Funktion der Wissenschaft in China und im Abendland

BLOG: Uhura Uraniae

Ko(s)mische Streifzüge durch Zeit und Raum
Uhura Uraniae

"Astronomie ist eine der Wurzeln der Wissenschaft", liest man viel. Das gilt zumindest im Zweistromland und allen Kulturen, die mit ihm unmittelbar zusammenhängen. Im Reich der Mitte nahm jedoch die Evolution einen anderen Weg als bei uns:

Im Abendland
Die Anfänge der Wissenschaft im Abendland sind einigermaßen mysteriös und je weiter man vor der Frühen Neuzeit in die Vergangenheit schaut, desto ominöser und religiöser werden die Erkenntnisse. Im alten Ägypten findet man astronomisches Wissen – wenn überhaupt – dann nur in der Religion und auch in der griechischen Antike ist insbesondere viel Wissen über die Sternbilder in Mythologien verpackt: Sei es der Krebs, der durch seinen Rückwärtsgang die Sonnenwende markiert oder seien es die arabischen Sternnamen wie al-dabaran (Aldebaran), dem (Ver)folger der Thuraya (Plejaden).

In den Geschichtsschreibungen hiesiger Wissenschaftler wird die Entstehung der Naturwissenschaft in Europa häufig mit dem einsetzenden Wohlstand korreliert. Es erscheint nahezu folgerichtig als Reaktion auf die Sophisten, dass sich das Bedürfnis nach Erklärung der Natur allein aus menschlicher Neugier ergibt.

Alternative Basis wissenschaftlicher Neugier im Reich der Mitte

In China gab es ebenfalls bereits seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert wissenschaftliche Bestrebungen, vor allem in Mechanik. Sie können in Stil und Ausrichtung leicht mit aristotelischen Schriften verglichen werden.

Basis und Antrieb zur Verfassung des Mohistischen Kanons, der antiken chinesischen Wissensbeschreibung war keineswegs der Wunsch nach Naturverständnis, sondern der Wunsch nach einer kosmischen Politik und Weltordnung:

In einer Zeit der politischen und sozialen Umorientierung und daher großer Instabilität der Verhältnisse, verdingten sich in China Wanderphilosophen wie der berühmte K’ung-tzû (latinisiert Konfuzius) oder der ebenso einflussreiche Mo Di (auch Mo-Tzu) an den Höfen der Regierenden. Ziel war es, ein gesellschaftliches System zu entwickeln, dass quasi "von der Natur abgeschaut" ist. Die Philosophie Mo Dis basiert auf den Fundament von Menschenfreundlichkeit und Rechenschaft. Er schlug einen himmlischen Monarchen vor, der also nur vom Himmel legitimiert sein muss und nicht (demokratisch, also vom Volk oder von Weisen) gewählt wird. Dies etablierte den Glauben, dass gutes und schlechtes Handeln desselben auch nur allein durch die Natur gelobt oder getadelt werden dürfen – d.h. beispielsweise dass schwerwiegende Fehler durch Naturkatastrophen bestraft werden und daher keines weiteren menschlichen Richters bedürfen.

Als Mo sein System durchdachte und begründete, zitierten er und seine Schüler häufig Beispiele aus der Alltagsphysik heran, um die vorgeschlagenen sozialen Hierarchien und Herrschphilosophien evident erscheinen zu lassen. Die Balance einer Waage, auf deren Enden man Gewichte legt, hängt eben nicht nur davon ab, wie schwer die Gewichte sind, sondern auch, wie weit sie vom Schwerpunkt entfernt sind. So beschrieb man empirisch das Hebelgesetz, während man die Empfindlichkeit eines sozialen Gleichgewichts zeigen wollte.

Im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung spalteten sich die Mohisten in drei große Lager. Zu diesem Zeitpunkt war die gröbste politische Krise bereits überstanden und das Staatssystem hatte sich bewährt. Da keine Notwendigkeit für sie gesehen wurde, stagnierte also die chinesische Wissenschaft seither viele Jahrhunderte lang – was natürlich nicht gegen den großen technischen Fortschritt spricht.

Resümeee

Ein tieferes Verständnis der Grundlagen der Technologien scheinen die Chinesen jedoch nicht gesehen zu haben: Grundlagenforschung in unserem wissenschaftlichen Verständnis erfanden sie nicht, sondern übernahmen sie erst von den Jesuiten.

Bekanntlich waren es vor allem die wichtrigen Weichenstellungen der Griechen, denen wir unsere wissenschaftliche Neugier verdanken – dann aber auch denen der Frühen Neuzeit. Wie sonst könnten wir heute in so hohem Maße und mit derartigen Geschwindigkeiten neue Technologien entwickeln, wenn wir nicht die Funktionsweisen von Halbleitern, die chemische Struktur der Materialien im Detail verstanden hätten? … wenn wir nicht wüssten, an welche Stelle wir welche Fremdatome in einen (vielleicht speziell gezüchteten?) Kristall bringen müssen, um bestimmte Eigenschaften zu erzeugen oder welches Gen wie manipuliert werden muss…

 

Was ist eigentlich Astronomie (I.a)
Auch Astronomie ist zu erheblichem Anteil Grundlagenforschung – sei es in der Weltraumfahrt, in der Entwicklung neuer Beobachtungstechnologien oder Rechensoftware – oder einfach nur das grunsätzliche Bedürfnis zu verstehen "was die Welt im Innersten [und Äußersten] zusammenhält".

 


Literatur:
A.C. Graham: Disputers of the TAO, Philosophical Argument in Ancient China, Open Court Publ., 1989
A.C. Graham: Later Mohist Logic, Ethics and Science. Hong Kong: The Chinese University Press, 1978
Matthias Schemmel: The Section on Mechanics in the Mohist Canon, Preprint 182 MPIWG Berlin 2001

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als (Kultur)Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Die einleitenden Verse beschreiben eine Grundstruktur in ihrem Denken und Agieren: Physik ist eine Grundlagenwissenschaft, die datenbasiert und mit dem Erkenntnisapparat der Logik ein Verständnis der Natur zu erlangen bestrebt ist. Es gibt allerdings auch Fragen der Welt, die sich der Physik entziehen (z.B. wie wir Menschen auf diesem Planeten friedlich, synergetisch und benevolent zusammenleben können) - darum ist Physik nicht die einzige Liebe der Bloggerin. Sie liebt die Weisheit und hinterfragt die Welt. Das Wort "Philosophie" ist ihr aber zu groß und das populärwissenschaftliche Verständnis davon zu schwammig, als dass sie sich damit identifizieren würde: hier geht's faktenbasiert zu. Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

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