Heimat und Identität: Meine Identität – so stabil wie Plastik?

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Heimat und IdentitätMeine Identität steckt in dem hinteren Einschubfach meines Portemonnaies, ist 10,4 cm breit, 7,4 cm hoch und etwa 0,1 cm tief. Ich trage sie immer bei mir. Selbst wenn ich das Portemonnaie nicht mitnehme, meine Identität habe ich immer dabei. Schließlich könnte mir ja etwas passieren, und da müssen die fleißigen Helfer, die mich dann retten werden, doch wissen, wer ich bin. Die Identität gibt also Auskunft darüber. Aber wer bin ich? Glaubt man der ausstellenden Behörde, bin ich 1,74 m groß und habe graublaue Augen. Das scheint ein wichtiger Aspekt meiner Identität zu sein, sonst würde es ja nicht da stehen. Da ich vermutlich nicht die einzige Person mit diesen körperlichen Merkmalen bin, kommen andere hinzu: Name, Anschrift, Geburtsdatum und -Ort, Nationalität, Unterschrift und – nicht zu vergessen – das Bild. Diese Punkte sind also alles wichtige Teile meines Ichs. Als einzelne Punkte tragen sie zu meiner Identität bei. Als Ganzes sollen sie eine Sammlung von Merkmalen darstellen, die mich unverwechselbar macht und so wiederum Identität stiftet.

So eine Identität ist eine stabile Angelegenheit. Ich trage sie schon seit mehr als sechs Jahren mit mir herum; damit sie auch noch weitere 3,5 Jahre durchhält, ist sie in Plastik eingeschweißt. Während ich so darüber nachdenke, kommen mir erste Zweifel: Wenn eine Identität doch so etwas Stabiles ist, warum hat sie dann ein Ablaufdatum? (Manche Leute schaffen es, Ihre Identität in der Waschmaschine zu zerstören. Was das wohl über ihre Identität aussagt?) Auf der Rückseite meiner Identität stapeln sich verschiedene Adressaufkleber, jeder wieder mit Plastik überklebt. Teile der Identität dürfen sich anscheinend auch ändern. Und überhaupt dieses Bild: Das soll wirklich ich sein??? Das Alter dieses Fotos übersteigt das meiner Identität bei weitem, ich hatte damals kein anderes zur Hand. Es stammt aus einer Zeit, an die ich mich nur mit Grausen erinnere. Und so grausig die Zeit, so grausig das Bild. Wer auch immer vorgibt, mich daran zu erkennen: Das ist eine grobe Beleidigung!
Immerhin: Meine Unterschrift sieht der heutigen noch recht ähnlich. Die Graphologen können aufatmen.
 
Erika Mustermann
Erika Mustermann hat es auch nicht leicht mit ihrem Bild. Quelle:Wikimedia Commons.
 
Mir und allen anderen Plastikkartenträgern ist natürlich völlig klar, dass wir alle, die wir die Dinger mit uns herumtragen, viel mehr und etwas völlig Anderes sind als diese Plastikkarten.
Wenn wir also mehr sind als in zwei Lagen Kunststoff eingeschweißten Daten, was sind wir dann? "Draw a distinction and a universe comes into being" soll schon George Spencer Brown gesagt haben. Ja, denke ich, jetzt kommen wir zu meinem eigenen Universum, zum Kern meines echten und wahren Selbst, endlich werde ich in meiner ganzen Persönlichkeit wahrgenommen. Pustekuchen. Und dieser Pustekuchen fängt bei dem auf meiner Plastikkarte eingetragenen Vornamen an.
Mit Simone hab ich es noch recht gut getroffen, ein relativ neutraler Name, wie ich finde. Und wenn ich bedenke, dass Eltern ernsthaft überlegen, ihre Kinder Pumuckl zu taufen, kann ich für diese Neutralität nur dankbar sein. Dumm an der Sache ist nur, dass dieser Name (wie wohl die meisten anderen auch) leider nicht neutral ist. Oder zumindest nicht als solches wahrgenommen wird.
So wissen Forscher der TU Chemnitz Folgendes über mich zu berichten (Rudolph et al. 2007): Ich bin vermutlich ein eher altmodischer Mensch und auch nicht sonderlich attraktiv. Hinter der Attraktivität einer Lara oder Katharina liege ich klar zurück. Heike teilt mein bedauerliches Schicksal, Petra ist noch ein klein wenig schlechter dran. Auch bei der Intelligenz liege ich recht weit hinten, aber diesmal zumindest besser als Heike. Und auch Kerstin schneidet zusammen mit einigen anderen hier schlechter ab als ich. Petra allerdings fängt an, mir leid zu tun. Immerhin: Ich bin – zwar auf einem recht niedrigen Niveau und relativ betrachtet – ein bisschen mehr schlau als hübsch.
Ich komme damit klar. Ehrlich. Schmunzelnd nehme ich diese Ausführungen zur Kenntnis und lege sie ab unter der Kategorie "nice to know". Warum es mich in diesem Fall nicht die Bohne interessiert, wenn andere Menschen komische Sachen über mich denken? Nun, es berührt mich nicht.
Das, was Menschen angeblich mit meinem Namen verbinden, stellt mich nicht in Frage. Mir geht es nicht wie Mandy, die allein aufgrund ihres Namens für blöd gehalten wird. Und auch nicht wie Kevin, dem ein Lehrer in einer wissenschaftlichen Umfrage bescheinigt: "Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose" (Hartmann-Wolff 2009). Von Akway-cam und Gülsen, Patrycja und Kyrylo, Wladislaw und Boglárka und all den anderen haben wir hier noch gar nicht gesprochen.
Ob es uns passt oder nicht, wir alle werden den lieben langen Tag mit solchen oder anderen Zuschreibungen konfrontiert. Um es mit Heinz Abels zu sagen: "Selbst wenn wir nicht explizit fragen, wer wir sind, müssen wir damit rechnen, ungefragt Antwort zu erhalten" (Abels 2010, S. 14). Und zwar Antworten, die unter Umständen überhaupt nichts mit uns als Person zu tun haben, sondern mit den Erwartungen, die andere Menschen an uns stellen.
Bei den anderen Punkten auf meiner Plastikkarte geht es munter weiter. Vom Erkennen meines echten und wahren Selbst keine Spur. Im Gegenteil: Überall lauern Hindernisse. Angefangen schon bei meinem Geburtsdatum, was mich als im gebährfähigen Alter ausweist ("Aufgepasst! Wenn sie noch keine Kinder hat, dann kriegt sie bestimmt bald welche.") und wenn nicht das, dann zumindest als Teil einer irgendwie gearteten Generation X, Golf oder Praktikum. Und diese aufgeklebte Teilidentität auf der Rückseite mag ebenfalls so einiges über mich sagen. Frei nach dem Motto: Sag mir, wo du wohnst, und ich sage dir, wer du bist. Dumm nur, dass schon die falsche Anschrift dazu führen kann, dass Menschen keinen Job bekommen. Noch dummer, dass solche Zuschreibungen mit zunehmender Entfernung des Gegenübers auch noch immer ungenauer werden.
Ich zum Beispiel verbringe im Moment einen großen Teil meiner Zeit in Süddeutschland, im wahrsten Sinne des Wortes am anderen Ende der Republik. Ich habe den Verdacht, dass man mir das sogar ansieht, aber spätestens, wenn ich den Mund aufmache, wird daraus Gewissheit: "Kommscht wohl nich von hier!" Das ist offensichtlich nicht als Frage formuliert. Und gleich darauf: "Ja moi, wo komschtn her?" Bei mobilitätsgesellschaftlich bedingten 20 Umzügen und 7 verschiedenen Städten nicht ganz einfach zu sagen. Ich entscheide mich für ein unverfängliches "Oh, die letzten 10 Jahre hab ich in Bremen gewohnt." Die schroff-spontane und durchaus nicht unfreundliche Antwort: "Ja moi, a Fischkopp!"
 
Ähm, nein. Das sind die aus Bremerhaven. Und Bremer werden nicht gerne mit Bremerhavenern verwechselt. Da gibt es wichtige Unterschiede, die sich nur leider dem Außenstehenden nicht immer erschließen. Sie rufen bei den Beteiligten allerdings mitunter ehrliche Empörung hervor. Etwa vergleichbar mit der Feststellung, Düsseldorf gehöre zum Ruhrgebiet. Oder 1860 sei doch irgendwie das Gleiche wie Bayern München.
 
Bremer Stadtmusikanten. Und weit und breit kein Fisch. Quelle: Wikimedi Commons.
 
Mal ganz abgesehen davon, dass ich überhaupt gar keine Bremerin bin. Tut nix zur Sache, ab jetzt bin ich die aus Bremen. Und wenn die aus Bremen zum Beispiel nicht mit ins Festzelt will, dann deshalb, weil Bremer – aus bayerischer Sicht – a bisserl steif sein und so weder feiern können noch Festzelte mögen. Ungeachtet zum Beispiel der Tatsache, dass einer der beliebtesten Orte auf dem Bremer Freimarkt, dem angeblich größten Volksfest des Nordens, das Bayernzelt ist. Und die Leute aus dem Ruhrgebiet, denn da bin ich aufgewachsen, sehr wohl feiern können, Karneval zum Beispiel.
Um an dieser Stelle klarzustellen: Mir geht es nicht darum, bayerische oder andere Landsmänner und -frauen zu verunglimpfen. Einem Bayern würde es in Bremen ähnlich gehen. Oder einem Mainzer in Magdeburg. Oder einem Leipziger in Kiel. Die Themen wechseln, das Grundprinzip bleibt gleich: Die Herkunft weckt Erwartungen, die mehr oder weniger differenziert ausfallen können. Je weiter dabei weg vom eigenen Standpunkt, desto weniger differenziert.
Wir sind also wieder bei den Erwartungen. Folgt man dem Soziologen George Herbert Mead (1973), so sind sie nicht nur irgendein Vorkommnis – meiner Ansicht nach manchmal schön und manchmal ärgerlich. Vielmehr tragen Erwartungen – oder um genauer zu sein, unsere Vorstellungen von diesen Erwartungen – ganz entscheidend dazu bei, dass wir werden, wer wir sind. Und da gibt es eine Menge Leute, die im Laufe unseres Lebens irgendetwas von uns erwarten. Wir lernen, unsere eigenen Vorstellungen darüber auszubilden, WAS von uns erwartet wird; die hiermit gemachten Erfahrungen werden Teil unserer Identität. Es macht nun mal einen Unterschied, ob wir gerade Töchter oder Söhne, Vorgesetze, beste Kumpel, Bürger, Väter oder Mütter, Partner, Mitschüler, Hobbysportler oder Wissenschaftler sind. Und das bedeutet: Wir sind eigentlich ganz schön Viele. Es ist das Kennzeichen einer gelungenen Identität, aus diesen sich auch widersprechenden Teilen ein gelungenes Ganzes zu machen.
Unsere Identität entsteht aus dem, was war, aus dem was ist, und aus dem, was werden soll. Neben dem, was schon die Plastikkarte verrät, natürlich unendlich viel mehr: All das, was uns heute ausmacht. Unsere Erfahrungen, unsere Kompetenzen, Ansichten, Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche. Und wer bitteschön kann jetzt aus diesem ganzen Kuddelmuddel ein gelungenes Ganzes machen? Da unterscheidet sich unsere heutige sogenannte Postmoderne wohl von anderen Zeitaltern, denn das können, sollen und tun letztlich nur wir selbst. Noch einmal Herr Abels: "Identität müssen wir selbst denken! (…) Selbst denken müssen wir das Bild von uns, wie wir gewesen sind, und da gibt es nur einen, vor dem wir diesen Blick zurück rechtfertigen müssen: wir selbst. Selbst denken müssen wir vor allem das Bild von uns, wer wir sein wollen. Auch hier hat als Erster nur einer Anspruch auf Erklärung: wir selbst" (Abels 2010, S. 456). Oder um es kurz und knackig zu sagen: "Identität ist behauptete und geglaubte Identität" (ebd., S. 16).
Das mit der geglaubten Identität ist eine schwierige Geschichte, schon allein deshalb, weil es meist nicht reicht, wenn wir selbst glauben, was wir da von uns behaupten. In vielen Fällen müssen das dummerweise auch diese Anderen tun, zum Beispiel dann, wenn wir in irgendeiner Form von ihnen abhängig sind. Wenn wir George Herbert Mead folgen, ist Identität das ERGEBNIS von Interaktionen mit diesen Anderen, nicht die Vorbedingung. Dann ist Identität nicht etwas Starres, von vorneherein Bestimmtes – was wir gerne denken, wenn wir von Identität sprechen. Dann ist Identität etwas, was wir mit diesen Anderen in jeder Situation im Prinzip jedes Mal neu aushandeln und jedes Mal gemeinsam fest-stellen. Erwartungen werden dann zu so etwas wie Angeboten: Mein Gegenüber bietet mir ein "Du bist eine altmodische Hutschachtel" oder "Du bist ein bisserl seltsam." Jetzt kann ich bestätigen: "Na wenn du es sagst, wird es wohl stimmen."
 
Also, wenn schon alte Hutschachtel, dann zumindest eine hübsche. Quelle: Wikimedia Commons.
 
Oder ich beschließe: Das tangiert mich weniger als peripher. Denn seltsame Menschen sind alles andere als langweilig. Und ich weiß, dass meine Freunde vor allem dann zu mir kommen, wenn sie neue Ideen bekommen wollen. 
Das Schöne an Angeboten ist demnach: Wir können sie annehmen – oder ablehnen. Und wenn sie uns überhaupt nicht in den Kram passen, weil sie uns stören, behindern oder einengen, dann suchen wir uns eben neue: "If it doesn’t work, be someone else!" (Galli 2006, S. 67)
Nun können wir hier ein bisschen über meine Plastikkartendaten fabulieren und mir zum Beispiel munter alte und neue bremische Identitäten zulegen. Das ist weder besonders schwierig, noch braucht es großen Mut. In anderen Fällen kann es unglaublich schwierig sein. In anderen Fällen kann es wahnsinnig viel Mut erfordern. Nämlich immer dann, wenn wir beschließen, jemand anderes zu sein als der, der von uns erwartet wird. Wenn Mandy beschließt, schlau zu sein und Kevin etwas Anderes sein möchte als verhaltensgestört. Wir müssen diese identitätsstiftenden Angebote nicht annehmen, die an uns herangetragen werden. Es ist möglich, Identitäten selbstbestimmt zu leben. Allerdings sage ich nicht, dass das einfach ist. Und vielleicht können Mandy und Kevin, Akway-cam und Gülsen, Patrycja und Kyrylo, Wladislaw und Boglárka in dieser Hinsicht von uns ein wenig Unterstützung gut gebrauchen.
Abels, Heinz (2010). Identität. Lehrbuch (2. überarb. und erw. Auflage). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH.
Galli, Yoram (2006). If it doesn’t work, be someone else! In: Lueger & Korn (eds.). Solution-focused management. München, Mering: Rainer Hampp, 67-74.
Hartmann-Wolff, Elke (2009). Diagnose: Kevinismus. Fokus Magazin Nr. 40, 2009. Online hier (zuletzt 18.09.2010).
Mead, George Herbert (1973). Geist, Identität und Gesellschaft (15. Auflage). Frankfurt: Suhrkamp.
Rudolph, Udo et al. (2007). Ein Vorname sagt mehr als 1000 Worte. Zur sozialen Wahrnehmung von Vornamen. Chemnitz: Technische Universität. Online hier (zuletzt 18.09.2010).
 
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Ausweis, Hutschachtel: Public domain
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Simone D. Wiedenhöft - Diplom-Psychologin, Beraterin für Kommunikation in nachhaltiger Form und bald auch Doktorandin zum Thema - interessiert sich gemeinhin für das, was Menschen umtreibt und dazu und vor allem für das, was Menschen wachsen lässt. Hier denkt sie nachhaltig nach über alles, was im Entferntesten mit Nachhaltigkeit zu tun hat, und findet die Psychologie der kleinen und großen Dinge viel zu spannend, um sie dabei links liegen lassen zu können. Kontakt: sustain.o.brain (at) lern.ag

9 Kommentare

  1. I bin I

    Wenn man 20 mal umgezogen ist und in 7 verschiedenen Stätdten (oder waren es 8) gelebt hat, dann wird die Frage nach der Identität wichtiger, mindestens wenn es keinen Lebensschwerpunkt gibt, die Städte also mehr als nur temporäre Aufenthaltsorte waren, aber nicht viel mehr, und es auch keine Menschen gibt, die ein Gravitationszentrum darstellen. Man braucht neue Papiere wenn man umzieht, da kommt man schnell auf die Idee auch seine Identitätskarte auszutauschen und Merkmale nach Gutdünken oder Wunsch hinzuzufügen oder zu entfernen.

    Identität wird in unserer Zeit immer mehr etwas Gestaltetes. Die Schauspieler in den vielen Filmen, die wir im TV konsumieren schlüpfen in immer neue Identitäten und auch das Thema Identität ist Thema vieler Filme (wohl wegen einer Art Selbsbezüglichkeit, die bei vielen Kunstrichtungen vorkommt) jeglichen Genres, um nur ein paar Beispiel zu nennen: The Bourne Identity, Memento, Fight Club, Enamorada.

    Zum gewünschten, herbeigesehnten Identitätswechsel gehört auch die Idee des Resets und Neustarts. Nach der Schönheitsoperation wird man anders wahrgenommen – und genau das wollte man ja – und schlüpft damit in eine andere Haut, in eine leicht veränderte Identität.

    Identitätssuche und -wechsel deutet auf eine gebrochene oder unsichere Identität hin, vielleicht auch auf etwas zerbrochenes, dann nämlich wenn man eine neue Identität sucht, weil die alte frustrierend war, nicht die gewünschte Erfüllung brachte.

    Tiefergehender Identitätswechsel scheint jedoch schwierig zu sein wenn man den gängigen Filmen glaubt – entweder sie ist das Resultat einer Amnesie oder einer dissoziativen Identitätsstörung oder entspringt gar einem multipersonellem Syndrom. Nun, Identitätswechsel muss schwierig sein, sonst würde das Wort Identität keinen Sinn mehr machen. Kann man die Identität einfach switchen? oder stribt zuerst die alte Identität und wird die neue dann geboren oder ist es wie im Film ein fadeout gefolgt von einem fadein.

    Eigentlich niemand zu gönnen ausser in einer Spielsituation, als Schauspieler also.

  2. @Martin Holzherr: Identitätswechsel

    “Identität wird in unserer Zeit immer mehr etwas Gestaltetes.”

    Gab es das nicht schon immer? Oder wo sehen Sie den Unterschied zwischen modernen Identitätswechseln und denen vom Kind zum Erwachsenen zum Greis, vom Lehrling zum Gesellen zum Meister, vom Ledigen zum Verheirateten, von Kinderlosen zu Eltern und Großeltern?

    Das sind doch alles Wechsel, die der Umgebung nicht einfach zu vermitteln sind und die deshalb traditionell mit Zeremonien vollzogen werden. Heute sind die Lebenswege weniger festgelegt, die Wechsel variabler und auffälliger. Aber daraus auf Frustration zu schließen leuchtet mir nicht ein. Das würden Sie beim Identitätswechsel ‘Hochzeit’ auch nicht tun. Und hätten doch vielleicht recht damit. Denn wie Sokrates zu dem Thema sagte: “Tu es oder laß es. Du wirst es bereuen.”

  3. @Martin Holzherr

    Sie greifen da einen Aspekt einer ganzen Argumentationskette heraus und setzen ihn in einen völlig neuen Zusammenhang, der zu den Extremen psychischer Störungen führt. Das ist ihr gutes Recht, hat aber nicht mehr viel mit meinem Text zu tun.
    Zunächst einmal ist das – z. B. berufsbedingte – mehrfache Wechseln des Wohnortes während der Lebenszeit in gesellschaftlichen Bereichen eher die Regel denn die Ausnahme. Und wenn ich jetzt sagen würde, dass ich in Oxford, New York und Tokio studiert hätte (was ich leider nicht habe) würde niemand daraus eine Identitätsstörung ableiten. Im Gegenteil. Diese auch im übertragenden Sinne verstandene Mobilität, die gerne auch als eines der Merkmale der sogenannten Postmoderne genannt wird, hat auch ihre Schattenseiten, da gebe ich Ihnen recht. Aber was hat keine Schattenseiten? Daraus abzuleiten, es gäbe dabei weder Lebensmittelpunkte noch menschliche Gravitationszentren, ist schlicht nicht richtig. Es gibt sie sehr wohl, sie müssen nur anders organisiert werden, sind durchaus mit Aufwand verbunden und fallen einem nicht in den Schoß.
    Nun, deswegen will niemand seine Identitätskarte wechseln, und Teile nach Gutdünken auszutauschen oder zu entfernen ist auch nicht möglich, das übernimmt das Einwohnermeldeamt.
    “Identität wird in unserer Zeit immer mehr etwas Gestaltetes.” Da haben Sie recht, auch wenn mich der Hinweis auf die Schauspieler vermuten lässt, dass Sie damit etwas Anderes meinen als ich. Identität wird deshalb etwas Gestaltetes, weil traditionelle Muster sich in vielen Bereichen auflösen. Wo zum Beispiel starre Rollenbilder nicht mehr existieren, entstehen Freiräume, die wir selbst füllen können, manchmal auch müssen. Dies ist zum Beispiel bei der Wahl des Berufes der Fall, bei dem ich heute nicht mehr davon ausgehen kann, dass ich ihn Zeit meines Lebens ausführen werde, sei es, weil ich ein paar mal den Beruf wechsel, sei es, weil ich von Arbeitslosigkeit und anderen Umstürzen betroffen bin. Oder nehmen sie das Aufbrechen starrer Geschlechterrollen. Wenn nicht mehr vorgegeben ist, was Mann und Frau so zu tun haben, entsteht Gestaltungsraum.
    Und was die Schauspieler angeht: Bezahlen wir ihnen nicht gerade deshalb Millionen von Dollars und Euros, dass sie genau das können? Irgendetwas Faszinierendes muss da schon daran sein.
    Spätestens jetzt muss ich auf eine Punkt hinweisen: Sie gehen im Weiteren davon aus, dass sich DIE Identität ändert. So als würde ich sozusagen meinen Namen und alles damit verbundene tauschen wollen. Mein Punkt war ein anderer: Ich halte die Vorstellung einer festen, starrern, in jeder Situation gleich agierenden Identität für nicht zutreffend. Natürlich gibt es Facetten der Persönlichkeit, die sich wie ein roter Faden durch diese Situatiuonen ziehen, so etwas wie einen stabilen Kern. (Bei Mead wäre es übrigens das Self). Daneben gibt es aber auch eine Reihe von Teilidentitäten, und diese entstehen in der Situation mit Anderen. Wenn Sie Ihre Mutter besuchen, werden einfach andere Facetten Ihrer Persönlichkeit – andere Teilidentitäten- aktiv, als wenn Sie einen wissenschaftlichen Vortrag an einer Universität halten. In diesen Situationen wird unterschiedliches von Ihnen erwartet und dies trägt zu Ihrem Bild von “Ich bin Sohn” und “Ich bin Wissenschaftler” bei. (Me bei Mead). Und um diese Teilidentitäten geht es mir, also um die Facetten der Persönlichkeit, die zum Teil durch Andere geweckt werden. Um es überspitzt auszudrücken: Wenn ich Kevin heiße und nicht als Person, sondern als Verhaltensstörung wahrgenommen werde, werde ich mich irgendwann so verhalten, wie es von mir erwartet wird: verhaltensgestört. Das wird Teil meiner Identität in dieser Situation, zum Beispiel Schule.Das heißt überhaupt nicht, dass ich 100% meiner wachen Zeit verhaltensgestört bin. Irgendwo wird sich eine Situation finden lassen, wo ich etwas Anderes bin, vielleicht interessiert und aufgeweckt. Diese Seiten gilt es dann zu suchen und weiterzu entwickeln,sei es, weil ich als Kevin irgendwann ein anderes als “verhaltensgestörtes” Leben leben möchte. Sei es, weil es in meiner Umgebung jemanden gibt, der an meine Fähigkeiten glaubt und diese fördert. Und wenn es gut läuft, dann stehen irgendwann die Fähigkeiten im Vordergrund und nicht das alles überschattende “Ich, Kevin, bin verhaltensgestört”. Dann tritt an die Stelle vielleicht ein: “Ich, Kevin, bin jemand, der gerne lernt.” Und damit die Eatblierung einer neuen, anderen Teilidentität.Und das ist weder pathologisch noch schizophren und hat auch nichts mit Persönlichkeitsspaltung zu tun. Es geschieht zum Beispiel immer dann, wenn wir einmal aufhören, auf die Schwächen von Menschen zu schielen, sondern beginnen, uns auf die Stärken zu konzentrieren. Und es ist der Kerngedanke jeder menschlichen Entwicklung.

  4. @Martin Bolt

    Sie schreiben:
    “Heute sind die Lebenswege weniger festgelegt, die Wechsel variabler und auffälliger.” Nun ich denke, es gibt viele Wechsel, die auffälliger werden. Und wahrscheinlich noch viel mehr, die uns so vertraut sind, dass sie uns schon gar nicht mehr auffallen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Heute sind die Menschen (ich muss ergänzen in unserer Gesellschaft) die Ausnahme, die mit ihrem ersten Partner ein Leben lang zusammenbleiben. Es ist noch gar nicht lange her, da war es genau andersherum.
    Ich danke Ihnen auch für den Hinweis auf die Zeremonien, da habe ich zunächst gar nicht dran gedacht :-)Interessant ist bei der Hochzeit zum Beispiel auch: Es wird als völlig normal angesehen, dass einer der Beteiligten einen wichtigen Teil seiner bzw. in diesem Fall meist ihrer bisherigen Identität aufgibt, den eigenen Namen, um einen anderen anzunehmen. Wenn beide gemeinsm einen neuen -gemeinsamen-Namen finden würden, würde das unserer heutigen Auffassung von Hochzeit wahrscheinlich mehr entsprechen.

  5. Identität und Rolle

    @Jürgen Bolt und Simone D. Wiedenhöft
    Meinen ersten Kommentar hier “I bin I”, habe ich ohne zu überlegen quasi in einem Akt des Écriture automatique zu Papier gebracht. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich mit der gestalteten Identität und dem Identitätswechsel bedingt durch Umzüge und Wechsel der Lebensumstände begonnen habe und schliesslich beim Identitätswechsel im Film gelandet bin, wo ich festgestellt habe, dass dort – in vielen Filmen, die Identitätswechsel zum Thema haben – eine Psychopathologie im Hintergrund steht. Dahinter steht folgendes:

    Wir alle nehmen zu verschiedenen Zeitpunkten und unter verschiedenen Lebensumständen verschieden Rollen ein. Doch ist ein Rollenwechsel ein Identitätswechsel? Bis zu einem gewissen Grad vielleicht. Doch es gibt einen tieferen Kern der Identität, der nicht so leicht ausgetauscht werden kann. Dieser Kern wird durch unser Gedächtnis, unsere Erinnerung und auch durch Persönlichkeitsmerkmale bestimmt, die wir nicht kontrollieren können. Dieser Identitätskern ändert sich möglicherweise kaum je, ausser eben bei einer psychopathologischen Entwicklung.

    Vielleicht gibt es gerade darum, weil wir diesen tieferen Identitätskern nicht abschütteln können, das Bedürfnis nach Rollenwechsel. Und das schon lange. Als Maskerade, als Tapetenwechsel, als “Saturday night fever”.

    Was heute aber zugenommen hat, ist die Identitätsunsicherheit. Die Frage, “wer bin ich?” ist für viele schwieriger zu beantworten als früher. Unsicherheit in der Identität ist selber aber schon fast wieder ein psychopathologisches Problem, denn damit ist auch ein geringes Selbstwertgefühl verbunden. Identitätsunsicherheit ist ein zentrales Merkmal des Borderline Syndroms, einer heutigen Modediagnose, an der auch -interessanterweise – sehr viele Schauspieler leiden sollen.

    Was ist der Gegenpol von Identitätsunsicherheit. Vielleicht ist es das Urvertrauen. Der Begriff Urvertrauen lässt einen fragen: “vertrauen in was?”. Nun, es kann wohl nur das Vertrauen in einen selbst sein und dieses Vertrauen kann man nicht begründen oder aus einer Leistung ableiten. Es ist da oder eben nicht.

  6. Bin ich meine Identität?

    Ich finde Ihren Text sehr interssant, er regt an, dem was ich zu sein glaube nachzugehen und so manche Entdeckung zu machen die zur Enttäuschung führt. Ja, die Informationen, die über meine Identität vorliegen treffen einfach nicht den Kern.
    Ohne jedes Merkmal, jede mir angedichtete – und vielleicht auch noch von mir als Glaube übernommene – Eigenschaft, dieses Konglomerat von Mustern, Vorstellungen und Überzeugungen wäre noch immer etwas da, nackter, blanker, unschuldiger aber zweifelsfrei das was und wer ich schon immer war.

    Es ist doch ein Abenteuer, wie wir zu Überzeugungen gelangen so oder so oder anders zu sein. Wie ein komplexes Bild von einer Persönlichkeit entsteht, das den anderen, zumindest aber unseren Liebsten, und obendrein auch noch uns selbst gefallen soll.

    Und wenn ich dann endlich so bin, wie ich glaube dass ich sein muß, dann werden die anderen mich akzeptieren und lieben und alles wird gut. Da gehe ich doch am besten gleich morgen zum Fotografen um neue Ausweisfotos schießen zu lassen – Identitätsupdate.

  7. @ Timo Bosh

    “Ohne jedes Merkmal, jede mir angedichtete – und vielleicht auch noch von mir als Glaube übernommene – Eigenschaft, dieses Konglomerat von Mustern, Vorstellungen und Überzeugungen wäre noch immer etwas da, nackter, blanker, unschuldiger aber zweifelsfrei das was und wer ich schon immer war.”

    Wunderbar! Sehr gut!

  8. @ Bosh

    “Ohne jedes Merkmal, jede mir angedichtete – und vielleicht auch noch von mir als Glaube übernommene – Eigenschaft, dieses Konglomerat von Mustern, Vorstellungen und Überzeugungen wäre noch immer etwas da, nackter, blanker, unschuldiger aber zweifelsfrei das was und wer ich schon immer war.”

    (neugierig):
    Und was ist das, wie sieht es aus, woraus besteht es, dies Wesen, diese Substanz ohne Akzidens, die Sie schon immer waren?

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