Der Wert von Biodiversität als Ausdruck unseres Unwissens

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Ein Gastbeitrag von Bartosz Bartkowski, Doktorand im Dept. Ökonomie des UFZ

“Biodiversität” ist ein Begriff, der eine unglaubliche Karriere gemacht hat. Gibt es ihn doch erst seit 1986; gleichwohl stolpert man im Bereich der Umweltforschung und -politik dauernd über ihn. Oft wird dabei vom “Wert der Biodiversität” gesprochen und geschrieben, wobei keine Einigkeit bezüglich der Frage herrscht, worin dieser eigentlich besteht. Dies ist der Ausgangspunkt meiner Doktorarbeit – auch wenn sie vor allem die Frage nach dem ökonomischen Wert von Biodiversität beantworten soll, musste ich mich durch einen sehr multidisziplinären Wust durcharbeiten und versuchen, ihn irgendwie zu systematisieren. Ergebnis: Der Wert von Biodiversität hat seine Hauptquelle in unserem Unwissen.

Der Begriff

Zunächst ein paar Worte zu dem Begriff selbst. Im Deutschen gibt es verschiedene Varianten: Biodiversität, biologische Diversität, biologische Vielfalt. Das Englische ist da mitunter gar noch reichhaltiger und beinhaltet zusätzlich die Variante ecological diversity. Des Weiteren wimmelt es nur so vor Unterkonzepten: Artenvielfalt, genetische Vielfalt, Ökosystemdiversität, molekulare Diversität, funktionale Diversität, phylogenetische Diversität … Die meisten dieser Begriffe und Konzepte sind recht neu. “Biologische Vielfalt” (biological diversity) tauchte wohl um 1980 zum ersten Mal auf, auch wenn die Grundidee zumindest bis Charles Darwin zurückverfolgt werden kann. Das Kürzel “Biodiversität” entstand 1986 für die Zwecke des „National Forum on BioDiversity“, einem explizit politisierten Treff von Naturschutzforschern und -aktivisten in Washington. Betrachtet aus der Perspektive der Zeit, war das Forum ein beispielloser Erfolg: Kaum ein anderer Begriff, außer vielleicht jener der Nachhaltigkeit, wurde in so kurzer Zeit derart populär. Vor 1980 nonexistent, wurde der Begriff 1992 in den Titel eines der wichtigen Ergebnisdokumente der Rio-Konferenz aufgenommen (die Convention on Biological Diversity, CBD). Seitdem gibt es alle paar Jahre einen Global Biodiversity Outlook. Als 2005 das Millennium Ecosystem Assessment veröffentlicht wurde, war der Begriff bereits fest im Fachdiskurs verankert und tauchte auch in diesem maßgeblichen Bericht an prominenter Stelle auf (bereits 10 Jahre vorher gab es ein wenig beachtetes, aber in seinem Wesen sehr ähnliches Global Biodiversity Assessment). In den letzten Jahren kamen noch der TEEB-Prozess (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) und das Biodiversitäts-Pendant zum IPCC, die IPBES hinzu (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services).

Wahrscheinlich gerade wegen seiner wachsenden Popularität wird der Begriff “Biodiversität” extrem unspezifisch verwendet. In Fachkreisen gibt es zwar auch keinen Konsens, was Biodiversität denn genau sei, der Begriff selbst legt aber schon einmal zwei Wesensmerkmale nahe: Zum einen geht es um Vielfalt, zum anderen um „Biologisches“. Doch was vielleicht einfach klingt, ist keineswegs so. Denn der Begriff wird je nach Kontext meistens entweder recht eng oder extrem weit gefasst.

Die enge Fassung ist vor allem in der sog. Biodiversitätsforschung verbreitet, die zum großen Teil der Ökologie zuzuordnen ist. Dort wird insbesondere der Einfluss der Biodiversität auf das Funktionieren von Ökosystemen (ecosystem functioning) untersucht. Da beide Seiten der Gleichung recht abstrakte und umfassende Konzepte sind, muss man sie auf etwas Einfacheres reduzieren. Bei Biodiversität ist es sehr oft die relativ einfach zu messende Artenvielfalt, die auch noch meistens nur auf bestimmte Artengruppen beschränkt wird (besonders Gefäßpflanzen, Vögel oder Schmetterlinge). In diesem Fall ist der Grund für die “Verzerrung” die Tatsache, dass Biodiversität als solche nicht messbar ist – zu komplex und multidimensional ist das Konzept. Auch wenn es um die Abschätzung des “Zustands” von Biodiversität geht, global oder regional, wird meistens auf verschiedene Indikatoren zurückgegriffen, wie z. B. Rote-Liste-Arten oder die Fläche von Schutzgebieten.

Im Bereich der Umweltpolitik, -ethik oder -ökonomik hingegen wird der Begriff geradezu inflationär verwendet, sehr oft de facto als ein Synonym von “Natur”. Dies ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen stellt sich natürlich die Frage: Wenn es bereits den Begriff “Natur” gibt, wozu brauchen wir einen zweiten, der genau das gleiche bedeutet – aber eben nur in bestimmten Kontexten, in der Ökologie hingegen nicht (s. o.)? Zum anderen ist die Gleichsetzung von “Biodiversität” und “Natur” irreführend, weil viele natürliche Ökosysteme keineswegs vielfältig sind (Wüsten aller Art, einschließlich der Eiswüsten der Antarktis, sind da besonders prägnante Beispiele). Und zuletzt: Bei Biodiversität geht es vordergründig um Vielfalt. Daher ist es problematisch, dass dieser Begriff mit vielen anderen vermengt wird, die mit Vielfalt an sich nichts zu tun haben: Natürlichkeit, Wildnis, Endemität, Seltenheit bzw. generell “Identität” der vielfältigen Bestandteile von Ökosystemen. Damit der Begriff “Biodiversität” ein Mindestmaß an analytischer Schärfe behält, sollte er darauf beschränkt werden, was er bezeichnet: eine Eigenschaft von Ökosystemen, die die Vielfalt innerhalb dieser Ökosysteme beschreibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Damit ist es auch unsinnig, zu behaupten, wie es im Kontext des Ökosystemdienstleistungskonzepts oft getan wird, Biodiversität sei die “Quelle” von Ökosystemdienstleistungen – damit wird das Ökosystem (die eigentliche Quelle) mit einer seiner Eigenschaften (biologische Vielfalt) verwechselt.

Es ist erstaunlich, wie selten “Biodiversität” in einer halbwegs konsistenten Art verwendet wird. Andererseits ist das nicht unüblich mit Wörtern, die zwar ihre Wurzeln in der Wissenschaft haben, doch im Grunde politisch aufgeladen sind. Nicht anders sieht es ja bei “Nachhaltigkeit” aus. Beides sind “epistemisch-moralische Hybride”, um eine Wortschöpfung des deutschen Umweltethikers Thomas Potthast zu verwenden, oder “boundary objects” (Sheila Jasanoff), die irgendwo zwischen Wissenschaft und Politik schweben.

Der Wert

Schön? Biophilie-begünstigend? Gottes Werk? Oder uns einfach an unsere Beschränktheit erinnernd? Gestatten: die biologische Vielfalt.
Credit: G. Brändle, Agroscope, CC-BY-3.0 Schön? Biophilie-begünstigend? Gottes Werk? Oder uns einfach an unsere Beschränktheit erinnernd? Gestatten: die biologische Vielfalt.

Nun wird der Biodiversität, diesem so problematischen Begriff, häufig ein Wert zugewiesen. Die Resultate solcher Zuweisungen setzen noch eine “Unschärfe-Ebene” auf die begriffliche oben drauf. Dies fängt damit an, dass sowohl viele Biodiversitäts-Fans unter der Umweltethikern und Naturschutzbiologen als auch einige ihrer Kritiker davon ausgehen, Biodiversität sei der alleinige Wertträger, wenn es um den Wert der Natur geht. Das ist natürlich angesichts der Tatsache, dass biologische Vielfalt nur eine von vielen Eigenschaften natürlicher Ökosysteme ist, alles andere als sinnvoll. Biodiversität mag einen Beitrag zum Wert von Ökosystemen leisten, aber sie ist eben nicht der alleinige Wertträger. Donald S. Maier, über dessen sehr interessanten Ansatz zur Umweltethik ich kürzlich geschrieben habe, trieb diese Idee, Biodiversität sei der alleinige Wertträger, bewusst ad absurdum, indem er darauf hindeutete, dass man demzufolge viele gemeinhin als wertvoll erachtete Ökosysteme eigentlich nicht schätzen dürfte, weil sie von Natur aus eben nicht biodivers sind (s. o.).

Einige weitere mehr oder weniger unsinnige, der Biodiversität zugeschriebene Werttheorien beinhalten u. a. folgendes:

  • Die biologische Vielfalt habe einen intrinsischen oder zumindest einen Existenzwert. Dies bedeutet, dass sie einen Wert unabhängig von direkten Einflüssen aufs menschliche Wohlergehen hat. Ich bin bekanntlich Anthropozentriker, also halte ich von der Idee, die Natur hätte einen Eigenwert, grundsätzlich nicht besonders viel. Doch dem Konzept des Existenzwertes kann ich durchaus etwas abgewinnen – bloß sehe ich nicht, wie Biodiversität einen solchen haben sollte. Wie soll eine abstrakte Eigenschaft, die Vielfältigkeit eines Lebensraumes, einen Wert an sich haben, einfach “weil sie ist”? Dies ist äußerst schwer zu begründen, egal ob man anthropozentrisch oder sonst wie argumentieren möchte. Zwar gibt es das alte Argument von Leibniz, Vielfalt sei grundsätzlich wertvoll – doch da es sich auf einem sehr spezifischen Bild der Welt als Gottes Werk stützt, gilt es in der modernen Ethik als nicht besonders überzeugend.
  • Manchmal wird behauptet, Biodiversität habe einen positiven Einfluss auf menschliche Gesundheit und sei deshalb wertvoll. Abgesehen davon, dass auch dieses Argument eher die Natur im Allgemeinen im Sinne hat und nicht die Vielfalt, übersieht es, dass ein biodiverses Ökosystem nicht nur eine potenzielle Quelle von medizinisch relevanten Stoffen ist, sondern auch von einer Vielfalt an Pathogenen. In manchen Ökosystemen mag der positive pharmacopoeia-Effekt überwiegen, in anderen “wiegen” Pathogene schwerer. Ein grundsätzliches Argument pro Biodiversitätswert lässt sich hier schwer bilden.
  • Besondere Popularität in vielen Kreisen genießt die von dem berühmten Ökologen Edward O. Wilson postulierte Hypothese von der Biophilie (bereits vor Wilson wurde der Begriff von Erich Fromm verwendet). Auch hier ist es schwierig, einen offensichtlichen Link zur Vielfalt zu finden – letzten Endes wird lediglich behauptet, der Mensch brauche für eine gesunde, seiner Natur entsprechende Entwicklung den Kontakt mit Natur. Daher sei Natur/Biodiversität wertvoll. Diese Theorie leidet unter einigen Schwächen, die gravierendsten hiervon: die anthropologisch begründeten Zweifel an der inhärenten psychologischen Verbundenheit des Menschen mit der Natur (der Mensch hatte schon immer mit der Natur zu kämpfen und sie zu fürchten – wieso sollte er sie dann gleichzeitig lieben?) sowie die ironische Feststellung des bereits erwähnten Donald Maier, dass nichts dagegen spricht, die Biophilie mit einigen Topfpflanzen in der Wohnung zu befriedigen.

 

Unwissen als Quelle des Wertes biologischer Vielfalt

Nachdem ich skizziert habe, wieso herkömmliche Ansätze zum Wert der Biodiversität nicht wirklich überzeugen, möchte ich nun meinen eigenen Ansatz präsentieren. Dieser lässt sich relativ einfach zusammenfassen: Biodiversität ist wertvoll, weil unser Wissen beschränkt ist.

Doch bevor ich beginne: Biologische Vielfalt hat noch eine Wertkomponente, die mit Unwissen bzw. Unsicherheit nichts zu tun hat. Sie besteht darin, dass ein biodiverses System für so manchen Menschen (obwohl mitnichten für jeden – siehe die Biophilie-Kritik) schlicht und einfach schön ist. Dieser “ästhetische Wert” von Biodiversität ist jedoch seinerseits nicht unproblematisch und gilt eigentlich nur unter Einschränkungen. So dürfte er nur auf Artenvielfalt zutreffen (und nicht z. B. auf genetische oder funktionale Diversität), und auch hier nur die Vielfalt einiger weniger Artengruppen, die relativ leicht sichtbar sind. Das wären v. a. manche Gefäßpflanzen, Säugetiere, Vögel, Schmetterlinge. Und auch deren Vielfalt hat nur eingeschränkt einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Schönheit, denn laut vielen empirischen Studien können die meisten Laien Arten kaum auseinanderhalten. Was also in Theorie vielversprechend erscheinen mag – Biodiversität als wichtiger Träger ästhetischer Wertschätzung – erweist sich in Praxis als recht ernüchternd. Ästhetik trägt wesentlich zu unserer Wertschätzung von Natur bei, doch dürfte der Einfluss der Biodiversität hier eher geringfügig ausfallen.

Nun also zum Unwissen als Quelle des Wertes von Biodiversität. Der Ausgangspunkt ist die ökologische Biodiversitätsforschung, in deren Mittelpunkt die Untersuchung des Einflusses steht, den biologische Vielfalt auf das Funktionieren von Ökosystemen (meist i. S. der Stabilität oder der Resilienz, manchmal auch der Produktivität) hat. Doch ist wirklich die Anzahl verschiedener Arten/Gene/sonstiger biologischer Objekte für die Stabilität eines Ökosystems von Bedeutung? Wohl kaum. Relevant sind eigentlich spezifische Beziehungen zwischen konkreten Bestandteilen des Systems. Das Problem ist, dass wir diese Beziehungen meistens nicht kennen. Wir verstehen die unglaublich komplexen dynamischen Ökosysteme, von denen wir umgeben sind, nur sehr mäßig. Daher bedienen wir uns bei ihrer Analyse vieler Vereinfachungen – z. B. des Konzepts der Biodiversität. In vielen Kontexten wurde beobachtet, dass es eine positive Korrelation zwischen dem Biodiversitätsniveau eines gegebenen Ökosystems und verschiedenen Funktionsparametern gibt. Dieser Zusammenhang ist mitnichten unumstritten – die Erkenntnisse basieren zum großen Teil auf relativ simplen kontrollierten Feldexperimenten, die Funktionsparameter sind ebenfalls in vielen Fällen kontrovers (ist die Biomasseproduktion wirklich ein gutes Maß des guten Funktionierens eines Ökosystems?). Dennoch ist der state of the art in diesem Forschungsfeld, dass im Schnitt Biodiversität für ein gegebenes Ökosystem gut ist. Ist diese Tatsache nun wertvoll? Anthropozentrisch betrachtet wohl ja. Wir Menschen mögen Stabilität und verabscheuen Unsicherheit – wir Ökonomen sprechen dabei von Risikoaversion – daher dürfte es die meisten von uns freuen, wenn ein Ökosystem, das wir oder Andere in welcher Weise auch immer nutzen, auf absehbare Zeit stabil ist. Dies betrifft sowohl “akute” Stabilität (z. B. die höhere Resistenz biodiverser Waldökosysteme gegen Stürme) als auch langfristige Stabilität. Der maßgebliche ökologische Begriff ist hier die funktionale Redundanz: In einem vielfältigen System kann eine gegebene Funktion potenziell von mehr als einem Element (z. B. Art oder Genabschnitt) erfüllt werden. Sollte ein solches Element, welches diese Funktion gerade wahrnimmt, “ausfallen”, springt ein anderes Element ein, so dass das Ökosystem weiter weitgehend ungestört funktionieren kann.

Doch gibt es noch eine zweite, “ökonomischere” Komponente des aus Unwissen und Unsicherheit resultierenden Wertes von Biodiversität. In der Umweltökonomik bezeichnet man sie als Optionswert: Ökosysteme beinhalten womöglich Komponenten, die irgendwann in der Zukunft für uns oder unsere Nachkommen von Nutzen sein könnten. Oder solche, die bereits jetzt von Nutzen wären – wenn wir nur von ihrer Existenz wüssten. Doch weder kennen wir diese Ökosysteme gut genug, noch können wir unsere eigenen Bedürfnisse und die unserer Enkel gut abschätzen. Wir sind hier mit inhärenter Unsicherheit konfrontiert. Und daher ist biologische Vielfalt für uns wertvoll – je höher sie ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass wir für alle künftig anfallenden Bedürfnisse etwas parat haben bzw. dass wir uns nicht dessen berauben, was wir eigentlich bereits jetzt gebrauchen könnten. Einmal wieder ist es so, dass eigentlich nicht die Vielfalt an sich der Wertträger ist, sondern konkrete biologische Objekte. Da wir jedoch nicht wissen (können), welche dies sind, ist Vielfalt eine willkommene Approximation. Wie ich an einer anderen Stelle ausführte, hat dies interessante Konsequenzen angesichts der Potenziale der Biotechnologie.

Zusammenfassend kann man also sagen: Biologische Vielfalt ist ein Konzept, das in seiner steil verlaufenden Karriere in Wissenschaft und Politik wahrscheinlich nur von Nachhaltigkeit übertroffen wird. Gleichwohl wird es – genauso wie Nachhaltigkeit – sehr unscharf definiert und gebraucht. Dies wirkt sich negativ auf Werttheorien aus, die Biodiversität zu einem Wertträger erklären wollen. Diese leiden dann zusätzlich noch unter eigenen Problemen. Hingegen kann man argumentieren, dass Biodiversität tatsächlich wertvoll ist, wobei aber ihr Wert vor allem daraus resultiert, dass wir Menschen keine Ahnung von der uns umgebenden Welt haben. Dieser Wert ist eindeutig anthropozentrisch begründet, was aber auch verständlich ist, denn Vielfalt ist eine Eigenschaft, kein “Ding”, dem man sinnvollerweise einen Eigenwert zumessen könnte (zumindest, wenn man nicht Leibniz heißt).

8 Kommentare

  1. Positiv besetzte Begriffe wie Nachhaltigkeit und Biodiversität sollte man in konkreten Fragestellungen durch Arbeitsbegriffe ersetzen und/oder konkretisieren.
    Anstatt von Nachhaltigeit würde man dann beispielsweise von der Ressourcenintensivität enes Prozesses sprechen und anstatt von Biodiversität könnte man von vom Artenverlust eines Gebiets relativ zu einem Referenzzeitpunkt sprechen. Bei einer anderen Fragestellung würden die Konkretisierungen wieder anders aussehen.

    Im Prinzip ist es wohl jedem klar, dass man so vorgehen muss, wenn man überhaupt Aussagen treffen will, die nachvollziehbar sind. Wenn man das nicht macht ist man in einer ähnlichen Situation wie wenn ein Kunsthistoriker von schöneren und weniger schönen Kunstwerken spricht. Was aber schön ist, ist äusserst subjektiv.

    Noch eine Bemerkung zu einem Satz oben (Zitat)” Vor 1980 nonexistent, wurde der Begriff 1992 in den Titel eines der richtigen Ergebnisdokumente der Rio-Konferenz aufgenommen”
    Was meinen sie damit? Gibt es auch falsche Ergebnisdokumente? Oder haben sie sich verschrieben und meinen eines der wichtigen Ergebnisdokumente

    • Natürlich muss man Begriffe für konkrete Fragestellungen operationalisieren. Aber dies löst das Problem noch nicht. Erstens bedürfen bestimmte Kontexte (insb. politische Rhetorik) nicht zwangsläufig einer Operationalisierung, was dazu verlädt, Begriffe unscharf zu verwenden. Zweitens muss eine Operationalisierung nicht immer im gegebenen Kontext richtig sein. Ihr Vorschlag bspw. beschränkt Biodiversität auf Artenvielfalt, was oft sinnvoll und auch unumgänglich sein mag – aber gleichwohl nicht darüber hinweg täuschen sollte, dass Biodiversität mehr ist als nur die Artenvielfalt. Außerdem werden, wie oben erwähnt, sehr viele Konzepte in Biodiversität “hineininterpretiert”, die dort eigentlich nichts zu suchen haben (Wildnis, “einheimisch” vs. “fremd”, Endemität etc.).

      Bezüglich des Zitats haben Sie natürlich Recht, es sollte “wichtig” heißen.

  2. Operationalisierung und Bezug auf eine Referenz machen den Biodiversitätsbegriff wohl bereits aussagekräftiger als die rein globale und absolute Verwendung dieses Begriffs. Eine naheliegende Referenz für die Biodiversität eines Gebiets ist der Vergleich mit der Biodiversität zu einem früheren Zeitpunkt, also die Arten- Gen- und Ökonischenvielfalt beispielsweise eines Waldes, Tümpels oder Sees verglichen mit früher.

    Biodiversität wird wie Nachhaltigkeit aber auch gern verwendet um einen globale Aussage über unser Erdsystem zu machen, um ein Werturteil über unser “System” zu fällen und um die Notwendigkeit einer Umkehr unserer Wirtschaftsweise und unserer Zivilisation aufzuzeigen. Eine sinkende Biodiversität deutet bei dieser Sichtweise auf eine nicht nachhaltige Situation und gar eine Gefährdung des Lebens auf der Erde ingsesamt hin wie im folgenden WWF-Schweiz-Text zum Thema:

    Der rasante Verlust an Biodiversität ist gravierend und grösstenteils auf den Menschen zurückzuführen. Das Artensterben wurde durch den menschlichen Einfluss gemäss wissenschaftlichen Schätzungen stark beschleunigt. Lebensräume wie die Regenwälder – die grünen Lungen unseres Planeten – sind gefährdet.
    Eine Welt ohne Regenwälder? Wie sähe eine Welt und ohne funktionierende Nährstoffkreisläufe in Boden und Wasser aus? Die Sauerstoffproduktion und weitere elementare Leistungen wären nicht mehr gewährleistet. Es braucht dazu funktionsfähige und vielfältige Ökosysteme.

    Hier wird also der beliebte Bezug zu den Ökosystemdienstleistungen gemacht und gleich ein apokalyptisches Szenario vorgestellt.

    Für mich ist die Verwendung des Begriffs Biodiversität in diesen Fällen aber noch OK. Problematisch wird es, wenn Biodiversität in der Argumentation einen Eigenwert bekommt und das unabhängig von der Gesamtsituation. So wird nicht selten Partei für Biolandbau ergriffen indem die höhere Biodiversität von so bearbeitetem Land gegenüber industriell genutzten Land hervorgehoben wird. Das ist ein problematisches Argument, denn wo Lebensmittel angebaut werden, wachsen so oder so vor allem Lebensmittel und es sollten in jedem Fall nicht kultivierte Flächen übrigbleiben.

    Auch im Aritkel Darwin’s worms, our worry wird die behauptete sinkende Biodiversität in Kulturböden als Folge von Pesitzideinsatz als Argument mit Eigenwert eingesetzt.

    Around 150 years ago, Charles Darwin championed the role of earthworms in maintaining healthy soils. Since then, much topsoil has been lost and soil biodiversity degraded. Urgent action is required in 2015, the International Year of Soils, to readdress this immense problem.
    ….
    We have denuded soils of their nutrients, and polluted them with heavy metals and salts. The pesticides we apply might temporarily increase yields, but they also disrupt soil biodiversity. Earthworms have declined. Soil fertility has been lost.

    A map of threats to soil biodiversity using data from the European Soil Data Centre implies high threats to soil biodiversity in northwest Europe, and particularly in the UK and Netherlands [5]. We have only the slightest idea what the long-term implications of these shifts in soil biodiversity might harbour for future food production and, it seems to me, we urgently need to find out.

    In diesem Textabschnitt werden mehrere Ursachen angesprochen, warum die Böden sich qualitativ verschlechtert haben und die abnehende Biodiversität wird als ein Masstab für diese Verschlechterung herangezogen. Pesiztide kommen allein deshalb schlecht weg, weil sie die Biodiversität verringerten.

    Das scheint mir bereits eine zu undifferenzierte Argumentationsweise und hier sehe ich den Begriff der Biodiversität potenziell missbraucht.

  3. Der Wert von Biodiversität hat seine Hauptquelle in unserem Unwissen.

    Wobei dieser Wert (“Wert”) auch ein negativer sein kann und zu Schaden (vgl. mit ‘Nutzen’ im Artikeltext) führen könnte.

    Möglichst große Biodiversität als wünschenswert zu erachten, ihr so grundsätzlich einen “Wert”, zu beachten die Metaphorik, einen gesellschaftlichen Wert zuzuweisen, dürfte sich nicht anthropozentrisch begründen lassen, sondern eben biozentr(ist)isch oder zumindest duozentr(ist)isch.

    MFG
    Dr. W

    • Wobei dieser Wert (“Wert”) auch ein negativer sein kann und zu Schaden (vgl. mit ‘Nutzen’ im Artikeltext) führen könnte.

      Ich glaube nicht. Hier müssen wir unterscheiden zwischen dem Wert bestimmter Produkte des Ökosystems (der kann durchaus negativ sein) und dem Wert der Stabilität dieses Ökosystems bzw. dem Optionswert, der daraus resultiert, dass wir uns Optionen freihalten (nur Letztere kann man der Biodiversität attribuieren). Stabilität und geringe Wahrscheinlichkeit von “schmerzhaften Verlusten” können nicht wirklich negativen Wert haben. Es sei denn natürlich, wir erwarten von dem betreffenden Ökosystem “netto” Negatives – aber dann dürfte uns seine Biodiversität auch egal sein.

      Möglichst große Biodiversität als wünschenswert zu erachten, ihr so grundsätzlich einen “Wert”, zu beachten die Metaphorik, einen gesellschaftlichen Wert zuzuweisen, dürfte sich nicht anthropozentrisch begründen lassen, sondern eben biozentr(ist)isch oder zumindest duozentr(ist)isch.

      Dies ist das größte Problem aller Wertkonzepte von Biodiversität. Wenn Diversität gut ist, dann sollte mehr davon zumindest nicht schlecht sein – etwas Anderes wäre schwer zu begründen. Ob das tatsächlich stimmt, ist zumindest zweifelhaft. Ich denke auch nicht, dass hier eine biozentrische Perspektive irgendwas ändert – höchstens eine Leibniz’sche (s. Text). Denn, wie von Donald Maier zurecht kritisiert, würde eine konsequente Wertzuweisung an Biodiversität dazu führen, dass es zwangsläufig heißen müsste “je mehr, desto besser” – und der Mensch hat durchaus Möglichkeiten, die Vielfalt natürlicher Ökosysteme “künstlich” zu vergrößern, in dem er diese Ökosysteme fragmentiert, mit “fremden” Arten vermengt etc. Ob das mit einer biozentrischen Weltsicht vereinbar ist, bezweifle ich.

      Eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, wäre, Biodiversität nicht als alleinigen Wertträger zu betrachten – sondern als einen unter vielen. Dann müsste man nämlich bei der Betrachtung des Wertes eines gegebenen Ökosystems den Wert seiner Biodiversität gegen andere Wert-Aspekte abwägen, was dazu führen dürfte, dass der “Grundsatz” “je mehr, desto besser”, nicht mehr greift. Auch der Optionswert gilt ja nicht uneingeschränkt – weil die Bereithaltung von Optionen mit Kosten verbunden ist. Irgendwann, bei einem bestimmten Maß an Biodiversität (=Optionenvielfalt) übersteigen die Kosten den marginal abnehmenden Nutzen der Optionenbereithaltung.

      Last but not least, wie ich versucht habe zu verdeutlichen, ist Biodiversität eigentlich nur eine Näherung dessen, was uns interessiert (daher “Ausdruck des Unwissens”). Streng genommen, d.h., in einer Welt, die wir perfekt verstehen würden, dürfte Vielfalt keinen nicht-Leibniz’schen Wert haben. Da wir aber nicht in einer solchen Welt leben, bedienen wir uns des Konzepts der Biodiversität, weil wir glauben, dass er mit bestimmten wertvollen Eigenschaften von Ökosystemen verbunden ist (wie z. B. Stabilität).

      • Auf jeden Fall ganz bemerkenswerte Überlegungen, Herr Bartkowski, vielen Dank auch für Ihre Reaktion.
        Ihr Kommentatorenfreund konnte meist folgen.

        Vielleicht noch eine “Bonusfrage”, auch weil Ihr Kommentatorenfreund in ähnlichem Zusammenhang bereits ähnlich wie Sie argumentiert hat:
        Der Mensch benötigt eine gewisse Biodiversität, zum Leben, insofern ist hier die moralische Einschätzung “Biodiversität (erst einmal) gut” auf der Hand liegend, das Sein bestimmt das Sollen, das Sollen die obige Einschätzung, äh, wie hantieren Sie in diesem Zusammenhang mit dem sogenannten Naturalistischen Fehlschluss?

        MFG
        Dr. W

        • Wie hantieren Sie in diesem Zusammenhang mit dem sogenannten Naturalistischen Fehlschluss?

          Das ist natürlich eine sehr interessante Frage… Die einfache Antwort wäre (die aber auch für mich nicht wirklich befriedigend ist): ich bin Ökonom. Die Ökonomie ist konsequentialistisch. Das, was in der Ökonomie als “Wert” bezeichnet wird, ist gleichzeitig “demokratisch” und “faul”. Demokratisch, weil wir Ökonomen uns i.d.R. darauf beschränken, vorhandene Präferenzen abzufragen und sie zu aggregieren, ohne sie zu “bewerten”. Gleichwohl ist dies “faul”, weil wir damit keine Aussagen darüber machen müssen, ob diese Präferenzen berechtigt sind (wenn sie z. B. aus Bösartigkeit resultieren oder eben aus einem naturalistischen Fehlschluss – so what?). Bezogen auf die im Text angeführte “Theorie” über den Wert der Biodiversität würde das bedeuten, dass ich sie “testen” würde, indem ich Menschen frage, ob sie für diese Aspekte der Biodiversität eine Zahlungsbereitschaft aufweisen. Falls sie das tun, ist alles in Ordnung, naturalistischer Fehlschluss hin oder her.

          Nun ist das, wie bereits angemerkt, keine sehr befriedigende Herangehensweise (auch wenn sie der gängigen Praxis im Bereich ökonomischer Bewertung entspricht). Wie ist es also mit dem naturalistischen Fehlschluss? Zuallererst wäre hier anzumerken, dass mich G.E. Moores Argumentation nicht überzeugt – ich glaube nicht, dass man “Gut” nur intuitiv begreifen kann, aber nicht an objektiven Eigenschaften festmachen kann. Stattdessen gehe ich erstmal davon aus, dass “Gut” bedeutet, dass etwas für den Menschen “gut” ist (dies ist natürlich anthropozentrisch, aber das Thema hatten wir bereits einmal durchgekaut). Und ausgehend von dieser Prämisse lässt sich der naturalistische Fehlschluss relativ leicht vermeiden, sofern gezeigt werden kann, dass Biodiversität für den Menschen gut ist. Es ist keine endgültige Lösung, weil Moores Kritik an gut=für den Menschen gut (wieso?) bestehen bleibt. Eine bessere Lösung habe ich aber nicht zu bieten und kann mich höchstens hinter dem Verweis darauf verstecken, dass Moores Kritik an der herkömmlichen Ethik (egal ob konsequentialistisch, deontologisch oder von Tugenden ausgehend) nicht besonders einflussreich ist.

          Habe ich Ihre Frage halbwegs zufriedenstellend beantworten können?

          P.S. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, Ihre durchaus interessanten Gedanken allgemeinverständlicher zu formulieren?;-)

          • Werter Herr Bartkowski,
            Ihr Kommentatorenfreund regt an den sogenannten Naturalistischen Fehlschluss nicht allzu ernst zu nehmen, er ist epistemologisch stabil, aber kulturelle Fragen betreffend nicht hilfreich, sofern Position bezogen werden, äh, soll, das Sollen betreffend.
            Er ist eher eine Art Totschlagargument für Relativisten, wenn sich ernsthaft Bemühte, wie unsereins beispielsweise, Gedanken zur Kultur machen.
            Argumentativ gilt es sich hier natürlich ein wenig abzufeimen, Sie scheinen bestens unterwegs,
            MFG + schönes WE noch,
            Dr. W

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