Hipparchs Sternkatalog doch nicht gefunden

Seit Oktober 2022 zeigte sich die Presse international davon beeindruckt, dass angeblich endlich der Sternkatalog von Hipparch von Nicäa gefunden worden sei (Berichte sogar in Nature, Forschung und Wissen, Daily Heritage und viele mehr). Wie auch schon frühere Behauptungen dieser Art stellte sich das mal wieder als falsch heraus (aktuelles JHA-Paper). 

Während bisher meist der römische Marmorglobus in der Villa Farnese (Neapel) als mutmaßlich hipparchschen Ursprungs gedeutet wurde (was regelmäßig nach der Behauptung widerlegt wurde), gibt es nun eine neue Quelle: ein mittelalterliches Pergament, Codex Climaci Rescriptus (CCR), das zwar einen Text in der ausgestorbenen syrischen Sprache trägt, unter dem aber noch ein älterer Text durchscheint. 

Multispektrale Photographie ermöglichte es einem Forscherteam 2022, den ausgewaschenen Text unter dem Klartext zu lesen. Der weg”radierte” ältere Text ist nicht syrisch, sondern griechisch. Er ist nicht in der (erst später entwickelten) Schreibschrift geschrieben, sondern in der älteren Blockschrift und dürfte daher wirklich aus der Antike und nicht aus dem Mittelalter stammen. Genial ist, dass das Team um den Alttestament-Forscher Peter Williams (von der Faculty of Divinity der Universität Cambridge, UK) diesen Text (a) entdeckte, (b) mit moderner Technik zu lesen vermochte, und dadurch (c) erkannte, dass es sich um einen astronomischen Text handelt. Im Juni und Dezember 2022 publizierte dieses britische Team ein Paper und die zugehörigen Daten mit dem Titel 

Newly-Discovered Illustrated Texts of Aratus and Eratosthenes…” 
(neu entdeckte, illustrierte Texte von Aratus und Eratosthenes), hier das Paper mit allen Quellen vom Dezember 2022 in “Classical Quarterly” der Cambridge Universität.

So weit, so richtig. 

Astronomiehistorischer Irrtum

Im Oktober 2022 erschien im Journal for the History of Astronomy (JHA) aber ein Paper, das behauptete, es handele sich um 

New evidence for Hipparchus’ Star Catalogue…” (link)
(dt.: Neue Beweise für Hipparchs Sternkatalog)

Obwohl das für kundige Leser von Hipparch schon auf den ersten Blick falsch ist, erhielt die wilde Hypothese enorme öffentliche Aufmerksamkeit (siehe oben).

In der Zusammenfassung schreiben die Autoren 

  1.  It also confirms that Ptolemy’s Star Catalogue was not based solely on data from Hipparchus’ Catalogue.
    dt.: Das bestätigt auch, dass Ptolemaios’ Sternkatalog nicht aussschließlich auf den Daten von Hipparchs Katalog beruht.
  2. Finally, the available numerical evidence is consistent with an accuracy within 1° of the real stellar coordinates, which would make Hipparchus’ Catalogue significantly more accurate than his successor Claudius Ptolemy’s.
    dt: Schließlich deuten die numerischen Daten auf eine Genauigkeit von 1° für die Sternkoordinaten hin. Damit wäre Hipparchs Katalog signifikant genauer als der spätere von Claudius Ptolemäus. 

und weiter im Text 

  1. …constellation in μῆκος (‘length’) and πλάτος (‘breadth’), … The concept of constellation boundaries underlying both sections is both similar to and different from its present-day analogue: these boundaries are drawn along vertical lines of right ascension and horizontal parallels, like today, but they make up simple rectangles instead of the intricate shapes introduced by Eugène Delporte (1882–1955).
    dt.: Sternbild in Länge und Breite … Das Konzept von Sternbild-Grenzlinien, die diesen Sektionen zugrunde liegen, ist sowohl ähnlich zu und verschieden von dem heutigen Analogon: diese Grenzliien sind auf vertikalen Linien von Rektaszension und horizontoalen Parallelkreisen gezeichnet wie heute, aber sie formen einfache Rechtecke statt komplexere Formen, wie sie von Eugène Delporte (…) eingeführt wurden.
  2. These coordinates are accurate to within 1° for the epoch of Hipparchus’ star catalogue (ca. 129 BCE),11 as can be verified with planetarium software such as Stellarium or by checking against Dennis Duke’s and Gerd Graßhoff’s lists of equatorial coordinates for the time of Hipparchus
    dt.: Diese Koordinaten sind auf 1° genau für die Epoche von Hipparchs Sternkatalog (ca. 129 BCE), wie es mit der Planetariumssoftware Stellarium bestätigt werden kann oder durch Vergleich mit den Listen von äquatorialen Koordinatenvon D. Duke und G. Grasshoff für die Zeit von Hipparch

In Schluss:

  1. it seems safe to assume nevertheless that, if his observations were conducted with an armillary sphere,
    dt.: Es erscheint sicher anzunehmen, dass, wenn die Beobachtungen mit einer Armillarsphäre gemacht wurden… 
  2. this must have been an equatorial armillary sphere, and not an ecliptic armillary sphere like Ptolemy’s;
    dt.: ... diese eine äquatorial aufgestellte Armillarsphäre gewesen sein muss und nicht eine ekliptikale wie die von Ptolemaios. 
  3. however, it is also possible that the measurements were taken with a dioptra, which may have been easier to operate.
    dt.: Jedenfalls ist es auch möglich, dass die Messungen mit einem Dioptra gemacht wurden, dass einfacher handhabbar ist.

All das ist falsch.

Die Aussage, das es in der Antike Grenzlinien für Sternbilder (boundaries) gegeben hätte, ist sicher falsch. Das lässt sich im Almagest klar belegen, und für Hipparch eine solche Hypothese aufzustellen, zeugt von Unkenntnis seines Textes. Der Almagest verwendet die Vokabeln “Länge” und “Breite” wie wir auf der Erdkugel: für Kugelkoordinaten und nicht für Grenzen von Sternbildern, und letztere werden explizit nicht angegeben: Es gibt einen Absatz, in dem die Gestalt der Sternbilderflächen beschrieben wird. Die Übersetzung aus dem Griechischen ist nicht ganz eindeutig; sie kann sich auf Skelettlinien oder Umrisse beziehen, nicht aber auf rechteckige Grenzlinien nach Koordinaten (wie heute von der IAU). 

Die Messunsicherheit von Hipparch kennen wir nicht. Wir wissen nur, dass die Skalen seines Globus’ eine Ablesegenauigkeit von einem halben Grad zuließen, d.h. sein Globus eine Skala mit 1° als kleinstem Skalenteil hatte. Was wir zudem wissen, ist, dass er Daten aus unterschiedlichen Quellen verwendete: in seinem Teil 3 muss er zusätzlich zum Globus eine Sternliste verwendet haben, die eine 10x größere Messgenauigkeit hatte und die folglich eine andere Quelle hatte (Hoffmann 2017). 

Die vorgeschlagene Überprüfung der Angaben im Paper von Gysembergh et al. (2022) mit Stellarium zeigt tatsächlich, dass seine Zahlen nicht übereinstimmen (neues JHA-Paper). 

Zu den Schlussfolgerungen

Leider stimmt auch der Rest von der Behauptung nicht, die im Text von Gysembergh+ entwickelt wird: 

  • Satzbau und “wording” (benutzte griechische Vokabeln) stimmen in dem mittelalterlichen Manuskript eben nicht mit Hipparchs Formulierungen überein 
  • die Ergänzung in der Übersetzung “to rise” zeigt, dass die Übersetzer nicht einmal die richtigen Zahlen vergleichen, denn Hipparch gibt nicht Aufgänge, sondern Kulminationen in der hier zum Beweis genutzten Zahlenschreibweise an. 
  • von den vier im mittelalterlichen Text überlieferten Zahlen lässt sich nur eine mit der Epoche von Hipparch in Einklang bringen – die anderen Zahlen deuten auf andere Epochen (zwischen -400 und +1400), so dass also die Zahlen im Manuskript höchstwahrscheinlich falsch sind: es liegt die Vermutung nahe, dass der griechische Text unter dem syrischen gelöscht wurde, weil er fehlerhaft war und man ihn nicht mehr brauchte. 

Wenn also nicht einmal die Zahlen im Text sicher auf Hipparch und seine Epoche verweisen, dann lässt sich aus ihnen weder ein Hinweis auf den Sternkatalog von Hipparch angeben, noch lässt sich irgendwas über Messmethoden und den Transfer zu Ptolemaios ableiten. 

Der Sternkatalog von Hipparch soll etwa 850 Einträge gehabt haben. Aus unvollständigen Koordinaten für drei Sterne (vier Zahlen!) also zu schließen, man habe nun den Katalog wiedergefunden (was in der Presse behauptet wird), ist also grenzenlose Hochstapelei. 

Dass Hipparch eine der Quellen für Ptolemäus war, aber nicht die einzige (was im Fachartikel als neuer Befund vorgetragen wird), ist seit Jahrhunderten wissenschaftlich nachgewiesen (Tycho Brahe um 1600, H. Vogt in den 1920ern, Grasshoff in den 1980ern) und steht sogar expressis verbis im Almagest (137 n.Chr.). Dazu bedarf es also nicht des neuen Manuskripts. 

Dass Hipparch mit einer Armillarsphäre beobachtete, ist hingegen nicht erwiesen und wird auch nicht durch das neue Manuskript klar. Im Gegenteil habe ich 2017 nachgewiesen, dass seine Daten aus verschiedenen Quellen stammen – also wenn u.a. von einer Armillarsphäre, dann gibt es zusätzlich auch andere Instrumente/ Literatur, die benutzt wurden.  

Fazit

Danke dem Kollegen Gysembergh, seinen Co-Autoren, Referees und Editoren, dass nun auch auf den billigen Plätzen in der letzten Reihe angekommen sein dürfte, dass Ptolemy nicht von Hipparch frech Daten geklaut hätte (was heute als wissenschaftliches Fehlverhalten geahndet würde, wurde auch damals nicht gemacht). Er hat das gemacht, was jeder gute Wissenschaftler (w/d/m) machen würde: auf den Ergebnissen von anderen aufbauen und diese zitieren. 

Das ist aber schon lange bekannt und kein neuer Befund. 

Danke auch für diese Demonstration, wie leicht man die Presse an der Nase herumführen kann: Für ein Paper, dessen Interpretation von vorne bis hinten falsch ist, hat dieses erschreckend viel Aufmerksamkeit erhalten (wobei in vereinfachten Darstellungen noch mehr Falsches verbreitet wurde). Mein Doktorvater war ziemlich sauer – und zwar zu Recht.

Das gleiche passiert übrigens auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten: Ich könnte mehrere Gelegenheiten aufzählen, wo Astrophysiker sich mit alter Geschichte oder historischen Daten zu beschäftigen versuchen, beschränke mich aber auf ein Beispiel zu Hipparch:

Die Behauptung von Brad Schaefer 2005, dass der Farnese-Globus angeblich auf Hipparchs Sternkatalog basiert, ging durch alle öffentlichen Medien, inklusive Spektrum. Das Gegenpaper von Dennis Duke (nur ein halbes Jahr später!) wurde aber nicht mehr erwähnt und Duke hat Schaefer komplett demontiert! So bleibt halt der Unsinn im kollektiven Gedächtnis namens Internet und nicht die Wahrheit.

Traurig!

 

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als (Kultur)Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Studienbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, jobbedingt 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017+2024 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten 2022), Jerusalem+Tel Aviv (Israel 2023), Hefei (China 2024)... . Die einleitenden Verse beschreiben eine Grundstruktur in ihrem Denken und Agieren: Physik ist eine Grundlagenwissenschaft, die datenbasiert und mit dem Erkenntnisapparat der Logik ein Verständnis der Natur zu erlangen bestrebt ist. Es gibt allerdings auch Fragen der Welt, die sich der Physik entziehen (z.B. wie wir Menschen auf diesem Planeten friedlich, synergetisch und benevolent zusammenleben können) - darum ist Physik nicht die einzige Liebe der Bloggerin. Sie liebt die Weisheit und hinterfragt die Welt. Das Wort "Philosophie" ist ihr aber zu groß und das populärwissenschaftliche Verständnis davon zu schwammig, als dass sie sich damit identifizieren würde: hier geht's faktenbasiert zu. Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

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