Angewandte Wissenschaft der Nachhaltigen Entwicklung – Heute: Fahrradfahren

BLOG: Sustain O'Brain

Nachhaltig nachdenken in psychologischen Tiefen
Sustain O'Brain
Das Fahrrad gilt als das nachhaltigste Verkehrsmittel schlechthin. Sein Betrieb setzt keine Schadstoffe frei, es produziert meist keinen Lärm und sein regelmäßiger Gebrauch senkt das Herzinfaktrisiko seiner Benutzer laut WHO um 50 %. Zudem ist es in Innenstädten oft schneller als jedes andere Verkehrsmittel. Und das sind nur einige Vorteile, die die Befürworter des Fahrradfahrens anführen. Ach ja, günstiger als ein Auto ist es allemal. 
Angesichts autoverstopfter Innenstädte gerade zu Berufsverkehrszeiten und viel beklagtem Bewegungsmangel in der Bevölkerung wundert es nicht, wenn das Bundesministerium für Verkehr gemeinsam mit einer Krankenkasse auffordert: Leute, fahrt mit dem Rad zur Arbeit! Gesagt, getan.
Als Studentin Fahrrad zu fahren ist überhaupt kein Problem. Mit dem offiziellen Status „studierend“ ist es völlig egal, in welchem äußeren (und manchmal auch innerem) Zustand man in der Uni sitzt. Mehr noch, meist erwartet das Umfeld sogar eine gewisse chaotische Zerrupftheit. Es machte also gar nichts, wenn ich nach hektischer Fahrt keuchend und schwitzend, mit heißem Kopf und wildem Haar, in meinen Seminarraum platzte. Ich hatte zudem das Glück, in einer norddeutschen Großstadt zu studieren. Dem Fahrvergnügen steht dort nichts mehr im Wege, denn deren höchste Erhebung beläuft sich auf 49 m über NN – und das ist der Berg der Mülldeponie. 
Fahrrad fahre ich immer noch, doch andere Dinge haben sich entscheidend verändert.
Zum einen ist es nun nicht mehr der hohe Norden, sondern einer der südlichsten Zipfel der Republik. Hier fahren sie nicht Fahrrad, sondern mit dem Radl und lachen über norddeutsche Berge. Zum anderen bin ich nun keine Studentin mehr, es wird also ein gewisses dem Arbeitsfeld angemessenes Auftreten von mir erwartet. Denken Sie jetzt an nette Klamotten, eine hübsche und gut sitzende Frisur und dezentes Makeup? Ja, stimmt genau. Moment, werden Sie dann fragen, wie passt das zum Fahrradfahren in (diesmal tatsächlich bergiger) Landschaft? Gar nicht, werde ich Ihnen antworten.
In dem Artikel, der mich zu diesen Gedanken veranlasst hat, geht es ebenfalls um die Vorzüge des Fahrradfahrens, und dem dazugehörigen Bild nach zu urteilen, um den Arbeitsweg. Darauf findet sich eine attraktive Frau in besagten hübschen Businessklamotten inklusive Frisur und Makeup, die auf ihrem Hollandrad fröhliche Faxen macht. Natürlich findet das Ganze bei strahlend blauem Himmel statt. Hm, irgendetwas scheine ich falsch zu machen, mein Radfahren sieht anders aus.
Juli: Es regnet Katzen und Hunde aus Kübeln und das tagelang. Ich krame mein altes Cape heraus. Nach 5 Minuten Fahrt stelle ich fest, dass das eine doofe Idee ist. Dummerweise habe ich noch 10 Minuten vor mir. Die Kollegen sind so diskret, mich nicht auf den schwarzen Wimperntuschenschmier aufmerksam zu machen, der sich quer über meine Wange zieht. Morgen gehe ich zu Fuß.
August: Hochsommer. Das Wetter beeindruckt morgens um 9:00 Uhr mit 22 Grad Celsius. Erfreut über den Sonnenschein strampele ich meinen Hausberg hoch. Als ich oben ankomme, bin ich komplett durchgeschwitzt und stehe kurz vor einem Herzinfakt. Ich stelle fest, dass eine Hemdbluse als Oberbekleidung ebenfalls eine doofe Idee ist. In Zukunft erprobe ich verschiedene Möglichkeiten, ein frisch gebügeltes Hemd knitterfrei in einem Rucksack zu verstauen, wenn sich darin schon ein Notebook, diverse Unterlagen, Stifte und Proviant befinden.
Dezember: Ich sitze im Büro. Mittags fängt es an zu schneien. Als ich mich auf den Heimweg mache, schneit es immer noch und mir mitten ins Gesicht. Jetzt hat sich der Schnee auf der Straße zu einer glitschigen Matsche weiterentwickelt. Auf einer Kreuzung nimmt mir ein Autofahrer die Vorfahrt (was eigentlich fast immer an dieser Kreuzung passiert), ich komme ins Schlittern, kann mich aber fangen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mein Heimweg hauptsächlich bergab führt. Schön, dass am nächsten Morgen die Straßen geräumt sind. Nicht so schön, dass die Räummannschaften die Kreuzungen zwar frei, den Matsch aber in hohen Haufen auf den Radweg geschaufelt haben.
Solche Bedingungen holen keinen passionierten Autofahrer dauerhaft auf den Fahrradsattel. Will man das Fahrrad als ernstzunehmendes Verkehrsmittel in zumeist fahrradfeindlicher Umgebung etablieren, muss etwas anderes her, etwas, das den Verlust an Bequemlichkeit aufwiegt. (Und das geht selbst in amerikanischen Großstädten, wie Bayern 2 im Dezember letzten Jahres in einer längeren Reportage berichtete!) Mein persönlicher Beitrag zu dieser Diskussion:
1) Fahrradfahren macht schlau!
Wenn ich Kleidung, Notebook, Unterlagen und Proviant so sortiere, dass ich die Klamotten noch anziehen kann, der Proviant sich nicht ungewollt im Rucksack verteilt, ich an alles herankomme, was ich unterwegs eventuell benötige, nichts Wesentliches vergesse, das Ganze bei Regen nicht nass wird und ich auf dem Rückweg zusätzlich Platz für den Einkauf schaffe, trainiert das ganz nebenbei räumliches Vorstellungsvermögen, Kreativität, Gedächtnis. Und ich mache einen zusätzlichen Master in Logistik.
 
2) Fahrradfahren macht glücklich!
Es gibt zwei Dinge, deren Beherrschung laut meines Lieblingsratgebers quasi den Königsweg darstellen zum Glück: Achtsamkeit und Gelassenheit. Da auch ich gern glücklich sein möchte, versuche ich mich fleißig in beidem. Fahrradfahren bietet hierbei vielfältige Übungsmöglichkeiten. Das achtsame Sein im Hier und Jetzt klappt schon ganz gut. Muss es auch, wenn ich nicht unter Rädern oder in Matschhaufen landen möchte. Großmeister in Gelassenheit bin allerdings wahrlich nicht und so finden sich auf jeder Fahrt reichlich Übungssituationen. Zum Beispiel dann, wenn ich auf meinem Hausberg intimen Kontakt mit einem fremden Kotflügel bekomme, weil der Autofahrer gerne in der Kurve überholen möchte. Ob das Üben in Gelassenheit zu meinem ultimativen persönlichen Glück beiträgt, kann ich noch nicht sagen (das Experiment läuft noch), aber zu einem entspannteren Arbeitsweg tut es das allemal. Und das macht zumindest meine Kollegen glücklich.
3) Fahrradfahren macht frei!
Zunächst gibt es einen ganz naheliegenden Freiheitsaspekt. Fahrradfahren macht unabhängig von Abfahrtszeiten, verstopften Straßen und nichtvorhandenen Parkplätzen, das ist nichts Neues. Aber es gibt noch eine tiefere Dimension: Fahrradfahren trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Ich finde zu mir selbst und meinen Bedürfnissen (zum Beispiel: Trocken ankommen). Nach und nach mache ich mich frei von anderer Leuts Meinungen und Urteilen. Ich konzentriere mich auf meine innere Attraktivität. Denn mit der Zeit ist es mir egal, dass ich – je nach Jahreszeit – aussehe wie ein Michelinmännchen, ein tropfnasser Pudel, ein Megasporty oder ein fahrendes Dreimannzelt. Oder dass meine Wimperntusche im ganzen Gesicht zu finden ist. (Da ich unter 1. schon dazugelernt habe, trage ich diese nicht auf meinen Wimpern, sondern in der Tasche.) Nebenbei lerne ich, gekonnt Prioritäten zu setzen und meine Tätigkeiten nach diesen Prioritäten zu organisieren.
 
Um all diese Dinge zu üben, geben manche wahnsinnig viel Geld für Seminare aus. Ich fahre einfach Fahrrad. Na, wenn das kein gutes Argument ist… 😉

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Simone D. Wiedenhöft - Diplom-Psychologin, Beraterin für Kommunikation in nachhaltiger Form und bald auch Doktorandin zum Thema - interessiert sich gemeinhin für das, was Menschen umtreibt und dazu und vor allem für das, was Menschen wachsen lässt. Hier denkt sie nachhaltig nach über alles, was im Entferntesten mit Nachhaltigkeit zu tun hat, und findet die Psychologie der kleinen und großen Dinge viel zu spannend, um sie dabei links liegen lassen zu können. Kontakt: sustain.o.brain (at) lern.ag

4 Kommentare

  1. Zen und die Kunst Rad zu fahren

    Amüsant. Sie scheinen ja eine aufgedrehte Nudel zu sein.
    Schreiben sie doch mal einen Ratgeber. Der würde bestimmt gut ankommen. So a la Hirschhausen. Ratgeber gehören zu den meist verkauften Büchern. Davon könnten sie leben.

  2. das Fahrrad

    Word Up!
    Ich habe immer wieder darüber nachgedacht,aus logistischen Gründen und wegen der freien Bewegung über grössere Entfernungen,mir ein Auto zuzulegen!
    Hab es bisher aber nicht getan,da es auch ohne ging!
    Ich bin jetzt 36 Jahre alt und habe mit 29 Jahren den Führerschein gemacht,damit ich ihn überhaupt noch mache!
    Komischerweise fragen mich immer wieder Freunde und Bekannte,warum ich immer noch so fit bin!Geistig und körperlich!
    Jedes automatisierende Hilsmittel macht uns das Leben scheinbar einfacher,da uns gewisse Denkarbeit und Konfliktsituationen und Reaktionsmomente abgenommen werden!Es macht und aber auch unflexibler ohne diese Hiflsmittel und somit abhängiger!Wer freies Denken und Handeln fördern will,sollte sich genau überlegen welcher Automatismus für genau die Entwicklung hilfreich oder bremsend ist…
    Fahrradfahrn ist meines Erachtens dabei essentiell,würde ich sagen…
    One Love

  3. Es fehlt noch die Feststellung, dass es im Fahradmarkt auch ausreichend innovatives technisches Spielzeug gibt, um auch männertauglich zu sein und als Rolexersatz her zu halten zu können.

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