Sternbilder: Der Adler und der Junge

“Was hat es mit dem Knaben auf sich, den der Adler trägt?” fragen manche Gäste im Planetarium, da er in mancher Planetariumssoftware eingezeichnet ist und in anderer nicht. Zum astronomischen Allgemeinwissen gehört, dass es sich bei dem Jungen um den legendären Antinous (sprich Antino’us) handelt.

Legendär

Das ist eine römische Figur, ein Geliebter (männlich) eines römischen Kaisers (männlich), der angeblich im Nil ertrunken (worden?) ist.

Botschaft: Ganz im Zeichen des Christopher Street Days könnte man interpretieren, dass es sich um die bereits vor ~2000 Jahren existierenden und schon damals um Toleranz und Gleichberechtigung kämpfenden Anhänger von alternativen sexuellen Orientierungen handelte. Das ist vllt. nicht ganz falsch, aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Botschaft ist das alte Lied einer der schrecklichsten menschlichen Eigenschaften, nämlich des Neides: Das (Teil)-Sternbild “Antinous” erinnert an das Schicksal eines guten Mannes, der aufgrund seiner Fähigkeiten (und Neigungen) Günstling eines Mächtigen war und den deshalb (mutmaßlich) seine Neider umbrachten.

Historische Fakten – politisch 

Was über den historischen Mann namens (griechisch Antinoos, latinisiert Antious) wirklich bekannt ist, können Sie von der Schwarmintelligenz (wikipedia) abfragen.

Kurz gesagt: Er stammte aus Bithynien (heutige Nordtürkei) und ist Ende Oktober 130 n.Chr. etwas südlich des heutigen Kairos im Nil ertrunken. Da er zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren ein enger Vertrauter und vllt. Ratgeber, d.h. eine Art “Sohn-Ersatz”, des römischen Imperators Hadrian (76-138) war, es aber keine verlässlichen historischen Aufzeichnungen gibt, entstand nach seinem Tod in jungen Jahren eine umfangreiche Legendenbildung, so dass nicht mehr geklärt werden kann, in welcher Beziehung er zum Kaiser stand. Es kann eine rein platonische Freundschaft, eine Berater-/Mentorbeziehung oder auch eine sexuelle Beziehung (oder Mentorship mit sexuellem Add-on?) gewesen sein… heute lässt sich das sicher nicht mehr klären und ob es damals jemandem außer den beiden Akteuren klar war, ist auch nicht überliefert. Jedenfalls stand er dem Kaiser nah. Das genügt für Gerüchte, Neid und Böswilligkeiten etc.

Fakt ist wohl das Ertrinken im Nil und zwar vor den Augen des Kaisers. Die Gründe können ein Unfall, Suizid (aus verschiedenen möglichen Gründen) oder Intrigen am Hof gewesen sein – oder eines der beiden ersten, dessen Gründe im dritten liegen. Da dies schon antiken Beobachtern und Chronisten unklar gewesen zu sein scheint, überbordender Stoff für Legenden und Erzählungen.

Historische Fakten – astronomisch 

Die Figur mit ihrer fragwürdigen Geschichte ist schon im Almagest (150 n.C.) genannt – wenngleich dort nicht als eigenes Sternbild, sondern als Untergruppe beim Adler – und tradiert sich daher durch Mittelalter und Neuzeit bis zu uns und in manche Projektionssoftware für Planetarien. In den letzten großen wissenschaftlichen Sternkartenwerken mit bildlicher Darstellung (Flamsteed, Fortin, Bode im 18. Jahrhundert) wird es manchmal auch als Doppelsternbild “Adler mit Antinous” bezeichnet:

Der Adler mit einem Knaben, kolorierte Illustration in Bodes “Vorstellung der Gestirne” von 1782 (vgl. Gr. Flamsteed-Edition). Er hält sich an die Almagest-Tradition. Die Figur ist exakt so gezeichnet, wie sie im Almagest beschrieben ist. 

Alte Wurzeln dieses Bildes? 

Einer meiner Arbeitsschwerpunkte sind ja babylonische Sternbilder und daher habe ich jetzt eine neue “steile These” zu dem Thema. Dabei fiel es mir vor einigen Jahren wie Schuppen von den Augen, denn es hat zwar noch niemand behauptet, aber ist eigentlich ganz logisch: Ich vermute, es handelt sich bei dem römischen Antinous ursprünglich um ein babylonisches Sternbild, nämlich das Sternbild “Toter Mann” (das aus Gründen von Auf- und Untergangsterminen schon immer neben dem Adler am Himmel verortet wurde: in Literatur der Altorientalistik wird behauptet, dass es mit dem griechischen Sternbild “Delphin” gleichzusetzen sei: Das hat aber seit hundert Jahren niemand mehr hinterfragt und ich glaube es jetzt nicht mehr.). In der babylonischen Uranographie ist das Sternbild Adler definitiv neben dem Sternbild “Toter Mann” oder “Leichnam”. Es ist darüber spekuliert worden, ob in irgendeiner der zahlreichen babylonischen oder assyrischen Subkulturen ein Adler die Aufgabe übernimmt, Verstorbene in eine Unterwelt zu begleiten – ähnlich wie die griechischen Harpyien dies auf Geheiß von Zeus tun oder im Ägyptischen der Ba-Vogel die Seele des Verstorbenen trägt. Die Harpyien sind Mischwesen, (blond gelockte oder sehr häßliche) Frauen mit Vogelflügeln (ihre frühe Version war wohl eine der Vorlagen für spätere christliche Engel). – Wir sehen hier ein transkulturelles Konzept von geflügelten Wesen, die Verstorbene (oder deren Seele) zur “final destination” (was auch immer: Himmel, Hölle, Unterwelt, zu den Sternen, ins Totenreich) begleiten.

Im Babylonischen/ Assyrischen ist das aber nicht überliefert, sondern es gibt den Mythos von Etana, einem legendären König, der von einem Adler zum Himmel getragen wird und die Erde aus immer größerer Ferne sieht und dabei überhaupt nicht tot ist. Es erinnert eher an einen Perspektivenwechsel wie in Joh. Keplers Utopie Somnium oder für die Astronauten von Apollo 8.

Könnte es daher sein, dass das ur-alte Sternbild von einem Adler eigentlich ganz un-seelische, profane Gründe hat? Denkbar wäre z.B., dass gar nicht buchstäblich einen Adler meint, sondern einen Geier, da die beiden fleischfressenden Vögel in manchen Sprachen nicht oder kaum unterschieden werden. Geier sind Aßfresser und daher erscheint ein Geier neben einem Leichnam irgendwie plausibel. Vielleicht sollte es ursprünglich gar nicht ein Begleittier einer Seele sein, sondern eine Warnung an die Lebenden, dass man Leichname bestatten sollte (weil sie andernfalls der Geier frisst)? Das lässt sich vielleicht nicht mehr klären, denn es hat sicher Wurzeln in der vorschriftlichen Kultur. Aus den frühesten schriftlichen Quellen der erwachende mathematische Astronomie im 2. Jahrtausend vor Christus lässt sich nur rekonstruieren, dass astronomisch “quasi schon immer” ein Sternbild Adler (Geier?) neben einem Sternbild “Leichnam” gedacht wurde. 

“Malen nach Zahlen” des Sternbilds im Almagest. Die beschrifteten Sterne sind im Almagest benannt und lassen daher auf die Anordnung der Figur schließen. Basiskarte: Stellarium Freeware.

Konsequenz

Der Adler (Aquila) unseres Sommerhimmels wäre demnach eines der wenigen heutigen Sternbilder außerhalb des Tierkreises, das noch immer das babylonische Original ist: Der babylonische Adler wurde zum griechischen Adler, ging in die griechische mathematische Astronomie ein und wurde durch Übersetzung des Almagest vom griechischen Original ins Arabische und ins Lateinische bis zu den IAU-Sternbildern 1:1 tradiert, nicht umgewandelt oder verändert. Der Leichnam neben ihm wurde im Laufe der Geschichte mal genannt und mal weggelassen – in hellenistischer griechischer mathematischer Astronomie (z.B. Hipparch) fehlt er, in römischer Zeit taucht er in griechischer mathematischer Astronomie (z.B. Almagest) wieder auf und da er da nur eine Teilgruppe des Adlers ist, wird er in den folgenden Jahrhunderten mal genannt und mal nicht.

Da aber der babylonische Adler das babylonische Sternbild “Toter Mann” begleitet, ist es nur logisch, dass in römischer Zeit auch dem griechischen Adler (wieder) ein toter Mann, aus politischen Gründen namentlich Antinous, beigegeben wird. Der direkte babylonische Einfluss im Almagest ist klar, weil an verschiedenen Stellen direkt babylonische Beobachtungsdaten zitiert werden und dass dies auch die Sternbilder betreffen kann, wird am Beispiel des Sternbilds Waage unbestreitbar, denn auch dieses babylonische Sternbild ist bei den klassischen griechischen Autoren (Aratos, Hipparch…) nicht verzeichnet (ebenso wie der tote Mann beim Adler) und taucht erst wieder im Almagest auf. Insofern sieht das nach einer neuen “Rückbesinnung” und “Orientalisierung” der griechisch-sprachigen Astronomie in römischer Zeit aus.

Babylonische Sternbilder Adler, Toter Mann und Schwein nach meiner (neuen) Interpretation. Basiskarte: Stellarium Freeware.

Zusammenfassung für Planetarier

Der langen Rede kurzer Sinn:
* Wenn man sich im Planetarium fragt, wer das Bübchen beim Adler ist, ist die richtige Antwort auf jeden Fall: “ein Mann namens Antinous”.
– Für die kleine Kinder kann man sagen, dass der Adler ihn bzw. seine Seele in den Himmel trägt, weil einer der römischen Kaiser ihn sehr lieb hatte oder er ihm sehr geholfen hat.
– Für größere Leute bzw. wenn man ein bisschen Politik reinbringen möchte, kann man behaupten, dass er (möglicherweise) schwul war – und dass er deswegen in (bzw an) den Himmel kam/kommt. 😉

* Wer’s genau wissen will, dem kann man auch erzählen, dass es – wahrscheinlich – ein sehr altes (nämlich babylonisches) Sternbild ist, das sich bis mindestens 1100 v.C. zurück belegen lässt, wobei der Name “Antinous” für diese Figur erst in römischer Zeit beigegeben wurde und die Figur früher einfach nur “toter Mann” oder “Verstorbener” oder “Leichnam” hieß.

ADD-ON 

Übrigens ist auch der Name des hellsten Sterns im Adler (Atair oder Altair) oft Gegenstand von Rückfragen aus dem Publikum bei Star Parties und Planetariumsvorträgen. Darüber hatte ich bereits vor 6 Jahren hier geschrieben.

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

5 Kommentare

  1. Sehr interessant. Das hör ich alles zum ersten Male.
    Dann müsste das Sternbild Adler seit damals unverändert sein ?
    Ein schönes Beispiel, dass der Himmel “ewig” ist. (im Verhältnis zur Lebenszeit eines Menschen)

    Könnte man die Geschichten zu den Sternbildern mal modernisieren, oder besteht da gar kein Bedarf.

  2. SMH,
    Super ! Statt der griechischen Götter könnte man doch Showgrößen der Gegenwart nehmen, die jeder kennt, z.B. Elvis mit seiner Gitarre oder Mickey Mouse. Da schauen dann auch wieder die Kinder zum Himmel.
    Mit etwas Phantasie und einem Computerprogramm, dass in den Sternenhimmel die neuen Umrisse hineinprojeziert ist das machbar.

    Ich weiß jetzt nicht, ob Astronomen von Natur aus eher konservativ eingestellt sind, das sollte nicht abschrecken und die Buchverlage freut es auch, die können dann wieder neue Bücher drucken.

    Frau Hoffmann, erschüttern Sie mal die Fachwelt !

  3. Nachdem was ich über die Moral im Römischen Reich gelesen habe, trieben die Römer ja doch ein sehr freizügiges (tolerantes) Lotterleben. So gesehen hätte dieser Antinous damals gar nicht um Gleichberechtigung seiner sexuellen Orientierung kämpfen müssen, da ja im Prinzip alles erlaubt war und Prostitution ein ganz normales Gewerbe mit Aufstiegschancen in die Welt der Schönen und Reichen war.
    Was dieses Ertrinken im Nil anbetrifft, so kann das ganz profane Gründe haben wie zuviel Alkohol nach einer ausschweifenden Orgie oder die Selbstüberschätzung seiner Schwimmkunst eines Jugendlichen mit Imponiergehabe.

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