Wie Kinder durch Lieder schneller Sprache lernen

Singen macht Kindern nicht nur Spaß. Es fördert auch ihre Sprache. ForscherInnen wollten herausfinden, woran das liegt – und erkannten: Es ist vor allem die Melodie der Stücke, die den Kleinen beim Wörterlernen hilft.

von Katharina Menn

„Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du schon?“ – so schallte es zuletzt durch das Kindersprachlabor bei uns am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Die einjährige Lilly klatschte und sang mit ihrem Vater zusammen das bekannte Kinderlied, beiden hatten offensichtlich Spaß dabei. Für viele Eltern scheint klar, gemeinsames Singen beeinflusst die Stimmung ihres Kindes positiv und die gemeinsame Tätigkeit stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kind. Aber können Lieder sogar noch mehr? Können sie womöglich Kindern dabei helfen, Sprache zu lernen? Ja! Das sagt zumindest eine neue Studie von Fabia Franco und ihren Kolleg*innen an der Middlesex Universität in London.

Darin hatten die ForscherInnen die Eltern von sechs Monate alten Babys gefragt, wie oft bei ihnen zu Hause Kinderlieder gesungen werden. Acht Monate später wollten sie wissen, wie viele Wörter die Kleinen bereits verstehen. Die Auswertung der Daten zeigte: Diejenigen, mit denen viel gesungen wurde, hatten einen größeren Wortschatz als jene, die liedlos aufgewachsen waren. Die Forscher*innen vermuten, dass es sich bei den Musikstücken um einen, wie sie es nennen, „Super-Input“ handelt. Die Melodie der Lieder, so vermuten sie, kann demnach zusätzlich helfen, deren Text zu verarbeiten. Das könnte wiederum das Lernen der Kinder fördern.

Aller Anfang ist schwer

Obwohl Kinder wie Lilly scheinbar mühelos Sprechen lernen, ist der Spracherwerb keine einfache Aufgabe. Beim Sprechen erzeugen wir ein kontinuierliches Signal. Das heißt, wir produzieren in kurzer Abfolge viele Wörter und lassen keine Pausen zwischen den Wörtern. Das wird vor allem dann deutlich, wenn wir Leuten zuhören, die sich auf einer uns fremden Sprache unterhalten. Wir haben dann oft das Gefühl, die Leute sprechen sehr schnell und wir wissen nicht, wo die Wörter anfangen und aufhören. So ähnlich geht es Babys am Anfang des Spracherwerbs auch.

Bevor Kinder die Bedeutung von Wörtern lernen können, müssen sie es also schaffen, die einzelnen Wörter im Sprachsignal voneinander zu trennen. Aber woher wissen Kinder, wann ein neues Wort anfängt? Diese Frage nennen Forscher das „Segmentierungsproblem“ (Cutler, 1994).

Gesungen zum Erfolg

Eine Studie von Clément François und ihren Kolleg*innen am IDIBELL Institut in L’Hospitalet de Llobregat zeigt, dass Kinderlieder dabei helfen können, genau dieses Problem zu lösen. Dafür hatten sich die ForscherInnen eine eigene künstliche Sprache ausgedacht, die aus vielen aneinandergereihten sogenannten Pseudowörtern bestand. Dabei handelte es sich um dreisilbige Begriffe, die zwar wie echte Wörter klingen, aber keine Bedeutung haben. Die wurden dann jeweils in zwei Versionen aufgenommen – einmal melodisch gesungen, einmal gesprochen. Beide Versionen spielten die Forscher*innen den Neugeborenen vor. Da sie die Neugeborenen nicht fragen konnten, wo ein Wort anfängt, erfassten sie deren Hirnsignal mithilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG). Dabei zeigte sich: Bei den Babys erhöhte sich die Hirnaktivität für die Pseudowörter nur dann, wenn sie gesungen wurden. Sie waren demnach in der Lage, die Wörter aus den Liedern zu segmentieren, nicht jedoch aus der gesprochenen Sprache.

Für dieses Ergebnis gibt es verschiedene Erklärungen. Entweder gefielen die Lieder den Kindern besser, sodass sie besser zuhörten. Höhere Konzentration sorgt oft für besseres Lernen. Oder die Kinder profitierten von den zusätzlichen akustischen Eigenschaften der Lieder: Beim Singen waren die verschiedenen Wörter nicht nur immer mit denselben Tonfolgen gekoppelt – zwischen den Wörtern gab es auch einen starken Kontrast in der Tonhöhe. Die Forscher*innen vermuten deshalb, dass diese Unterschiede in der Tonhöhe kleinen Proband*innen einen zusätzlichen Hinweis auf den Beginn eines neuen Wortes gegeben hatten. Dadurch hatten sie es leichter, die Silben zu Wörtern zu gruppieren und den Anfang von Wörtern im Signal zu finden.

Und was ist mit richtigen Kinderliedern?

In einer Studie aus den Niederlanden haben die Forscherinnen Tineke Snijders, Titia Benders und Paula Fikkert von der Radboud Universität in Nimwegen den Text bestehender Kinderlieder angepasst und jeweils ein Pseudowort besonders häufig wiederholt. Dadurch wollte man sicherstellen, dass die Kinder das Wort vor dem Experiment nicht kannten. Die Lieder spielten die Forscherinnen zehn Monate alten Säuglingen vor und erfassten dabei deren Hirnaktivität als das Kunstwort ertönte. Und tatsächlich: Die Kleinen zeigten am Ende der Lieder eine stärkere Hirnreaktion auf diese Wörter als am Anfang. Der sogenannte Wiedererkennungseffekt zeigt, dass sie in der Lage waren, Wortgrenzen auch in natürlichen Kinderliedern zu finden. Sie konnten schließlich das Pseudowort nur dann wiedererkennen, wenn sie es vorher erfolgreich aus dem Lied segmentiert hatten. Das könnte der Beleg dafür sein, dass Melodie den Kindern hilft, Wörter zu segmentieren –und ganz nebenbei, Sprache zu lernen.

Referenzen

Cutler, A. (1994). Segmentation problems, rhythmic solutions. Lingua, 92, 81-104.

Franco, F., Suttora, C., Spinelli, M., Kozar, I., & Fasolo, M. (2021). Singing to infants matters: Early singing interactions affect musical preferences and facilitate vocabulary building. Journal of Child Language, 1–26. https://doi.org/10.1017/S0305000921000167

François, C., Teixidó, M., Takerkart, S., Agut, T., Bosch, L., & Rodriguez-Fornells, A. (2017). Enhanced Neonatal Brain Responses to Sung Streams Predict Vocabulary Outcomes by Age 18 Months. Scientific Reports, 7(1), 1–13. https://doi.org/10.1038/s41598-017-12798-2

Snijders*, T. M., Benders*, T., & Fikkert, P. (2020). Infants segment words from songs— an EEG study. Brain Sciences, 10(1). https://doi.org/10.3390/brainsci10010039

Veröffentlicht von

Katharina Menn interessiert sich für die Entwicklung von Kindern und deren Rhythmen im Gehirn. Nach ihrem Studium in Psychologie und Kognitive Neurowissenschaften in Nimwegen (Niederlande), kam sie im Herbst 2019 als Doktorandin nach Leipzig ans Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Dort erforscht sie in der Abteilung "Neuropsychologie" und der Gruppe "Sprachzyklen", warum Kinder scheinbar mühelos Sprechen lernen und wie Rhythmen in Sprache und Gehirn dazu beitragen.

9 Kommentare

  1. Interessantes und aktuelles Thema. In der künstlichen Intelligenz würde man bei dieser Art des Lernens allein durch passives Zuhören und ohne weitere Hinweise, was das ganze bedeutet, von unüberwachtem Lernen (unsupervised Learning) sprechen. Die KI-Forscher sind äusserst interessiert an ünüberwachtem Lernen, haben bis jetzt aber nur einen beschränkten Erfolg mit unüberwachtem Lernen gehabt. Warum sind sie an unüberwachtem Lernen interessiert? Weil die Alternative, das überwachte Lernen, einen sehr grossen Trainingsaufwand bedeutet. Der Trainer muss beim überwachten Lernen nämlich immer sagen, was das Wahrgenommene bedeutet, indem er etwa ein Bild von einem Auto mit dem Label „Auto“ versieht. Nun, ähnliches gilt ja auch, wenn ein Kind lernt. Allerdings viel weniger. Ein KI-System weiss überhaupt nur darum, was ein Hund ist, weil im Training „Hund“ neben dem Bild angeschrieben steht. Ein Kind aber weiss schon lange vorher, was ein Hund ist. Der Name „Hund“ ist für ein Kind nur eine weitere Information, nicht aber eine Definition dessen was ein Hund ist, denn im Umgang mit dem Hund hat es längst gelernt, was das für ein Tier ist.

    Nun, vielleicht müssen die KI-Forscher ihren Maschinen ebenfalls Lieder vorspielen, damit sie unüberwacht etwas über eine Sprache lernen. Wäre einen Versuch wert.

    • Danke für diesen Einblick in die KI-Forschung. In den hier vorgestellten Studien ging es ja vor allem darum, dass Lieder Kindern helfen können Wortgrenzen zu finden. Das Segmentieren von einzelnen Wörtern ist ein wichtiger erster Schritt, bevor die Kinder die Bedeutung von Wörtern lernen können. Also z.B. dass “Hund” das Label für eben dieses Tier ist.
      Es gibt mittlerweile auch Hinweise darauf, dass Lieder Kindern dabei helfen können solche Wort-Objekt Zusammenhänge zu lernen, z.B: Hahn, L. E., Ten Buuren, M., Snijders, T. M., & Fikkert, P. (2020). Learning words in a second language while cycling and listening to children’s songs: The Noplica Energy Center

      Es wäre auch interessant zu lernen, ob Lieder auch einem KI-System helfen könnten.

    • Ergänzung zum unüberwachten Lernen von Wortgrenzen in der künstlichen Intelligenz und der Kognitionsforschung:

      – das arxiv-Dokument Unsupervised Word Segmentation and Lexicon Discovery Using Acoustic Word Embeddings mit den Index Begriffen unüberwachte Sprachverarbeitung, Worterkennung, Sprachsegmentierung, Wortakquisition, unüberwachtes Lernen erwähnt explizit
      , dass der vorgestellte Algorithmus zum unüberwachten Erkennen von Wortgrenzen und damit von Worten und zur Segmentierung von Sprache zwei Anwendungsgebiete hat, nämlich
      1) das automatische Erkennen von gesprochenen Wörtern in Sprachen/Dialekten wo es keine annotierten Audiodateien gibt, also kaum Dateien, die geschriebene und gesprochene Worte/Sprache zueinander in Beziehung setzen und
      2) das Modellieren des kindlichen Spracherwerbs

      – das Springer-Link Dokument WordSeg: Standardizing unsupervised word form segmentation from text veröffentlicht eine Algorithmensammlung für die automatische Wortsegmentierung um Vergleiche zwischen verschiedenen Algorithmen zu ermöglichen. Dabei geht es um den Spracherwerb bei Erstkontakt mit einer neuen Sprache. Es geht hier also um ein kognitives Problem.

  2. Danke für diesen Einblick in wissenschaftliche Studien zu diesem Thema. Ich kann es nur aus der Praxis als Musikpädagogin und Kursleiterin bestätigen.

  3. Heutige Cochlea-Implantate erschweren das Hören von Musik und Songs
    Singen Hören und selber Singen erleichtert gemäss diesem Beitrag von Katharina Menn das Erlernen von Sprache. Allerdings muss man sagen, wohl nur beim normal hörenden Kind und nicht unbedingt bei Kindern und Erwachsenen mit heutigen Cochlea-Implantaten, denn diese können die Tonhöhe nicht richtig wiedergeben. Im Artikel Music Recognition, Music Listening, and Word Recognition by Deaf Children with Cochlear Implants liest man dazu (übersetzt von Google Translate):

    Cochlea-Implantate ermöglichen vielen Gehörlosen eine verbesserte Sprachwahrnehmung und -produktion im Vergleich zu Hörgeräten. Bei der Musikwahrnehmung ist die Situation aufgrund von Signalverarbeitungsstrategien, die unzureichende Informationen über die Tonhöhe übermitteln, ganz anders (Gfeller et al., 2005Wilson et al., 2005). Eine Folge davon ist, dass sowohl Erwachsene (Fujita & Ito, 1999; Gfeller et al., 2000b) als auch Kinder (Stordahl, 2002; Vongpaisal et al., 2006) eine bekannte Melodie aufgrund ihrer Tonhöhenmuster nicht erkennen können. Postlingual gehörlose Erwachsene verlieren typischerweise nach der Implantation das Interesse an Musik (Gfeller et al., 2000; Leal et al., 2003), selbst wenn sie vorher Musikliebhaber waren. Offensichtlich unterscheidet sich der musikalische Input, den sie durch ihre Implantate erhalten, radikal von der Musik, die sie mit normalem Hören oder mit Hörgeräten erlebt hätten. Angeborene taube Kinder, die in jungen Jahren ein Implantat erhielten, würden nicht das Verlustgefühl eines Erwachsenen in Bezug auf Musik erfahren, aber ihr musikalischer Input wäre ähnlich verarmt.

  4. Könnte, müsste so sein wie erklärt, danke für diesen Inhalt, es geht auch um das Lernen des Aussprechens von Silben; wer Kinder hat bzw. hatte (die Vergangenheitsform nur deshalb, weil Kinder ja auch mal groß werden), weiß, dass Kinder die Sprache anfänglich auch durch Nachahmen, durch Lallen sozusagen, lernen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  5. Singen ist auch Sprache. Singen macht Spaß, Liedtexte prägen sich ein.
    Vor allem beim Fremdsprachenlernen sind Lieder nützlich. Vergessen wir die Gedichte nicht und Kinderreime.

  6. Danke, dass Sie dieses wichtige Thema publizieren. Ich bestätige diese Tatsache als Musikpädagogin und Musiktherapeutin. Meines Erachtens wird merkwürdigerweise ein extrem wichtiger Faktor komplett außeracht gelassen. Sprache ist keine Aneinanderreihung von Vokalen, die mit Konsonanten verknüpft sind, sondern ist untrennbar mit der Melodie verbunden. Die Melodie ist die Trägerin der Emotion, und die bleibt tief verinnerlicht und erleichtert das “Bewahrend”, Behalten der Wörter und Sätze. Dasselbe nutzen wir Musikpädagog: innen zum Lernen von Vokabeln und anderen Wissensanforderungen.
    Mit vielen Grüßen Christine Thomsen, Dipl.-Musikpädagogin

    • Vielen Dank für den Kommentar. Wie Sprache Emotionen widerspiegelt ist wirklich ein sehr interessantes Thema zu dem auch viel geforscht wird.

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