Babylonische Astronomie an Kulturastronomie angeschlossen

selten berichte ich hier über eigene Forschungsergebnisse, aber dies ist ein Befund, der gerade gut zum Zeitgeist passt: es geht um den Nordhimmel der Babylonier. Darum mache ich hier einmal eine Notiz zu einem Fachartikel von mir, der vor ein paar Stunden erschienen ist.

Einleitung

Die populärwissenschaftliche (Fehl)Vorstellung von der historischen Entwicklung der Astronomie geht ja meist etwa so: Es war einmal eine Gesellschaft von Steinzeitmenschen, die wollten ihre Höhlen bemalen und ließen sich dafür von Mustern inspirieren, die sie mit Gestaltsehen am Himmel zu erkennen glaubten. Später kamen die “alten Griechen” (und die jungen Griechen, nach dem Kriechen werden sie Kinder und manche erwachsen) und weil sie noch keine Fernseher hatten, erzählten sich die alten (weißen) Männer Geschichten am Lagerfeuer und projizierten deren Hauptfiguren in die Sterne. Diese Geschichten seien bis heute überliefert und werden in Planetarien rezitiert. 

In den vergangenen ca. 100 Jahren haben aber Forschungen in Ethnologie, Anthropologie, Archäologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften ergeben, dass in vielen (bestimmt sogar allen) indigenen Kulturen die Sternbilder andere und zwar lebenspraktische, alltagsrelevante, naturkundliche Funktionen haben (siehe (1)). Bei den australischen Aboriginals wurden Sternketten wie eine Art geographische Kartenprojektion an den Himmel eingesetzt und die Wolken der südlichen Milchstraße je nach Jahreszeit und ihrer Lage zum Horizont als unterschiedliche Tiere aufgefasst, die die Regen- oder Trockenzeit kennzeichnen. Bei den zentralamerikanischen Incas wurden die Dunkelwolken in der Milchstraße als eine Prozession von Tieren verstanden, die zur jeweiligen Jahreszeit gerade charakteristisches Verhalten aufweisen (z.B. Füchse oder Llamas, die gerade Jungtiere zur Welt bringen oder Kröten, die in der Regenzeit auftreten…). Dies sind nur die zwei berühmtesten Beispiele, aber dasselbe gilt auch für zahlreiche andere Kulturen. 

Nachdem dies seit langem bekannt ist, stellt sich zunehmend die Frage, warum die greco-babylonische Astronomie sich rein aus der Phantasie von “Alten am Lagerfeuer” entwickelt haben sollte. 

Neuer Befund: babylonische Sternbilder waren auch alltagsrelevant & naturreligionsverbunden

Das älteste Kompendium der Astronomie, das der Menschheit bisher bekannt ist, ist das babylonische MUL.APIN. Wir wissen nicht genau, wann es kompiliert wurde, aber sicher vor 1000 v.Chr. und die einzelnen Teile des Kompendiums mögen durchaus älter sein als die Komposition. Es besteht aus zwei Sinneinheiten (meist, aber nicht immer auf zwei Tontafeln geschrieben), von denen die erste aus sechs, die zweite aus acht Listen besteht. Es handelt sich hierbei nicht um direkte Beobachtungsprotokolle, sondern um bereits nachbearbeitete (prozessierte) Daten – z.B. Daten von heliakischen Auf- und Untergängen von Sternbildern in einem idealen Kalender, Sternbildern, die vom Mond bedeckt werden können etc. Solche Listen macht man nicht durch einmaliges Hingucken, sondern durch Beobachtungen über einen längeren Zeitraum. Diese Daten sind in den vergangenen Jahrzehnten schon umfangreich ausgewertet worden.

Die erste Liste von MUL.APIN enthält aber keine Zahlen und stellt daher für (mathematische) Astronomen eine Herausforderung dar. Wir können damit nicht rechnen und daher auch nicht viel anfangen. Daher ist die Liste bisher nicht groß beachtet worden: sie hat einfach alle überfordert, sowohl die Philologen, die keine Astronomen sind als auch die Astronomen, die keine Philologen sind.  

Während meiner Doktorarbeit in Wissenschaftsgeschichte hatte ich mir Grundkenntnisse mehrerer alter Sprachen angeeignet: Latein hatte ich bereits fürs Diplom nachweisen müssen, aber in der Doktorarbeit brauchte ich überwiegend Altgriechisch und die Keilschriftsprache Akkadisch (und Spurenanteile des älteren Sumerisch). In keiner dieser Sprachen bin ich so gut wie jemand, der ausschließlich alte Sprachen studierte (also Altphilologen), aber ich habe durchaus ein tieferes Grundverständnis dieser Sprachen, so dass ich die Unsicherheiten in Transliterationen und Übersetzungen kenne und ggf. Änderungen vorschlagen kann. Schon allein aus Respekt vor den anderen Fächern wage ich nicht ohne Konsultation von Altphilologen, deren Arbeiten zu überarbeiten – aber ich arbeite sehr gern eng mit ihnen zusammen, weil das typischerweise beide Fächer (die Altphilologie und die Astronomie(geschichte)) beflügelt. 

Mit einem der führenden Experten für babylonische Göttheiten habe ich 2018/19 sehr eng zusammengearbeitet, um endlich den Geheimnissen der ersten Liste von MUL.APIN auf die Schliche zu kommen. Ich hatte das Gefühl, dass hinter diesen Zuordnungen von Sternbildern zu Gottheiten mehr stecken muss als nur Geschichten von alten Männern am Lagerfeuer. … nun stellt sich heraus, dass diese Intuition richtig war. 

Befund von 2018 

Leider tun sich viele Geisteswissenschaftler:innen im Einhalten von Terminen (Deadlines) schwer, was dazu führt, dass dieser Befund, den wir 2018 auf der weltgrößten Fachtagung vorstellten, erst 2023 veröffentlicht wurde (2): Eine gewisse Zeile des Textes, die bisher als nicht ins Schema passende Nennung von zwei Sternbildern gelesen worden war, identifizierten wir als eine Art “Überschrift”. 

Babylonische Texte haben meistens keine Überschriften, sondern eher “Unterschriften” wie wir sie heute unter Bildern finden: zuerst kommt in einer Zeitschrift das Bild und unterm Bild steht dann, was es zeigt und wo es herkommt. Diese Art von “Text-Unterschrift” fanden wir auch hier, so dass eine bis dato rätselhafte, unverstandene Zeile im Text nun kein Sternbild mehr war, sondern eine Zusammenfassung des darüber aufgelisteten. Bisher hatte sich alle Interpreten (Philologen wie Astronomen) damit schwer getan, diese Zeile zu verstehen, weil ein adäquates Sternbild in der entsprechenden Himmelsgegend einfach nicht aufzutreiben war und die verschiedenen Listen überhaupt auch auf verschiedenen Himmelsgegenden hindeuteten. Wenn man die Zeile nun also als “Überschrift” ließt, hat man das Problem nicht mehr.

Der Begriff der “Stehenden Götter des Ekur-Tempels” wird damit Gruppenbezeichnung für all diejenigen Sternbilder, die zuvor genannt wurden und die man längst identifizieren kann. 

Astronomisch werden mit den neuen Textunterschriften die immer sichtbaren zirkumpolaren Sternbilder von den auf- und untergehenden nördlichen Sternbildern getrennt. 

Befund von 2023 

Als ich dies letztes Jahr auf einer Tagung in Tel Aviv vortrug, hatte ein Kollege aus Jerusalem sofort eine neue Assoziation (3): Wenn es hier eine Gruppe von Sternbildern gibt, die den Göttern des Ekur-Tempels (des höchsten Tempels) zugeordnet sind und die sich unmittelbar um die Sitzenden Götter des Ekur-Tempels herum gruppieren, dann haben wir hier eine Art “himmlische Prozession”: die stehenden Götter kreisen quasi um die sitzenden Götter. 

Religiös kann man das Vorüberziehen und gelegentliche Verschwinden der Stehenden Götter (wenn sie abwechselnd im Zenit stehen oder untergegangen-unsichtbar sind) also als “hineingehen ins” und “heraustreten aus dem” Heiligtum verstehen. Demnach würden die Stehenden Götter den Sitzenden Göttern im höchsten Heiligtum z.B. Opfer darreichen oder Geschenke überbringen. Derlei Szenen sind in der mesopotamischen Kunst zahlreich erhalten. Die berühmteste Darstellung ist vermutlich die “Präsentationsszene” des Königs Hammurapi vor dem Sonnen-und-Justizgott Schamasch auf dem alten Gesetzestext, dem Codex Hammurapi

Neu 2024

Ich habe nun diese zwei Gedanken kombiniert und ihre astronomische Neudeutung in einem peer-reviewten Fach-Journal publiziert: Liest man den Text der Liste nicht nur schematisch, sondern auch inhaltlich, ergeben sich Gruppen von Sternbildern. Das hatten wir bereits 2018 herausgestellt: Das Sternbild des Großen Wagens (ja, ist in dieser Kultur ein Sternbild!) hat zwei “Sub-Sternbilder” bei sich, die Asterismen “Mutterschaf”, das den Wagen zieht und “Fuchs”, der das Schaf jagt. Man kann also die Sternbilderlisten von MUL.APIN nicht nur als einfache Liste schreiben, sondern würde das heutzutage eher in abgesetzten Sublisten ausdrücken: 

nicht einfach (wie damals)  sondern (heute)
  • Wagen
  • Mutterschaf
  • Fuchs
  • Wagen
    • Mutterschaf
    • Fuchs

Das ist ein bisschen wie Äquivalenzumformungen in der Mathematik: man schreibt etwas anders auf und plötzlich sieht man die Lösung: So ergeben sich nämlich sehr schematisch (einfach, weil’s schon immer da steht, aber nicht gesehen wurde) “Super-Sternbilder”, also Sternbildchen-Verbünde, wie wir sie heutzutage z.B. bei “Schlangenträger und Schlange” haben: nach IAU-Nomenklatur zwei verschiedene Sternbilder, aber als Bild am Himmel eben eine Einheit. 

Die Supersternbilder, die um den zirkumpolaren Bereich des Ekur-Tempels prozessieren (zwölf an der Zahl!), stellen demnach eine Art himmlischen Kalender des zweiten Jahrtausends v.Chr. dar: die Figuren, die hier abgebildet sind, nehmen Bezug auf die Jahreszeiten (wie z.B. der Sturmdämon für den November/ Dezember – bei uns im Norden schlösse das die Raunächte ein – oder die Figuren von Dattelpalme und Ackerfurche für die Erntezeit im August/September bzw. die Figur des Pfluges für die Zeit im Februar, wenn man die erste Aussaat vorbereitet).   

Einführungsvorlesung über antike Bezugssysteme

Referenzen

  1. Gullberg et al. (2020) PDF
  2. Hoffmann und Krebernik (2023) PDF
  3. Hoffmann und Horowitz (2023) in den Nouvelles Brèves (no. 73)
  4. Hoffmann (2024) PDF

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Veröffentlicht von

"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als (Kultur)Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Studienbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, jobbedingt 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017+2024 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten 2022), Jerusalem+Tel Aviv (Israel 2023), Hefei (China 2024)... . Die einleitenden Verse beschreiben eine Grundstruktur in ihrem Denken und Agieren: Physik ist eine Grundlagenwissenschaft, die datenbasiert und mit dem Erkenntnisapparat der Logik ein Verständnis der Natur zu erlangen bestrebt ist. Es gibt allerdings auch Fragen der Welt, die sich der Physik entziehen (z.B. wie wir Menschen auf diesem Planeten friedlich, synergetisch und benevolent zusammenleben können) - darum ist Physik nicht die einzige Liebe der Bloggerin. Sie liebt die Weisheit und hinterfragt die Welt. Das Wort "Philosophie" ist ihr aber zu groß und das populärwissenschaftliche Verständnis davon zu schwammig, als dass sie sich damit identifizieren würde: hier geht's faktenbasiert zu. Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

6 Kommentare

  1. die Asterismen “Mutterschaf”, das den Wagen zieht

    Ich habe noch nie von Schafen als Zugtieren gehört.
    Ziegen (auch in der Mythologie) und Hunde (nicht nur vor Schlitten), Rinder/Ochsen, Pferde, Esel, Maulesel/-tiere, Kamele, Rene, Trampeltiere, Wasserbüffel und Yaks. Fürst Pückler hat sich wohl mit Hirschen versucht.
    Gibt es Nachweise der Zugschafe im Alltag?
    In der Wissenschaft findet man Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulbuchweisheit nichts träumen ließ.

    • Das Verb “ziehen” steht nicht im Text; es ist eine Metapher von mir, weil das Schaf vorangeht. Es steht eben da, dass das Schaf am vorderen Teil des Wagens ist und zu ihm gehört. “Vorne” ist der Teil, der im Tagesgang voraus geht. Die einzige mir bekannte Abbildung zeigt das Schaf neben dem Wagen.

  2. Nur zum besseren Nachvollziehen, im Prinzip steht da zeilenweise

    Großer Wagen
    Großer Wagen
    Fuchs
    Großer Wagen Mutterschaf

    Das der “Große Wagen” vor dem Fuchs als Hilfe diente, den Fuchs zu identifizieren, wird schon lange vermutet.
    Ähnlich ist wohl auch bei dem Mutterschaf, nur das der “Große Wagen” da in derselben Zeile steht. Da kann einen Unterschied bedeuten, muß aber nicht.

    So kann man das plausibel auch als

    Großer Wagen
    – Fuchs
    – Mutterschaf

    lesen.

    Verben enthält der Text keine, nur die Markierung mul für “Sterne”.
    Wobei das auch Planeten markierte.

    • Wie in meinem Artikel wörtlich wiedergegeben, lauten die fraglichen Zeilen:

      I i 15 DIŠ Der Wagen, Ninlil
      I i 16 DIŠ das Gestirn, das an der Wagendeichsel steht:
      I i 17 DIŠ der Fuchs, Erra, der starke unter den Göttern,
      I i 18 DIŠ das Gestirn, das am vorderen Teil des Wagens steht: das Mutterschaf, Aja.

      Hinweise zur Interpretation (von mir):

      (a) Ninlil ist eine Göttin
      (b) die Deichsel ist am Wagen hinten!
      (c) Erra ist ein Gott
      (d) Aja ist eine Göttin

    • Die Ekliptik hat hiermit sicher gar nichts zu tun; sie war noch nicht bekannt. Lediglich der Streifen, um sie herum, in dem der Mond Sterne bedecken kann, wird thematisiert – aber nicht in dem Textabschnitt, den ich hier diskutierte.

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