Denkanstöße – … Und Darwin hat doch recht.
BLOG: Theologie im Dialog
Wer sich über neueste Fragestellungen, Ergebnisse und Probleme der modernen Evolutionsbiologie informieren will, wird bei diesem Buch von Volker Sommer, Professor für evolutionäre Anthropologie in London, reichlich Stoff finden. Wer sich von eigenständigem Denken, ideologiekritischem Diskurs und dem Infragestellen lieb gewonnener Vorurteile nicht abschrecken lässt, wem auch heilige Kühe den Nachweis ihrer Heiligkeit erbringen müssen, der wird in diesem Buch auf seine Kosten kommen. Wer darüber hinaus Wert auf eine gute Prosa legt und auch Unterhaltung in einem wissenschaftlichen Buch nicht verschmäht, wird von dem Wortkünstler Volker Sommer in diesem an flotten Formulierungen, überraschenden Vergleichen, Wortwitz, anekdotischen und autobiografischen Ingredienzien reichen Buch reichlich mit Stoff zur Heiterkeit versorgt. In jedem Fall ist das Buch unabhängig von seinem wissenschaftlichen Gehalt ein kurzweiliges Lesevergnügen.
Worum aber geht es, wenn der Autor Horizonte der Evolutionsbiologie aufzeigen will? In sieben Kapiteln verhandelt Sommer verschiedene Themen, die für die Evolutionsbiologie relevant sind.
Gleich im ersten Kapitel traktiert er die komplizierte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur. Sind sie streng voneinander getrennt? Hat nur der Mensch Kultur und grenzt sich gerade dadurch von der Natur und dem Tierreich ab? Sind gar Tiere kulturfähig? Wenn ja, in welchem Ausmaß? Wird es einst einen Beethoven unter den Schimpansen geben? Man spürt die Liebe des Autors zu seinem Gegenstand und sein unvoreingenommenes Herangehen an die Dinge, wenn er in akribischer Weise zahlreiche Beispiele aus der Forschung zusammenträgt, die belegen, dass Tiere in der Tat kulturfähig sind. Natürlich hat noch kein Affe ein philosophisches Werk vorgelegt, aber das ist auch kein Kriterium für Kulturfähigkeit. Im Unterschied nämlich zu inhaltlichen Definitionen von Kultur beschränkt sich Sommer auf eine formale Definition, wenn er Kultur als „sozial weitergegebenes Verhalten“ definiert. So gesehen dürften auch Roboter bald den Kulturschaffenden zugerechnet werden können. Da die sozial tradierten Kulturtechniken nach menschlichen Maßstäben relativ bescheiden sind und sich auch kaum weiterentwickeln, z. B. Nüsseknacken mit Hilfe von Steinen, verwundert es nicht, dass diese These von der Kulturfähigkeit der höheren Tiere auch Kritik hervorruft, z. B. von Michael Tomasello, ebenfalls Forscher im Bereich evolutionäre Anthropologie. Ihm fehlen die Dynamik und kumulative Effekte, die gerade das Besondere menschlicher Kultur ausmachen. Die Frage beleibt interessant.
Das zweite Kapitel „Das Töten von Artgenossen“ ist der Liquidierung des Übervaters der Verhaltensforschung, Konrad Lorenz, gewidmet, genauer gesagt, seiner zentralen These der Nichtexistenz innerartlicher Aggression bei Tieren im Unterschied zum Menschen, eine These, die Konrad Lorenz in seinem bekannten Buch „Das sogenannte Böse“ vehement und mit zivilisationstherapeutischem Pathos vertreten hatte. Sommer zeigt anhand der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, insbesondere dem zweiten großen Werk von Jane Godall, dass solche Aspekte der Sonderstellung des Menschen, wiegrundlose Quälerei, Brutalität, Kindsmord, Mord, Kannibalismus, Kriege und Genozide im Unterschied zur These der innerartlichen Tötungshemmung von Konrad Lorenz durchaus auch bei den possierlichen und liebenswerten Schimpansen und natürlich auch anderen Tieren vorkommen. Eine heile Welt gibt es nun mal auch im Tierreich nicht. Die traurige, aber realistische Botschaft dieses Kapitels lautet daher: Auch im Tierreich gibt es keinen Arterhaltungsinstinkt, vielmehr gilt auch hier, jeder ist sich selbst der Nächste. Sommer weist indirekt auf die Abhängigkeit des Arterhaltungskonzepts vom Zeitgeist hin, wenn er zwischen den Zeilen diskret ohne das Schwingen der Moralkeule andeutet, dass Lorenz mit diesem Konzept durchaus die braunen Flecken seines wissenschaftlichen Werdegangs verrät („Du bist nichts dein Volk ist alles“) und zugleich dieses biologische Konzept sich gut mit der kommunistischen Ideologie vereinbaren ließ. Erfrischend ist aber auch zu lesen, dass er mit kühlen Argumenten die modischen postmodernen Kritiker am soziobiologischen Forschungsparadigma („Sexismus“, „Unterdrückung“, „Kapitalismus“) ins Messer der von ihnen selbst angestrebten Ideologiekritik laufen lässt.
Im dritten Kapitel bringt der Autor seine Absicht, „darwinisch“ zu denken, auf den Punkt. Er berichtet von dem Sozialverhalten der indischen Languren, einer Affenart, die vor allem ausgerechnet in indischen Tempelanlagen gehegt und gepflegt wird und die zu den am Besten untersuchten Affenarten überhaupt gehört. Wer bis hierher noch Zweifel an der rücksichtslosen Brutalität unserer Verwandten aus dem Tierreich gehabt haben sollte, wird in diesem Kapitel seine letzten Illusionen über die Güte von Mutter Natur verlieren. Sommers empirisch gestützte Kernthese lautet, dass das eherne Gesetz dieser Affenhorden lautet: Mit Blutsverwandten wird kooperiert, mit genetisch nicht Verwandten wird konkurriert. Dies zeigt er zum Beispiel daran auf, dass Babysitten nach dem Grad der Verwandtschaft abgestuft ist, oder dass die Oberhäupter der Einmännchenhorden, wenn sie in einem Langurenharem die Macht übernehmen, bis zu 30 % der Kinder ihrer Vorgänger töten.
In Kapitel vier diskutiert Sommer eine Kernthese der Soziobiologie, die sich aus der Spieltheorie ergibt, nämlich die Trivers-Willard These, dass dominante Weibchen mehr männliche als weibliche Nachkommen haben sollten, weil dies, soziobiologisch gesehen, ihren Fortpflanzungserfolg am besten optimiert. Anhand verschiedener Fallstudien lotet er die prognostische Kraft dieser Hypothese aus und diskutiert auch Theorievarianten. Dass die Wirklichkeit komplizierter ist als die Theorie, macht er anschließend an einem Beispiel deutlich, bei dem diese These an einer menschlichen Population getestet wurde. Eckhart Volands Fallstudie bei norddeutschen Bauern des 19. Jahrhunderts brachte nämlich nur einen Teilerfolg. Ohne Zusatzhypothesen ließ sich dort die Trivers-Willard These nicht verifizieren.
In Kapitel fünf erfahren wir viel über die vom Aussterben bedrohen Gibbons im Regenwald von Thailand. Die in hohen Bäumen lebenden und daher schwer zu beobachtenden Gibbons waren bis zu den Forschungen von Volker Sommer vor allem als monogam lebende, friedliebende und vor allem durch ihren Gesang bekannte Vierfüßler bekannt. Sommer konnte durch genauere Beobachtung zeigen, dass die Monogamie keineswegs durchgehalten wird, sondern dass „Seitensprünge“ dieser Baumbewohner im wahrsten Sinne des Wortes an der Tagesordnung sind. Da die genetische Verwandtschaft der einzelnen sich territorial voneinander abgrenzenden Populationen dadurch erhöht, erklärt sich die Friedfertigkeit der Gibbons aus dem Egoismus der genetischen Verwandtschaft.
In den beiden letzten Kapiteln – mit „Wilde Fragen“ zusammengefasst – geht es mehr um Philosophisches und Theologisches. In Kapitel sechs stellt sich der begeisterte Naturforscher in bewusster Auseinandersetzung mit der Theologie, die er selbst in Göttingen studiert hatte und der er als Mitglied der Giordano Bruno Gesellschaft nunmehr mehr als kritisch gegenübersteht, der Theodizeefrage, d.h. der Frage, wie angesichts des inzwischen so markant geschilderten Bösen und des zum Himmel schreienden Leids in der Natur, die Existenz eines guten Gottes gerechtfertigt werden kann. Dass er die Theologie dabei nicht für voll nimmt, wird auf verschiedene Weise klar. Zum einen stellt er sie auf die gleiche Stufe wie Kartenlesen, Astrologie und Hexenglaube. Zum anderen nimmt er es mit der wissenschaftlichen Genauigkeit nicht so genau, wenn er die amerikanische Prozesstheologie, die von dem britischen Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead inspiriert wurde, dem amerikanischen Psychologen William James zuschreibt, den er zudem noch als Philosophen bezeichnet. Und schließlich veralbert er die Theologie als Theologelei, wohl in bewusster Anspielung an Mogelei. Wir dürfen also eine gewisse ideologische Voreingenommenheit dieses an sich ideologieresistenten Autors vermuten, wenn er, ansonsten sehr humanistisch und menschenfreundlich gesinnt, zur Hetzjagd auf die Theologie bläst.
Mit welchen Argumenten bewaffnet sich dabei unser Primatenforscher auf seinem Ausrottungsfeldzug? Er geht das Theodizeeproblem nach ausführlichen Zitaten seines Geistesverwandten Epikur vor allem von biologischer Perspektive an, um von dieser Perspektive aufzuzeigen, dass die Theodizeefrage oder gar die Sinnfrage, sinnlos ist. „Theologische Fragen nach dem Sinn des Leids sind unsinnig.“ Sommers Argument ist, dass die Wahrnehmung von Leid einfach das natürliche Ergebnis der in der Evolution im Sinne des Überlebens gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit sei, in diesem Sinne auch evolutionär positiv. Einen übergeordneten Sinn darin zu sehen, oder gar es mit einem Gott in Verbindung zu bringen sei völlig unsinnig. Schmerzfähigkeit ist das Ergebnis einer Reproduktionsstrategie durch Qualität. Einen darüber hinausgehenden Sinn, oder gar ein ewiges Leben, gibt es nicht. „Radikale Sterblichkeit heißt ihre Botschaft.“ Und daher verkündet Sommer getreu dem Diktum des Apostels Paulus, nach dem für den Ungläubigen der Gott der eigene Bauch sei, das Evangelium des seligen Biergenusses. „All dies sollte uns umso mehr gemahnen, als vor dem Tod ein ordentliches Stück Leben auf uns wartet. […] Und wenn angesichts solcher Erkenntnis auch nicht für jeden der Weihrauch wohlgefälliger riecht, so sollte auf jeden Fall das Bier umso besser schmecken.“ Nach diesem etwas schalen Nachgeschmack einer etwas abgestandenen und geistlosen Lebensphilosophie sind Sommers Ausführungen zum Tod aus biologischer Sicht wieder interessant. Er führt aus, dass es als Faustregel drei Aspekte gibt, die die Lebenserwartung deutlich beeinflussen. Die Lebenserwartung wird gesenkt durch eine erhöhte Stoffwechselrate (Androgene), Männchen haben in der Regel eine niedrigere Lebenserwartung, während die Gehirngröße deutlich mit einer höheren Lebenserwartung korreliert. Ein Hinweis auf die Tatsache, dass wohlhabende Menschen eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als Arme, wäre in diesem Zusammenhang sicher wichtig gewesen. Lebenserwartung ist nicht nur eine Frage der Biologie, sondern auch der gesellschaftlichen Ressourcenverteilung. Es ist schade, dass Sommer in der Diskussion der nun noch verbleibenden beiden Themen der Willensfreiheit und der „gefallenen Schöpfung“ als Aspekte des Theodizeeproblems Opfer seiner Wortgewandtheit wird und auf die abschüssige Bahn des Flapsigen und der billigen Polemik gerät. So lesen wir zum Schöpfungsproblem: „Sünde und Leid also trotz eines gelungenen Schöpfungswerkes! Hatte Gott, als er Menschen schuf, lediglich einen schlechten Tag? Kann schließlich jedem mal passieren… .“ Und zur Willensfreiheit belehrt uns der Autor: „Die Annahme einer Willensfreiheit ist also weiterhin problematisch. Gleichwohl gehört sie in die Trickkiste vieler Theologeleien.“ Es versteht sich von selbst, dass der Rezensent bei einem solchen Stil unterhalb der Gürtellinie nicht in eine sachliche Argumentation eintreten kann. Man fragt sich, woher der offenkundige Hass Sommers auf die Theologie kommt? Nachdem nunmehr der Autor seine inquisitorischen Lüste gegenüber der Theologie befriedigt hat, kommt nunmehr im abschließenden Kapitel wieder seine radikale Menschlichkeit zum Ausbruch – liegen doch auch schon im Tierreich Mordlust und Empathie nahe beieinander. In flammenden Stil verwahrt er sich gegen jede Form des Rassismus, und zwar deswegen, wie er überzeugend dartut, weil er keinerlei wissenschaftliche Grundlage hat. Allerdings hat er doch die Größe zuzugeben, dass der Rassismus, dem einige Millionen Juden in den Gaskammern der Nazis zum Opfer gefallen sind, auch auf dem Boden biologischen, d.h. sozialdarwinistischen Denkens erwachsen ist. Ein folgenschwerer wissenschaftlicher Irrtum. Aber kann schließlich jedem mal passieren… .
Das Buch lässt einen zweispältigen Eindruck zurück, brillant in seinen biologischen Teilen, gut und unterhaltsam geschrieben, der Absturz in hochnäsige Polemik folgt in der Auseinandersetzung mit der Theologie. Schade. Ganz so einfach sollte man es sich mit dem lieben Gott nicht machen.
Theologeleien – hochnäsige Polemik?
Begebe ich mich doch auch einmal sichtbarer 😉 auf Ihr Gebiet, Herr Achnter. Zumal uns ja offensichtlich dasselbe Buch vorliegt. Und natürlich gestehe ich gerne zu, dass Sie es solider, umfassender und kenntnisreicher, besprochen haben – Implikationen durchschauten.
Aber: Hochnäsige Polemik hätte ich gerade bei diesem Buch weniger unterstellt sondern eher freundliche Provokation: Was sich liebt, das neckt sich. Und enttäuschte Liebe kommt bei Sommer wohl auch dazu.
Um nur eines heraus zu greifen: “Theologeleien”. Ich verstehe diesen Ausdruck allerdings eher in Erinnerung an ein Wortspiel (in der “ZEIT”?): “Logeleien mit Einstein”, also als nicht ganz ernst gemeinte akrobatische Übungen mit Logik oder logisch erscheinenden Argumenten. Und das gibt es doch durchaus auch in der Theologie. Noch mehr in gewissen christlichen Massenveranstaltungen und gewissen Bestsellern. Hoffentlich nicht durchweg, aber in den hier in diesen Blogs verhandelten Themen doch immer wieder. Mir ging es selbst schon so und wurde mir (nicht nur einmal) gerade aus dem Religionsunterricht von Oberschülern (aus meiner Altersgruppe und aus meiner Verwandtschaft) erzählt, wie verblüffende Antworten ihrer Religionslehrer, die zunächst den Schüler zum Schweigen brachten, sich später als hohl erwiesen. Einer wurde auf die verzweifelte Frage, das ginge doch nicht mehr mit rechten Dingen zu (ewige Erwählung und eigene Verantwortlichkeit – dazu: ewige Erwählung aber das heiße nicht, es gebe Verdammte) abgespeist mit: Das muss auch nicht logisch sein – das ist theo-logisch.
Zu dem, was ich in meiner Selbstvorstellung (“zur Person”) angedeutet habe, gehört eben auch: Solche “Logeleien” (und das entsprechende Augurenlächeln) zu durchschauen, die keineswegs durchweg aber doch etwas zu häufig auch die Theologie für kritischere Zeitgenossen unglaubwürdig machen.
Lob
Wie auch immer man zur Theologie stehe: Ich finde es bemerkenswert und gut, dass sich gerade auch zwei evangelische Theologen “Darwinisch denken” intensiv durchgearbeitet haben! Danke dafuer!
Aichele+Blume
Kurze Rückmeldung: Während ich die fachlichen, biologische Teile des Buches sehr gut finde, stören mich doch – ich muss es bekennen – die Theologeleien. Ich kann sie dennoch zu einem gewissen Teil verstehen, wenn man immer wieder der Erfahrung macht, dass Theologen Antworten geben auf Fragen, die nicht gestellt werden, oder Fragen stellen, wo die Antworten eigentlich klar sind oder Antworten auf ernsthaft gestellte Fragen schuldig bleiben oder in süffisanter Überheblichkeit ironisieren. Zugegeben! Dennoch: Auch wenn Theologen sich gelegentlich hinter Wörtern verstecken, die theologischen Fragen bleiben und sie verdienen eine ernsthafte Auseinandersetzung.
“Ganz so einfach sollte man es sich mit dem lieben Gott nicht machen.” – Mit Gott sollte man es sich nicht so einfach machen, einverstanden. Aber den “lieben” Gott hat nicht nur Sommer als frommen Wunsch menschlicher Angst entlarvt. Die Theodizeefrage kann man weder zurücknehmen/nicht mehr denken, noch kann man sie theo-logisch so zurechtstauchen, dass ein lieber Gott herauskäme.