ISS mal anders
BLOG: Uhura Uraniae
ein internationales Team: zwei Astronauten (USA bzw. Canada), ein Kosmonaut (RUS) und ein Weltraumtourist (US) leben derzeit auf der ISS. Input kriegen sie von einem deutschen Ingenieur der Mission Control in Darmstadt, "hier in se bjutifull heßia, tschörmenie", das mal eben in einen Hinterhof an der Berliner Pappelallee verlegt wurde. Hier nämlich, im Ballhaus Ost fand am Sa, dem 25. Juni die vorerst letzte Mission statt. Erst im Oktober folgt die Fortsetzung nach der Sommerpause.
Realistische und sehr durchdachte Kulisse:
[Abb.: Foto von der Aufführung – es sieht nur aus wie schwerelos, in Wirklichkeit sind wir in einem Berliner Hinterhof]
Alles, das nicht in jemands Hand ist, wird mit Klettverschlüssen an der Wand befestigt – so, wie die Geschenkpackung für den Kapitän zum Geburtstag. Auch die Frisur von Claire ist entsprechend drappiert. Die Crew hangelt sich an Griffen entlang… man merkt die professionelle Beratung. 🙂
monochrom’s ISS startet mit der Devise "In space no one can hear you complain about your job." (im Weltraum hört’s niemand, wenn Du Dich über Deinen Job beklagst). Mit dieser simplen Feststellung einer Konsequenz der Tatsache, dass Schall der menschlichen Stimme nunmal ein Medium braucht – z.B. Luft braucht, um ans Ohr des Empfängers zu gelangen, spielen Johannes G., Roland G. und ihr Team! In ihrem Impro-Theater lassen sie vier Schauspieler die Crew der Raumstation spielen und Probleme lösen, die von einem Team am Boden per Video-Übertragung auf die Bühne eingegeben werden.
Ein Publikum sieht dem Schaupiel vergnügt zu: Es gibt viel Gelächter – sowohl die Berliner als auch die Wiener waren begeistert!
ein Impro-Reality-Sitcom mit folgenden Charakteren:
Auf dem Bild links sieht man die "directors" Dr Mordecai Finkelstei (.il), Dipl.-Ing. Bodo Holtzmann (.de) und Dr. Reto Blücher (.ch) vom Bodenzentrum. Im Bild rechts die SpaceCrew: Captain Ulysses van Hundsbak (US, NZ), Missionsspezialistin, die kanadische Astrophysikerin Dr Claire Saint-Jacques, als Weltraum-Tourist der Multimillionär der Spiele-Industrie Angus Slernotzki (US) und der russische Kosmonaut Leutnant Fjodor E. Golenko. Ihre fingierten Biographien sind auf der monochrom.at-Webseite einsehbar.
Sehr überzeugend ist der russische Akzent des Kosmonauten, ebenso wie dessen klischee-haftes Zelebrieren seiner Kultur als Kontrast zu der des Kapitäns. Die "Kanadierin", also aus der nordamerikanischen franco-germanischen Mischkultur spielt überzeugend das Mädchen an Bord und karrikiert mithin genau jene Rolle, die die einzige Frau in einem Männerteam eigentlich immer hat: die Jungs "erziehen" und bei Laune halten. [Warum? k.A., es sagen jedenfalls zahlreiche Astronauten und auch meine früheren Kommilitonen: angeblich betragen sich Männer besser in der Gegenwart einer Frau.] Der Mann, der durchs Programmieren reich wurde, wird genau derart dargestellt, wie man sich derlei Typen eben vorstellt: schlau, aber sehr unsicher im Umgang mit Menschen. Der Russe das genaue Gegenteil: wenig zimperlich, spätestens mit ein bißchen Wodka intus, der US-Kapitän lang und schlank wie man ihn sich vorstellt – und Ingenieur mit menschlichen Schlichterqualitäten.
Die Nachricht, dass dem Millionär gerade das Geld ausgeht und der Tourist folglich von nun an auf der Raumstation nun mitarbeiten muss, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Allerdings müsste man fairerweise die Frage stellen, ob die bespöttelte Arbeit, die er vorher geleistet hatte, um das Geld zu erwirtschaften (und sei es, indem er für anderer Menschen Unterhaltung sorgte durch die Entwicklung von Computerspielen) hiermit in Frage gestellt wird. Schnippische Bemerkungen einiger Crew-Mitglieder und der Bodenstation werden vom Captain vorbildlich geschlichtet. Astronauten sind eben charakterlich großartige Menschen! 🙂
Claire ist es schließlich, die des Kapitäns Weisheiten gekonnt in der erschütternden Erkenntnis zusammenfasst "Wenn wir einander besser kennenlernen, dann können wir auch besser zusammenarbeiten". Daraufhin entwickelt sich abermals eine neue Dynamik auf Bühne: der Russe und der Amerikaner schweben in den Nachbarsektor zum gemeinsamen Fernsehen, Claire bringt Angus das Flirten bei, während er ein gewisses Interesse für wissenschaftliche Experimente entwickelt.
Abschließend kulminierte diese Folge in einem Cliffhanger: der Crew wird offenbart, dass sie nun unter chinesischer Flagge fliegt, sie salutiert und wir warten auf die Fortsetzung im Oktober.
[Abb.: Beim Abschluss-Applaus vor der Bühne: die Leute von Mission Control, die bisher am Mischpult des Theaters hinten saßen.]
Geniales Konzept, großes Kino!
Durch die statische Bühne, die einem Zusammenkunft-Raum gleicht, hat das Ganze den Charme eines Sitcoms, also jener amerikanischen TV-Soaps, die im wirklichen Leben typischer, gewöhnlicher Kleinfamilien spielen – wie Married… with Children (Eine schrecklich nette Familie), Alf u.a. Serien im Nachmittagsprogramm, die lustig sein sollen und den Nachbarschafts- und Kleinstadt-Tratsch entschärfen, weil die Leute sich so eben über fiktive "Nachbarschaft" (=Leute wie Du und ich) die Mäuler zerreißen können, also über fiktive allseits bekannte Typen "tratschen" und lachen kann. Die anderen Module der Raumstation sind nicht sichtbar, man kann mit ihnen lediglichper Funk kommunizieren. Das zentrale Swesda-Modul hat also eine ähnliche Funktion wie ein Wohnzimmer, in dem man sich trifft. Input von außerhalb gibt’s hier per Video-Screen.
Die Show wird beworben als live-Comedy oder (professioneller bezeichnet) als Impro-Reality-Sitcom, d.h. ein Genre-Crossover. Für Nicht-Medienwissenschaftler: Improvisationstheater und Sitcom (was das ist, siehe oben). Die Situation ist eine "Utopie" im wahren Sinn des Wortes, als u-topos, also grch. "Un-Ort", d.h. als Ort, den es nicht gibt. In der ursprünglichen Wortbedeutung meinte dieses Genre, als dessen Begründer der englische Staatsmann und Schriftsteller Thomas Morus (1478-1535) gilt, eine Romanart, die eine mögliche Organisationsform von Menschen schildert – also, z.B. Staatsformen, die (noch) nicht existierten, aber schön zu haben wären, weshalb die Handlung an fiktiven Orten spielte. Eine andere Form dieses Genre ist, dass man nicht Staatsformen erträumte, sondern neue Technologien und die große Synthese von beidem gelang z.B. Gene Roddenberry 1966-’69 in StarTrek (in Deutschland ausgestrahlt unter dem Titel "Raumschiff Enterprise").
monochrom’s ISS hat es am Beginn des 21. Jh. nicht mehr nötig, Un-Orte oder Un-Zeiten als Schauplatz zu wählen. Unsere Realität ist "abgedreht" und "utopisch" genug. Recht nahe an der Realität im Weltraum ist daher die Show, die erst in Wien und dann in Berlin gedreht wurde. Die Crew auf der Bühne weiß nicht vorher, was Mission Control ihnen heute geben wird und Mission Control weiß (natürlich) auch nicht, was die Crew "antworten" wird, wie sie reagiert. Daraus ergibt sich eine überraschende Dynamik, die – wenn’s gut läuft – fast an den meistens zutreffenden Slapstick-Charakter von TBBT herankommen kann.
[Abb.: Aufführung am 25.06. 2011]
"smart ist das neue sexy"
monochrom’s ISS startete also mit dem "Missionierungsanspruch" und der Berufung des Narren seit altersher, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten. Es ist näher an der Realität als die ScienceFiction in StarTrek, wo die Kulisse des Spiels um einige Jahrhunderte in die Zukunft gerückt wird. Andererseits wirkt auch schon die heute reale, moderne Technologie für uns im Alltag derart utopisch, dass man es direkt benutzen kann. Welcher Besucher eines Hinterhof-Theaters in Berlin kann sich schon wirklich vorstellen, wie es auf der Internationalen Raumstation: Was heißt es überhaupt, dort zu leben, für viele Monate nur ca drei andere Menschen um sich zu haben und bestenfalls Funkkontakt mit Familie und Freunden? Wie kann man in Schwerelosigkeit leben, essen, Musik hören, (k)ein Fußball-Spiel sehen, auf Klo gehen und in welcher Pose ausgeruht schlafen, ohne dass die Schwerkraft einem die Wirbelsäule gerade biegt…? Wie arbeitet man, wenn jeder Handgriff schon 150.000 US$ kostet?
Beim Start in Wien wurden zur Beantwortung dieser Fragen noch zwei "Experten" auf die Bühne geholt, die dem Publikum dies erläuterten: Norbert Frischauf (Raumfahrtwissenschaftler und -Kommunikator im ÖWF) und die Astro-Online-Journalistin Maria Pflug (DerOrion).
Was bringt uns die Raumfahrt überhaupt
Wozu müssen überhaupt Menschen in den Weltraum starten? Neben den zahlreichen physikalischen, biologischen und chemischen Experimenten und der Herausforderung an die Ingenieur-Wissenschaft gibt es auch ethische und philosophische Ergebnisse, die man aus der Raumfahrt lernt. Raumfahrende aller Nationen und jeden Geschlechts erzählen immer wieder, wie die von Peter Sloterdijk (einem der großartigsten und provokantesten Gegenwartsphilosophen) propagierte Perspektivenumkehr für uns wirkt: Aus dem All sieht man weder Staatsgrenzen noch etnische Unterschiede, "alles was hier groß und wichtig erscheint", wirkt dort "nichtig und klein". Aus dieser Perspektive sieht man die Erde als sensibles blaues Juwel in der Schwärze und Einsamkeit des Alls. Man sieht, wie dünn die schützende dünne Haut der Erde ist, die Atmosphäre, die uns das Leben auf der Erde ermöglicht. Man sieht die Schutzbedürftigkeit der Erde ein, aus der schließlich in den 1980er Jahren die "Grüne Revolution" in Europa losbrach: zuerst schleichend, doch heute sogar schon in der Landesregierung von Baden-Württemberg. 🙂
Kommt die Erde in den Himmel, wenn sie tot ist?
Einladung zur Fortsetzung
Anyway: Im Ballhaus sehen Sie ganz un-philosophisch den fingierten, aber sehr realistischen profanen Alltag einer vierköpfigen Mannschaft auf einer internationalen Station im Orbit unseres Planeten. Mal abgesehen von der spacigen Kulisse gibt es menschliche Dissonanzen und Harmonie wie überall und es ist einfach ein Gaudi – für Weltraumfans ganz besonders.
Die sehr professionellen Darsteller (m/w) singen und reden gewiss jedem einen schönen Abend. Man kennt sie bereits aus dem Fernsehen oder aus Musical-Inszenierungen. Doch auch wenn nicht: auf der ISS-Bühne im Ballhaus merkt man ihre Professionalität sofort!
spontan, spritzig, witzig, originell
und wie im echten Leben: jeden Abend anders 🙂
Wenn Sie’s diesmal verpasst haben, gibt’s im Oktober nochmal eine Chance für
27., 28. und 29. Oktober im Ballhaus Ost in Berlin (Nähe Bhf. Schönhauser Allee).
Zwischenzeitlich werden die bisher gedrehten Folgen binnen der nächsten Monate peu-à-peu auf der monochrom-Webseite veröffentlicht.
Die Show ist in Englisch (native speakers, bewusster deutscher bzw russischer Akzent).
Gimmick dieses Logs
Credits:
Danke an Maria für die Presse-Backstage-Karte, an Johannes für die herzliche Begrüßung und den Service und an Paula für die Fotos, da meine Handy-Kamera leider in diesem Lichte streikte.
Abb.: Auf der Fahrt nach Berlin (Danke Falko & Co): Ein durchgehender Doppelregenbogen begleitete die Fahrt ab Hannover bis ca. Magdeburg. Der Haupt-Regenbogen rückte dabei immer näher heran: er endete zeitweise nicht – wie typisch – irgendwo "in der Luft" oder in der Ferne, sondern zuerst auf dem Feld neben der Autobahn und später sogar direkt am Auto.
Faszinierend, wie die Natur malen kann!
Anti Gravity Impro
MIch hat vor allem begeistert, dass sie nicht nur an Schwerelosigkeit denken, sondern die auch so umsetzen! Viele SciFi-Filme drücken sich ja vor dem Thema; nicht bei der ISS von monochrom 😉
Super Idee, wahnsinnig gut umgesetzt. Empfehlung!
btw: Gratuliere zum Double Rainbow
nachtrag
Finkelstein gibt es auf dem Gebiet wirklich, allerdings in Russland — er ist dort der Chef eines Weltrauminstitutes & er sagt Aufeinandertreffen von Mensch & Alien in 20 Jahren voraus…
Danke für die bereichernden Kommentare!
… und ich sage das Aufeinandertreffen von Mensch und Alien für vor zwanzig Jahren “voraus”, denn ungefähr damals bruchlandete mein Raumschiff am Berliner Stadtrand und wurde von sehr lieben und geduldigen Bürgern dieses Planeten groß gezogen. Seither versucht ich mich unter dem Namen “Susanne” (den früheren habe ich vergessen, da war ich noch zu klein) in die menschliche Kultur zu integrieren.
[Die Überschrift meinte ich ehrlich, beim Rest bitte cum grano salis… ;-)]