Explorative Experimente

BLOG: Uhura Uraniae

Ko(s)mische Streifzüge durch Zeit und Raum
Uhura Uraniae

Diese Woche habe ich meinen Studierenden mal wieder ein Buch empfohlen, das ich hier auch kurz vorstellen möchte, obgleich es nichts mit Astronomie zu tun hat. Aber mit Physik! Und wer an der Kulturgeschichte unserer Wissenschaft(en) interessiert ist, wird es vermutlich genauso lieben wie ich:

Friedrich Steinle: Explorative Experimente, Steiner Verlag, 2005

Das Buch "spielt" hauptsächlich im 19. Jahrhundert. Es geht um die Anfänge der physikalischen Forschungen zur Elektrizität.  Entsprechend lautet der Untertitel: Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik.

Wie jede gute Studie stellt der Autor Zusammenhänge der Lebensbedingungen der Hauptcharaktere her und der damals in vielerlei Hinsicht im Umbruch befindlichen Strukturen wissenschaftlicher Forschungen in toto. Es werden verschiedene Akademien, Gesellschaften und Institute gegründet – z.B. in Paris, die hierfür die größte Bedeutung hat, aber auch in London und in Berlin reformiert der Minister Wilhelm von Humboldt das Bildungssystem: Die von ihm propagierte Einheit von Forschung und Lehre wird unmittelbar an seiner Universität praktiziert und macht fortan weltweit Schule (bis heute!!!).

Steinles Buch konzentriert sich auf die Arbeiten in Paris und London: Etwa die Hälfte, nämlich ca 150 der ca 300 Seiten sind den Jahren 1820 und 1821 gewidmet. Hier wird der Autor der Überschrift gerecht und stellt verschiedene Experimente in Paris durch die konkurrierenden Gruppen Ampère versus Biot und Savart vor. Diese stellt er im nächsten Kapitel den Londoner Arbeiten von Faraday und Davy gegenüber. In beide Zentren – sowohl in Paris als auch in London – haben die Experimente zur Elektrizität auch eine hohe Impaktwirkung und Popularität. Sie locken auch Schaulustige an und haben – zumindest zu jener Zeit – eine große Wirkung in der Öffentlichkeit.

Gerade André-Marie Ampère versteht sich virtuos darauf, diese Öffentlichkeitswirkung für sich und seine Forschung zu nutzen. Andere tun es ihm jedoch gleich. 

Egal, wie populär diese Experimente aber sein mögen: letztlich müssen sie für ihren wissenschafltichen Wert auch reproduzierbar sein. Folglich setzt bei jedem dieser "explorativen Experimente" eine rege nationale und internationale Diskussion ein und ebenso natürlich folgt, dass aus diesem Prinzip der Reproduzierbarkeit auch mitunter Prioritätsstreitigkeiten erwachsen. So sind Menschen wohl einfach (leider!). 

Die internationale Rezeption wird von diesem Autor ebenso diskutiert wie Vorarbeiten dazu: In den beiden ersten Kapiteln umreißt Steinle den zeitgenössischen Status quo, der durch die Arbeiten von Volta, Oersted, Laplace, Poisson u.a. gegeben war. Das dritte Kapitel widmet er voll und ganz Herrn Ampère und erst Kap.4 und 5 berichten dann von den oben beschriebenen folgenschweren Jahren 1820/1. Abgerundet wird das Buch durch eine Grundsatzdiskussion des Experiments per se und seine Explorativität sowie einen stattlichen (100seitigen) Anhang von Quellenabdrucken aus den Archiven in Paris, die vor allem aus der Feder André-Marie Ampères stammen. 

Alles in allem ist das Buch m.E. sehr lesenwert: Als Physiker versteht Steinle sehr gut, wovon er spricht. Er kann die Experimente nachvollziehen und versteht die Arbeitsmethoden seiner Protagonisten. Wenn er – nach Manière der Geschichtsforschung – Originalquellen zitiert, ergänzt Steinle sehr geschickt die Sachverhalte, die aus dem Zusammenhang für heutige Leser vllt. unklar sein mögen. Daher halte ich das Buch auch für physikalische Laien sehr gut lesbar bzw. für Leute, die sich – z.B. als Schüler oder Lehrer – in die Thematik einlesen möchten. 

 


PS: In Büchern wie diesem wird m.E. klar, dass es eben doch von Vorteil ist, wenn man Physik studiert hat, bevor man sich der Geschichte dieses Faches widmet. 


PPS: Ich hoffe, dass die Diskussion um die Schwarzen Löcher in meinem vorherigen Post nicht abreißt – nur, weil ich jetzt was neues geschrieben habe: Diese Dichterechnung plagt mich schon seit mehr als zehn Jahren; doch bisher hat noch niemand mit mir darüber diskutieren wollen.

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als (Kultur)Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Die einleitenden Verse beschreiben eine Grundstruktur in ihrem Denken und Agieren: Physik ist eine Grundlagenwissenschaft, die datenbasiert und mit dem Erkenntnisapparat der Logik ein Verständnis der Natur zu erlangen bestrebt ist. Es gibt allerdings auch Fragen der Welt, die sich der Physik entziehen (z.B. wie wir Menschen auf diesem Planeten friedlich, synergetisch und benevolent zusammenleben können) - darum ist Physik nicht die einzige Liebe der Bloggerin. Sie liebt die Weisheit und hinterfragt die Welt. Das Wort "Philosophie" ist ihr aber zu groß und das populärwissenschaftliche Verständnis davon zu schwammig, als dass sie sich damit identifizieren würde: hier geht's faktenbasiert zu. Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

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