Beruf Wissenschaft und der EuGH

Am 14 Mai hat der EuGH entschieden, dass europaweit alle Arbeitsstunden erfasst werden müssen. Meines Erachtens ist das wieder ein typischer Fall von “gut gemeint”, der nichts mit der Realität der Lebenswelt zu tun hat.

Klar, für viele Berufe geht das. Eine Steuerfachangestellte, die im Büro Überstunden schiebt, weil ein Klient mal wieder zu spät die Unterlagen für die Steuer liefert und das Finanzamt schon mit einer Schätzung auf der Matte steht, muss einen Überstundenausgleich erhalten. Dass niemand sich rausreden oder die Überstunden wegdiskutieren kann, versteht sich von selbst. Wenn diese Person stets zwischen 10 und 18 Uhr im Büro ist und an diesen paar Tagen mit Überstunden dann eben bis 20 Uhr da ist, fällt das auf und ist klar, dass es an n Tagen 2 Überstunden, also 2n Stunden zu viel sind. Überstunden-Erfassung ist schon seit langem Pflicht.

ABER es gibt zahlreiche Berufe, bei denen das gar nicht so leicht geht. Kollege Wicht hatte hier kürzlich von der “Arbeitszeit als Privileg” gesprochen. Weitere Beispiele: Ein Landwirt z.B., der seine Tiere versorgt und abends (sagen wir, um 18:30 Uhr) feststellt, dass eines seiner Pferde krank ist, kann nicht einfach sagen “wir haben Feierabend, den Tierarzt rufen wir morgen um 10 Uhr”.
(Mit Menschen wäre das natürlich genauso, aber Krankenschwestern arbeiten daher ja in 3 Schichten, um alle Uhrzeiten abzudecken.) Auf dem Land / in Dörfern ist es keine Seltenheit, dass der Tag mit Fütterung der Tiere vor Sonnenaufgang beginnt und dann eben entsprechend spät endet. Ähnlich geht es bei Betreiben einer Pension oder Ferienwohnung, wo vorzugsweise Familien Urlaub machen, weil es eben Familienbetriebe sind. Man wird dieses Verhalten dieser privatwirtschaftlichen Gefüge kaum verändern und hier eine Stechuhr einführen können: Wie soll man es denn auch erfassen, wenn eine imaginäre Ferienwohnungsbetreiberin die Waschmaschine anschmeißt: darf sie ihre eigenen Handtücher dann nicht mit denen der Gäste zusammen waschen oder muss sie, wenn sie für Gäste kocht, andere Handtücher verwenden als wenn sie für ihre eigene Familie kocht? Natürlich gibt es hierfür bereits Regeln, aber das Beispiel soll aufzeigen, dass die Grenzen zwischen privatem Arbeiten und geschäftlichem Arbeiten mitunter fließend sind.

Ebenso gravierend ist das in der Wissenschaft. Ich persönlich bin Wissenschaftlerin (Astronomin) mit Leib und Seele – es gibt mir Erfüllung und Bereicherung, ist meine Passion und mein Beruf. Aber:

  1. Wissenschaft ist ein Kreativberuf: Man braucht ständig neue Ideen, um die aktuelle Forschungsfrage zu bearbeiten und um eigene Projekte anzustoßen und mithin die Welt um einige Erkenntnisse zu bereichern. Man kann nicht kreativ sein von Mo-Fr von 10 bis 18 Uhr.
    Kreativ ist man, wenn man kreativ ist – das kann auch samstags um 13 uhr sein oder mittwochs um 7:30 Uhr und nächste Woche sehr wahrscheinlich zu anderen Uhrzeiten.
  2. Die Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft sind prekär. Meistens hat man nur kurzfristige Verträge, d.h. Beschäftigungsdauern von (max.!) 3-5 Jahren an einem Ort.(*) Wenn man Glück hat, könnte man dies mal irgendwo verlängern, aber spätestens nach 12 Jahren geht das nicht mehr: https://www.academics.de/ratgeber/wisszeitvg-wissenschaftszeitvertragsgesetz Wer in der Wissenschaft arbeitet – auch die Graduierten (Doktoranden, PostDoktoranden, WiMi aller Art…) – arbeitet also im Wesentlichen für sich selbst: für die bald anstehende nächste Bewerbung, anlässlich der man ein paar weitere Paper (Fachartikel) vorweisen möchte und muss. Man könnte sagen, dass man auch als fertig ausgebildeter und nach Humboldtschem Bildungsideal weiter gebildeter Wissenschaftler/in, z.B. mit zwei Diplomen und zwei Doktortiteln, aber eben noch keiner unbefristeten Professur(**)… wie Studierende nach guten Referenzen für einen künftigen Job jagt und mithin – wie es zwei Kollegen mal formulierten – “sich mit Mitte30 noch in der Ausbildung befindet” und “self-exploiting” startet. Man arbeitet dann also 6 Tage pro Woche statt 5, davon ~2 Tage ist man mit Lehre beschäftigt, ~2 Tage macht man Dinge für den Chef (Verwaltung, ggf. Öffentlichkeitsarbeit, Kolloquien besuchen, dessen Masteranden betreuen etc.: ich kenne sogar Kollegen, die ihre BA-/MA-Arbeitbetreuung grundsätzlich in der Freizeit machen, weil es in der Arbeitszeit kaum angerechnet wird: je nach Bundesland manchmal gar nicht & manchmal mit 0.2 SWS), ein Drittel der Arbeitszeit (~2 Werktage) darf man der eigenen Weiterqualifikation widmen (=Neues lernen, Altes zusammenschreiben, Künftiges vorbereiten=Projektanträge schreiben).

(*) Mein persönlicher Schnitt ist 1.5 Jahre pro Wohnung, bisher leider höchstens 3 Jahre beim selben Arbeitgeber (wegen Projektarbeit, jew. Finanzierungsende). Wenn man die Stadt wechselt, findet man meist nicht sofort die perfekte Wohnung, sondern nimmt erstmal “irgendwas”, weil Job wichtiger ist und nach einer Weile sucht man sich eine passendere Wohnung, die einem wirklich gefällt. Darum sind es meist zwei Wohnungen pro Arbeitsstelle.
Ziel: Spätestens wenn ich das halbe Jahrhundert erreiche, möchte ich eine unbefristet Stelle als Wissenschaftlerin haben – idealerweise eine Professur (der Lehranteils dabei macht die Forschung interessanter), aber bis dahin muss ich wohl weiter von einem 3-5 Jahre-Vertrag zum nächsten.
(**) Es gibt unterhalb der Professur (so gut wie) keine unbefristeten Stellen, d.h. Professuren werden (oft) entfristet, aber es gibt auch befristete Professuren (z.B. Juniorprofessuren, Stiftungsprofessuren oder solche aus der Exzellenzinitative angestoßenen…).

Open Pedition 2019 für mehr unbefristete Stellen in der Wissenschaft!

Freiberufler und Selbständige müssen Aufträge dann erledigen, wenn sie reinkommen und das kann – je nach Branche – bedeuten, dass mal eine größere, mal eine kleinere Workload da ist. Ich selbst bin z.B. (wie viele Wissenschaftler) neben der Arbeit auch in freiberuflicher Nebentätigkeit tätig: z.B. schreibe ich offensichtlich (unbezahlt) für einen großen, internationalen Verlag als Sci-Bloggerin, aber es gibt auch andere “Hobbys”, die hin und wieder ein paar Euronen abwerfen (z.B. öffentliche Vorträge, Lektorat oder so). Ich könnte nicht allein davon leben, aber nachdem ich bisher leider stets auf befristeten Arbeitsverträgen unterwegs bin, nehme ich gern jeden zusätzlichen Euro, den ich mir verdienen kann: ich will nicht ins soziale Netz fallen und nicht immer geht der Übergang von einem Job zum nächsten nahtlos (vorprogrammiert). Manchmal hat man zwei halbe Stellen gleichzeitig (eine endende u eine beginnende), manchmal muss man ein paar Monate von einer zur nächsten warten: Das möchte man ja dann überbrücken können. Wenn ich also freiberuflich arbeite, dann mache ich das – logischerweise – nicht in meiner Arbeitszeit an der Uni (Lieblingsjob!), d.h. jenseits der 40Std-Woche und oftmals zuhause… schwuppdiwupp, keine Erfassung. Wer kein sonstiges Privatleben hat, wird das wohl dürfen… (darf man auch!) und zwar genau dann, wenn ein Auftrag da ist. Wir sehen: Flächendeckende, vollständige Erfassung aller Arbeitszeiten ist hier weder sinnvoll noch technisch überhaupt möglich: so funktioniere ich einfach nicht.
(hab’s in der Tat mehrfach vergeblich ausprobiert, z.B. Std für Ehrenämter zu notieren… andere mögen das können, ich krieg’s nicht hin … vllt gibt’s ja dafür irgendwann eine Art “Apple Watch” oder “elektronische Fußfessel”, die das erfasst, aber für mich bedeutet so eine Erfassung/ Schreiben von Stundenzetteln nur noch weitere und zwar lästige Arbeit).

Aufgrund der oben genannten zwei wichtigen Punkte plus der Tatsache, dass bei Kreativarbeiten (Wissenschaft) man mitunter “in etwas drin ist” und “einfach nicht aufhören kann” (also ein gesetzter Feierabend um 18 Uhr Gift für den Workflow / die Fertigstellung wäre), ist eine Arbeitszeiterfassung in der Wissenschaft nicht sinnvoll.

Ich erwarte sicher nicht von anderen, dass sie viel arbeiten oder die 40 Stdwoche regelmäßig überziehen: Im Gegenteil, da ich weiß, dass mein eigener Lebensstil ungesund und nicht zum Nachmachen geeignet ist, achte ich ggf. bei meinen Mitarbeitern und (jedenfalls) Studierenden typischerweise darauf, dass sie das nicht so machen (sollen) wie ich! Ich wünsche wirklich, dass man auch Wissenschaftler/in in einer 40 Stunden-Woche sein kann und ich wünsche allen Eltern (und ihren Kindern), dass sie neben dem Beruf auch Zeit für ihre Familie haben.
ABER frei nach Friedrich dem Großen “chacun à son façon” möchte ich nicht – z.B. durch Stechuhr oder Vergleichbares – daran gehindert werden, meinen “ora et labora“-Lebensstil (außerhalb von Klostermauern) weiter zu verfolgen.

Eine “Stechuhr für alle“, d.h. systematische Arbeitszeiterfassung unabhängig von Branche und Beruf wie sie der EuGH beschlossen hat, halte ich für keine gute Idee!

Ich möchte mich also zu 200 % dem Blogger-Kollegen, Helmut Wicht, anschließen, dass meine Arbeit(szeit) ein Privileg ist! Ich genieße sie, ich will sie nicht anders (ein bisschen weniger Zwietracht, Missgunst und Eitelkeit unter den Kollegen, aber sonst bin ich nicht bloß zufrieden, sondern wahrhaft glücklich mit diesem Job), jedenfalls nicht hinsichtlich der Arbeitszeit (sondern nur hinsichtlich der zahlreichen Ichlinge an Unis).

Sinnvoll hingegen ist das Urteil des EuGH vom 6.11.2018, dass Urlaubsansprüche nicht mehr automatisch verfallen. Das gibt einem nämlich die Chance, bei den häufigen Jobwechseln, den Urlaub ggf. für Umzüge (zum nächsten Job) zu nutzen oder am Ende der Vertragslaufzeit. Schließlich ist ein Umzug sicher kein Urlaub und wenn man einen neuen Job anfängt, hat man erstmal Urlaubssperre. Hat man erfolgreich einen nächsten Job gefunden (also gerade kein Paper/ Poster in Mache) und vor dem Umzugsstress (für den man Urlaubstage braucht) oder danach nochmal die Möglichkeit für einen Erholungsurlaub, dann hat man etwas gewonnen. Da zudem auch Auszahlung des geldwerten Resturlaubs möglich ist, kann man auch als passionierter Kreativberufler-Workaholic von dieser EuGH Regelung profitieren.

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

3 Kommentare

  1. Klarer Widerspruch.

    Sicher, in der Wissenschaft arbeiten wir irgendwie auch für uns selbst, aber das ist doch eigentlich nichts weiter als Selbstbetrug. Sehe es mal als Ausbeutung mit der Existenzangst als Druckmittel. Auch Wissenschaftler können sich viel freier entfalten, wenn sie den Kopf für die Forschung frei haben und nicht immer im Hintergrund die Frage lauert, auf welchem Kontinent der nächste Arbeitsplatz wartet, oder ob es nächstes Jahr vielleicht mal nicht reicht, um die Stromrechnung zu bezahlen.
    Hinzu kommt noch die Sache mit dem verloren gehenden Wissen. Wenn die Leute ständig weiterziehen, möchte ich nicht wissen, wie viele Erkenntnisse über Jahre den Spindelmotor einer Festplatte irgendwo im Institut umkreisen, und darauf warten, dass besagtes Laufwerk irgendwann in die Sekundärmetallurgie wandert. Der Wissenschaftler, der das alles beobachtet und gemessen hat, ist dann schon drei Jobs weiter und irgendwer anders erforscht das Thema dann von neuem. Wieder mit Steuergeldern.

    Ich selbst bin vor 8 Jahren in die Industrie gewechselt und liebe die Piepsuhr immer noch. Sie schafft einfach Gerechtigkeit. Würde der Uniwelt auch gut tun.

  2. Ja, ich schrieb doch: “Ich wünsche wirklich, dass man auch Wissenschaftler/in in einer 40 Stunden-Woche sein kann” und dass ich es bei (meinen) ggf. Mitarbeitern (generisches Maskulinum) und bei Studierenden darauf achte. Ich sage nur, dass ich keine Realisierungs-Chance sehe: ein Workaholic findet einen Weg … und unter dem Druck von Existenzangst mit Liebe zum Job wird man (wenn man’s nicht schon vorher ist) zum Workaholic.

  3. Ich habe mich von der Stempel-Pflicht erst entbinden lassen, als der Betriebsrat darüber meckerte, dass ich so lange arbeiten würde. Ich habe habe nämlich mein Hobby, das Programmieren, in der Firma betrieben.
    Das ich nicht vorher das Privileg der Vertrauensarbeitszeit in Anspruch genommen habe, liegt daran, dass ich Fälle kannte, wo das Gerede “Der geht doch immer eine Viertelstunde zu früh” als Aufhänger für eine Kündigung benutzt wurde. Ohne Stempeluhr hat man keinen Nachweis.

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