Die Mitte der Mitte
Feuerwerk wurde in China erfunden. Zumindest datiert der früheste bisher bekannte Beleg für diese knallende Kunstform in die Song-Dynastie (10. bis 13. Jh.). Das chinesische Wort dafür ist Rauchblume 煙花 / 烟花, yānhuā. Heute ist Feuerwerk in China für Privatpersonen verboten – und zwar aus den selben Gründen wie bei uns: Gesundheitsgefährdung für Mensch und Tier, Sicherheitsrisiko/ Brandgefahr und (in China vor allem) Umweltschutz. Bei Verstoß gibt es hohe Strafen und diese können in Großstädten durch omnipräsente Überwachungskameras auch leicht umgesetzt werden. An Tagen, wo früher traditionell private Feuerwerke stattgefunden hätten, werden auch Dörfer verstärkt mit Drohnen überwacht. Kontrolliertes Feuerwerk durch Profis und zu bestimmten öffentlichen Events gibt es natürlich – wie bei uns auch, aber die private Knallerei, die dafür sorgt, dass man am Neujahrstag in Innenstädten nicht mehr gut atmen kann wegen der ganzen giftigen Abgase und Rauchwolken, wird in China ziemlich konsequent bekämpft. Was die Luftqualität angeht, weiß China um seinen Nachholbedarf (siehe frühere Posts hier: China) und ist sehr für Verbesserung engagiert.
Klare Luft
Ganz wunderbare, klare Luft erlebte ich allerdings in Dengfeng: Der Mitte des Reichs der Mitte. Es fühlte sich an, als wenn man in Mitteleuropa in die Hochalpen fährt (wobei in Österreich Silvesterfeuerwerk ebenfalls aus Gründen des Umweltschutzes verboten ist, sich allerdings nur die österreichischen Einwohner der Almdörfer daran halten und nicht die tausendmal so zahlreichen niederländischen Touristen): man spürt, die Luft ist “dünner”, kälter und sauberer.
Dengfeng
Berühmt ist die Stadt für den Shaolin-Tempel, dessen Mönche die weltweit größten Meister des Kung Fu sind. “kung fu” bedeutet sowas wie “durch harte Arbeit” und diese Shaolin-Kampftechnik gehört zum immateriellen UNESCO-Welterbe. Das Shaolin-Kloster in Dengfeng, das aus dem 5. Jahrhundert stammt, ist daher eine Art Pilgerort für Kung Fu-Schulen und -Schüler aus aller Welt. Gedenksteine stehen dort von Spendern aus der Schweiz, den USA, aus Deutschland und zahlreichen anderen Orten der Erde.
Es wird Sie in diesem Astronomie-Blog aber nicht überraschen, dass mich aber ein anderes Highlight in die Stadt des Kung Fu führte: nicht nur Kampfkunst erwirbt man durch harte Arbeit (kung fu), sondern auch vertieftes Verständnis der Welt, astronomisches und anderes naturkundliches Wissen.
Nabel der Welt
Etwas südöstlich des berühmten Shaolin-Tempels befindet sich das alte Gaocheng-Observatorium. Berühmt ist es heute für ein monumentales Sonnenobservatorium aus dem 13. Jahrhundert, als China durch mongolische Kaiser regiert wurde, aber der Standort war bereits viele Jahrhunderte früher eingerichtet worden: bereits um 1100 v.Chr. = der Zeit, als in unserem Kulturkreis die Himmelsscheibe von Nebra schon seit 500 Jahren verbuddelt war und man im Alten Mesopotamien gerade das erste (bekannte) astronomische Kompendium der Welt zusammenstellte, soll hier im Alten China ein Kaiser der “Western Zhou”-Dynastie eine Sternwarte gegründet haben.
Ein ortsansässiger Mittelschullehrer gilt als der versierteste Experte für die historischen Sonnenuhren an diesem Standort und daher führt er uns durch die Anlage. Er hat über die Jahre zahlreiche Nachmittag und schulfreie Tage mit dem Studium dieser historischen Instrumente zugebracht, kann sie nicht nur in allen Details erklären, sondern auch vorführen, wie man damit messen kann. Darum haben wir extra einen sonnigen Tag ausgesucht, um eine solche historische Messung durchzuführen.
Der Gnomon dieses Instruments ist zehn Meter hoch und es gibt oben zwei Messhütten, die für gewöhnliche Besucher gesperrt sind. Die Stange zwischen den beiden Hütten wirft einen Schatten auf eine kleine lange Mauer und man kann anhand der Veränderung der Schattenlänge die Jahreszeiten bestimmen und vieles mehr. Das haben alle alten Kulturen getan – die chinesische ebenso wie die griechische, die ägyptische, die mesopotamischen (die unseren Kulturkreis prägten), die Kultur des Schmieds der Himmelsscheibe von Nebra oder jegliche amerikanische, afrikanische oder australische Kultur: dieses Grundwissen ist überall auf der Welt nützlich – aber selten so imposant in Stein gebaut wie hier.
Sonnenuhren
Die Vielseitigkeit von Sonnenuhren wurde allerdings, wie gesagt, bereits viel früher erkannt und nicht erst vor tausend Jahren. Auch in vorsokratischer griechischer Zeit (ab ca. 500 v.Chr.) gibt es ganze Bücher, die über die Nützlichkeit von Sonnenuhren geschrieben wurden. Nicht nur kann man mit ihnen die Uhrzeit ablesen, sondern man kann das genau dann, wenn man die Jahreszeit kennt und diese kann man also auch mit der Sonnenuhr bestimmen: Der Schatten ist im Sommer ja kürzer als im Winter. Zudem kann man mit einer präzisen Sonnenuhr die Jahreslänge bestimmen. Das wurde in der Yuan-Dynastie auch gemacht und da bei solchen nichtdigitalen (analogen) Instrumenten die Genauigkeit immer größer wird, je größer die Skala ist (und je feiner man sie folglich einteilen kann), hat dieses riesige Instrument von 10 m Höhe auch eine Genauigkeit der Messung der Jahreslänge ermöglicht, der in Europa erst ein halbes Jahrtausend später zur Zeit der Gregorianischen Kalenderreform möglich war.
Da chinesische Kaiser auch stets an der Ortsbestimmung in ihren immensen Territorien interessiert waren, haben sie Sonnenuhren (oder Gnomone) auch zur Vermessung der Position auf der Erde genutzt. Der Zenitwinkel der Sonne zu den Tag- und Nachtgleichen entspricht genau der geographischen Breite.
Im 7. Jahrhundert (Tang-Dynastie) kamen chinesischen Astronomen, die bereits wussten, dass die Erde eine Kugel ist, auf die Idee mit Sonnenuhren zu vermessen, ob die Gestalt unseres Planeten wirklich exakt kugelförmig ist oder vllt. ein wenig abgeplattet. Auch zu diesem Zweck wurde in Gaocheng ein Gnomon aufgestellt. Man verteilte mehrere Gnomone im chinesischen Kaiserreich relativ genau auf einer Nord-Süd-Linie (so gut man dies damals bestimmen konnte) und maß den Unterschied in den Schattenlängen.
Nabel der Welt
Dengfeng hielt man damals für die “Mitte” des “Reichs der Mitte”, also den Mittelpunkt der Welt und stellte also Gnomone nördlich und südliche davon auf (bis ins heutige Vietnam). Ein akademischer Eklat war, als ein indischer Astronom behauptete, dass Dengfeng (trotz des bereits bestehenden berühmten Shaolin-Heiligtums) nicht der Nabel der Welt sein könne, weil der Ort astronomisch auf keinste Weise ausgezeichnet sei. Er führte das Argument an, dass am Nabel der Welt der Mittagsschatten irgendwann verschwinden müsse. Das geschieht aber nur an den Wendekreisen (und zwischen ihnen), also auf ca. 23.5° nördlicher Breite. Dengfeng liegt auf 34.5° n.B. und mithin gibt es auch zur Sommersonnenwende kleine Schatten an allen Sonnenuhren. Die einsichtigen Chinesen gaben daher nach (Streit und Besserwisserei ist dieser Kultur fremd; gute Argumente werden stets wertgeschätzt).
Im Alten Griechenland dachte man, dass Delphi der Nabel der Welt sei – allerdings gibt es dafür ebenfalls keine astronomischen Gründe (Delphi liegt sogar auf 38°n.B.). Dort war der Ursprung der Idee eine mythologische Vorstellung, die mit der Idee verbunden war, dass dieser Ort hellseherische Eigenschaften habe und auf seine Priesterinnen übertrage – die Pythia-Orakel. Diese Idee ist an unserem Himmel zweimal verstirnt: einmal im Sternbild Hydra (die griechische Wasserschlange, die eine direkte babylonische Übernahme ist: der Musch-Drache, eine geflügelte Schlange) und im Sternbild Draco, Drache, eine Schlange, die sich um den (äquatorialen und den ekliptikalen) Nordpol des Himmels windet wie um den “Nabel der Welt”. So genannte Nabelsteine (Omphaloi = ovale Steine mit Schlangenornament) waren deshalb im antiken Delphi beliebte Souvenirs.
Beide Sternkarten: Stellarium (dort kann man die “Himmelskultur” umschalten von “modern” zu “Almagest” oder “babylonisch (MUL.APIN)”).
Neujahrs-Orakel in den Sternen?
Sie könnten in diesem Sinne ja zum bevorstehenden Neujahrsfest einmal die in Delphi beerdigte Python-Schlange (oder sein himmlisches Gegenstück, das immer sichtbare Sternbild Drache) für das Orakel zum nächsten Jahr befragen: ist vllt. einmal eine wilkommene Abwechslung zur üblichen Astrologie.