Übermäßige Emanzipation?

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Den allerersten Beitrag in meinem Chronologs-Blog widme ich einem etwas heiklen Thema, nämlich der Stellung der Juden im heutigen Deutschland.

Als Vorspiel zur und sogar nach der emanzipatorischen Einbürgerung der Juden wurde bekanntermaßen die Beschuldigung gegen die Juden erhoben, sie seien dem jeweils neuen (oder fast neuen) Vaterlande bzw. Nationalstaat nicht treu, weil sie ihrer jüdischen Identität den Vorzug einräumen würden. Dabei wurde jüdische Identität nicht nur im engen, rein religiösen Sinne begriffen, sondern auch im Hinblick auf den sich damals verbreitenden Nationalgedanken als konkurrierende Alternatividentität verstanden. Daher war – im Gegensatz zum katholischen Fall – der Verdacht gegen die Juden nicht nur auf die Geistlichkeit bzw. Rabbinertum beschränkt. "Die Juden" hätten damals nämlich nicht einfach antinational, sondern eben anders national gesinnt sein sollen.

Heutzutage lässt sich Ähnliches unter Bezugnahme auf Israel (nunmehr als Staat) beobachten, wenn auch mit etlichen klaren Unterschieden: Während Alfred Dreyfus in Frankreich der Jahrhundertwende vollkommen unbegründet beschuldigt und verfolgt wurde, haben hingegen die USA 1986 mit gutem Grunde – ihrerseits, notabene – Jonathan Pollard lebenslänglich bestraft; und während die Dreyfus-Affäre einen öffentlichen Diskurs auslöste, sind es heute gerade die israelischen Regierungen, die (meistens leider ungestört) von Pollard gerne absehen und seine Freilassung nicht herbeiführung wollen.

In der heutigen Bundesrepublik kommt es ebenfalls zu identitätsbedingten, wenn auch milderen Konflikten: Hierzulande ist bspw. die Jewish Agency tätig, deren Aufgabe eigentlich in der Förderung von Auswanderung nach Israel besteht, und parallel zu dieser ist seit kurzem auch die Geheimorganisation "Nativ" tätig, die aus den Umständen der Auswanderungsförderung in der damaligen UdSSR herausgewachsen ist und deren Tätigkeit nun auch Deutschland umfasst. In diesem Beitrag möchte ich jedoch die Problematik der deutsch-jüdischen Doppelidentität unter einem anderen Aspekt aufgreifen, nämlich dem des so genannten Staatsvertrages.

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2003 schloss der Zentralrat der Juden in Deutschland einen Staatsvertrag mit der damals rot-grünen Bundesregierung, im Rahmen dessen beide Seiten, d.h. die heutige BRD als Nationalstaat "der Deutschen" einerseits und der "Zentralrat der Juden in Deutschland" andererseits rechtlich gleich- und gegenübergestellt werden. Obwohl der Zentralrat der (aller?) Juden eine deutsche Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, bildet der Vertrag bemerkenswert keine wahrhaft innerdeutsche Gesetzgebung; er wurde erst im Nachhinein vom Bundestag ratifiziert, wie es gerade in internationalen Beziehungen üblich ist (daher die Bezeichnung "Staatsvertrag"). Das heißt: Die Mitglieder der jüdischen Gemeiden, die durch den Zentralrat vertreten sein sollen, haben, sofern sie auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ohne Rücksicht auf den von ihnen selbst mitgewählten Bundestag unmittelbar mit der Bundesregierung verhandelt, als ob sie zu gleicher Zeit irgendein ausländisches Wesen darstellen würden (wie es etwa 1952 im Luxemburger Abkommen der Staat Israel und die Jewish Claims Conference waren). Derartige Staatsverträge gibt es übrigens auch auf regionaler bzw. Länderebene.

Daraufhin stehen sie nun zu gleicher Zeit in zweierlei Verhältnis zur Bundesregierung: einerseits von innen als steuerzahlende Bundesbürger bzw. Deutsche, die auf Bundesebene durch den Bundestag vertreten sind, andererseits von außen als "Juden", die durch ihren unabhängigen Zentralrat vertreten sind. Insofern sind sie keiner anderen politischen oder sonstigen Gruppierung innerhalb Deutschlands – etwa von Behinderten, Frauen oder Bayern – gleichzusetzen: Diese schließen sich oft zwar auch zusammen, letztere haben sogar eine eigene Partei, jedoch können sie m. E. keinen Vertrag unmittelbar mit der Bundesregierung schließen, als wären sie dieser gleichgestellt; vielmehr müssen sie die innerdeutsche Gesetzgebung beeinflussen.

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Dieser Konflikt lässt sich gewissermaßen lösen, wenn man bedenkt, dass der Zentralrat zwar vorgibt, die "Juden in Deutschland" zu vertreten, in der Tat aber eine freilich mächtige Dachorganisation der jüdischen Gemeinden ist (und dabei auch nicht die einzige). Der Schreiber dieser Zeilen ist z. B. ein Jude in Deutschland (und sogar tatsächlich Bürger eines anderen Staates), hat aber keinen dazu ermächtigt, in seinem Namen irgendwelche Verträge zu schließen. Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, wie es zu einem Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat als religiöser bzw. kirchenrechtlicher Körperschaft des öffentlichen Rechts kommen konnte, haben doch auch die EKD und die Katholische Kirche in Deutschland ähnliche Staatsverträge mit Bund und Ländern abgeschlossen.

Doch gerade dieser Vergleich veranschaulicht den qualitativen Unterschied zwischen den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinden, denn Letztere – sowie der Zentralrat – werden ja nicht von Geistlichen bzw. Rabbinern, sondern von ganz "weltlichen" Politikern geführt. Ich kann mir zwar vorstellen, dass in vielen Gremien der EKD auch Laien tätig sind, die sich aus religiösen Gründen für ihre Gemeinden engagieren (die katholische Kirche dürfen in solchen Sachen wohl keine Laien vertreten). Doch selbst diesen religiösen Hintergrund – Motivation, Umfeld, Lebensstil und Praxis – ist in den jüdischen Gemeinden und dem Zentralrat höchstens recht selten vorhanden: Das Moment fürs Engagement in der deutsch-jüdischen Politik ist – abgesehen vom Willen zur Macht – nicht die religiöse, sondern gerade die nationale Zugehörigkeit, auch wenn diese Zugehörigkeit erst durch Übertritt "rechtskräftig" geworden ist, wie bspw. im Fall Stephan Kramers, des nicht vor langem übergetretenen Generalsekretärs des Zentralrates. Inwiefern dieses nationale Zugehörigkeitsgefühl nun wirklich besteht und nicht nur zu politischen Zwecken vorgegeben wird, ist ein anderes Thema.

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Dieses Selbstverständnis hängt wiederum mit ähnlichen Vorstellungen vom Judentum auf nichtjüdisch-deutscher Seite eng zusammen. Hier soll man bedenken, dass Schröders Bundesregierung nicht im Vakuum arbeitete, sondern aus einer Gesellschaft herauswuchs, deren Begrifflichkeiten und Denkmuster sich nicht zuletzt in diesem Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und dem "Zentralrat der Juden" widerspiegeln. Mehr dazu im nächsten Beitrag.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

4 Kommentare

  1. Willkommen im Club(der Blogger)

    Sehr interessanter Beitrag. Ich habe nur “unterwegs” ein wenig den Faden verloren, worum es eigentlich geht.
    Freuen würde ich mich, wenn diese so wichtige Thematik etwas weniger akademisch-intellektuell behandelt würde, sondern mehr vom persönlichen Erleben erfüllt würde.

  2. Faden

    Das ging mir leider auch so, daß ich etwas den Faden verloren habe. Den Beitrag muß ich mir nochmal in aller Ruhe durchlesen.

  3. Nachvollziehbarkeit

    Es geht um das bisweilen problematische Verhältnis der Juden in Deutschland zum hiesigen Staat, das ich in verschiedener Hinsicht anhand des Staatsvertrages zu beleuchten versuche. Zur Verbesserung der Nachvollziehbarkeit habe ich den Beitrag nun in “Unterkapitel” geteilt.

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