben nur in der Position des Fremdlings Anspruch erheben darf, d.h. als jemand, der in einem Land lebt, das nicht das seine ist. Dies bestätigt man wiederum, indem man die Ähren sammelt: Durch die Inanspruchnahme des dem Fremdling Gewährten bezieht man die besondere Position des Fremdlings. Wer sich hingegen – ob zu Recht oder zu Unrecht – trotz fehlender Zugehörigkeit zu Israel für einen Einheimischen hält, erniedrigt sich nicht, indem er sich unter solche Schutzbestimmungen stellen würde. Vielmehr versucht er, trotz allem ein eigenes Feld zu erwerben, d.h. Land zu besitzen.
 
Auf diese Art und Weise bringt die Bibel ein natürliches, unbürokratisches Gleichgewicht zustande: Man kann entweder die Resternte beanspruchen – oder das Land; entweder stellt man sich als Einheimischer dar – oder man darf in den Genuss von Sonderleistungen kommen, die an die Position des Fremdlings gebunden sind. Beides zugleich zu haben, ist mithin unmöglich bzw. in der Gesellschaft logischerweise weder durchsetz- noch vertretbar.
 
Mit diesem Gleichgewicht versichert die Bibel m. E., dass die israelitische Gesellschaft bei etwaiger Bedrohung immerhin wehrhaft bleibt. Wer also – etwa im Gegensatz zu Rut, die über das Fremdsein hinausgewachsen und in Israel aufgegangen ist – sich einerseits nicht assimiliert und kein Israelit ist, andererseits aber auch nicht die Stellung des Fremdlings bekleidet, sondern sich als Einheimischer versteht, stellt sich notwendigerweise in Konkurrenz zu Israel und wird von den Schutzmaßnahmen, die für die Stellung des Fremdlings vorgesehen sind, natürlich nicht berücksichtigt. Denn als Fremdling lebt eine Person aus biblischer Sicht, wie wir schon wissen, in einem Land, das "nicht das ihre" ist – aber nicht nur vom israelitischen Blickpunkt aus gesehen, sondern, wenn diese Person als Fremdling gelten will, zugleich auch ihrer eigenen Meinung nach.
 
Diesen Zusammenhang kann man z. B. im Fall der sieben Nationen (s. oben, ebenfalls in Kap. 5) erkennen, die nicht nur wegen des für verpönt gehaltenen Götzendienstes, sondern auch deswegen von den Schutzmaßnahmen des biblischen Fremdlingsbegriffs ausgeschlossen bleiben, weil sie als Völker sinngemäß keine Einzelpersonen sind, sondern Gemeinschaften bilden, und sich selbst zudem nicht als fremd verstehen, sondern den jeweiligen Teil des Landes – ob zu Recht oder zu Unrecht – wohl doch für den ihren halten.

Die besondere Stellung, die die Bibel dem Fremdling gewährt, ist also nicht nur an die israelitische Wahrnehmung des Einzelnen als "Fremdling", sondern in gleichem Maße auch an das Bekenntnis des Einzelnen zu dessen Fremdsein gebunden. Solange er wahrhaft die Position des Fremdlings bezieht, hat er sinngemäß Anspruch darauf, für Israel als Fremdling zu gelten.

 
11. Fazit
 
Ohne den qualitativen Unterschied zwischen Israel und anderen Völkern aufzuheben, nimmt die Bibel den Fremdling in Schutz und gewährt ihm Sonderrechte, über die ein Nichtisraelit normalerweise nicht verfügt. Diese Rechte sorgen dafür, dass der Fremdling zwar nicht in jeder, aber gerade in manch bedeutender, vornehmlich rechtlicher Hinsicht mit Israel gleichgestellt und darüber hinaus als eine etwaig schwache Einzelperson sozial privilegiert wird. Somit erhebt der Pentateuch den Fremdling zum Gast, dem gegenüber Israel sinngemäß zur Liebe bzw. Fürsorge verpflichtet ist. Im Gegenzug obliegen auch dem fremden Gast bestimmte Pflichten, an die seine erhobene Stellung gebunden ist, und zwar vor allem, dass er seinen Platz in der bestehenden Ordnung richtig erkennt. Damit wird das erstrebte Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten, Zugeständnissen und Voraussetzungen gewährleistet.

Zur damaligen Zeit, als Fremde oft Willkür ausgesetzt waren (man denke an die Versklavung Israels in Ägypten), galt die biblische Fremdenpolitik wohl als eine ungeheure Neuerung. Heutzutage, nachdem wir uns bereits an den Discourse of Rights gewöhnt haben, mag sie uns durch ihre ausgewogene Haltung geradezu herausfordern.

Doch der Weg, den uns der Pentateuch zeigt, ist, so möchte ich behaupten, die goldene Mitte zwischen den Extremen, d.h. zwischen Fremdenfeindlichkeit und Abgeschlossenheit einerseits, Wehrlosigkeit und Zersetzung andererseits: Das Miteinanderleben, die Existenz des Einheimischen als solchen mit dem Fremden als solchem und umgekehrt.

Denn die entgegenkommende Behandlung des Fremdlings durch Israel geht in diesem Kernstück der hebräischen Bibel so weit, dass es im Rückschluss auch dazu kommt, dass den Volksangehörigen in sozialen Notfällen gerade die Gleichstellung mit dem Fremdling versprochen wird:

Lev. 25:35: "Wenn dein Bruder neben dir verarmt und nicht mehr bestehen kann, so sollst du dich seiner annehmen wie eines Fremdlings und Beisassen, dass er neben dir leben könne."

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

4 Kommentare

  1. Wow, ein Text…

    …zum Ausdrucken. Habe ich gemacht und werde ich dann auch lesen.

    Ein Tip: Für den Rahmen Deiner aktuellen Beiträge (Gottesverständnisse, Übergänge, Fremde etc.) könnte das neue Buch von Robert Wright “The Evolution of God” sehr interessant sein! Bin gerade zur ersten Hälfte (Schwerpunkt Israel, Gottesbild, Kultverständnis) und habe öfter gedacht: Mensch, das würde jetzt Yoav interessieren…

    Herzliche Grüße!

    Michael

  2. Druckansicht

    “…zum Ausdrucken. Habe ich gemacht und werde ich dann auch lesen.”

    Na, dann wollte ich mich nicht lumpen lassen und habe dem Blog gleich mal eine Druckansicht spendiert.

Schreibe einen Kommentar