Vor 10 Jahren – Ein Vogel und sein Taktgefühl

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Streifzüge rückwärts

„Wenn Sie ein Video von einem Hund sehen, der eine Zeitung laut vorliest, wären Sie ziemlich beeindruckt, richtig? Für Leute in Musik-Forscherkreisen war ein Kakadu, der im Takt tanzt, genau so,“ sagte Aniruddh Patel, damals damals am Neurosciences Institute in San Diego, in einem Interview mit der New York Times.

Der Kakadu, um den es geht, heißt Snowball. Er wurde im August 2007 in einem Vogelschutzzentrum in Indiana abgegeben – zusammen mit einer CD und dem Hinweis, dass der Papagei gerne zu diesen Liedern tanzt. Als die Betreiber des Zentrums Snowball tanzen sahen, waren sie begeistert und stellten Videos ins Internet. Snowball wurde zum YouTube Star, eroberte die Klicks und Likes im Sturm, wurde von Patel entdeckt und wenig später zur wissenschaftlichen Sensation.

Denn das, was Snowball tat, widersprach jeder Theorie. Tiere, so dachte man, können nicht tanzen. Die Fähigkeit, die eigenen Körperbewegungen an akustische Rhythmen anzupassen, so die vorherrschende Meinung, sei den Menschen vorbehalten. In der Tat hat noch keiner Hunde, Katzen, Pferde und Hühner tanzen sehen. Snowball aber stampfte mit seinen Füßen, hob und senkte den Kopf – alles im Takt zu „Everybody“ von den Backstreet Boys. In einer Reihe von Experimenten untersuchte Patel das Phänomen genauer. Er beschleunigte und verlangsamte das Lied und Snowball passte seine Bewegungen jeweils an die Geschwindigkeit an.

Warum also ausgerechnet ein Papagei? Was haben Papageien und Menschen gemeinsam? Außer tanzen zu können, haben beide Spezies noch eine weitere seltene Begabung: Laute nachahmen. Patel stellte die Hypothese auf, dass beides zusammenhängt. Um Laute nachahmen zu lernen, ist eine gute neuronale Verbindung zwischen Hörzentrum und Bewegungszentrum im Gehirn nötig – wir müssen unsere eigene Lautproduktion an Gehörtes anpassen. Vielleicht ist das auch eine Voraussetzung, um tanzen zu lernen?

In der Tat ist der motorische Kortex (die Hirnregion der Bewegungssteuerung) bei uns Menschen aktiv, wenn wir Musik hören – auch wenn wir nicht dazu tanzen. Denn hier werden zeitliche Vorhersagen berechnet. Musik hat viel mit Zeitempfinden zu tun. Wir haben die letzten paar Noten im Kopf und sagen die nächsten voraus. Musik spielt mit Vorhersagen, manchmal werden sie erfüllt und manchmal auch nicht. Gerade deshalb ist Musik so schön.

Weil Musik mit Vorhersagen spielt, ist sie ein gutes Werkzeug, um ein neuronales Kodierungsprinzip zu untersuchen, das in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erfahren hat: „predictive coding“. Nach diesem Modell stellt das Gehirn ständig Vorhersagen darüber an, welche sensorischen Reize in den kommenden Augenblicken auf es einströmen werden – wir können sie so dann schneller verarbeiten.

Vorhersagen werden im motorischen Kortex berechnet und dabei spielen neuronale Oszillationen eine wichtige Rolle – also das regelmäßige Pulsieren vieler Neurone gleichzeitig. Wenn wir Musik hören richten sich die neuronalen Oszillationen am Takt der Musik aus und erzeugen so einen internen Takt, mit dem der nächste Schlag vorausgesagt werden kann.

Oszillationen können noch mehr. Wenn wir einen regelmäßigen Taktschlag hören und uns einen Walzer vorstellen, passen sich neuronale Frequenzen entsprechend an und schwingen auch bei 1/3 der Geschwindigkeit. Stellen wir uns hingegen einen Marsch vor, schwingen sie bei der halben Geschwindigkeit. Wenn wir einen komplexen Rhythmus hören, filtern Oszillationen den regelmäßigen Taktschlag heraus. Sie helfen uns, aus der Struktur der Schläge einen Rhythmus zu hören. Auch bei der Sprache spielen Oszillationen eine große Rolle. Sprache ist eine sehr rhythmische Angelegenheit und das Gehirn braucht Oszillationen, um Sprache zu segmentieren und zu verstehen. Sprache und Musik bauen also auf ähnlichen Gehirnstrukturen und neuronalen Mechanismen auf.

Predictive coding und Oszillationen sind aber in der Evolution nicht nur entstanden, damit wir sprechen oder Musik hören können. Vielmehr handelt es sich hierbei um sehr grundlegende Mechanismen. Sie spielen überall im Tierreich eine Rolle. Ob nun eine Gruppe Fische synchron links abbiegt oder ob ein Hund in die Höhe spring um einen Ball zu fangen – immer spielen genau getimte Vorhersagen eine Rolle.

Musikalischem Rhythmusgefühl liegen diese grundlegenden Fähigkeiten des Gehirns, Vorhersagen zu machen, zugrunde. Wenn man das bedenkt, wundert man sich gar nicht mehr so sehr, dass der Kakadu auch eine gewisse Musikalität zeigt. Man wundert sich eher, dass Musikalität im Tierreich doch selten ist.

Vielleicht sind Tiere jedoch, was das Tanzen angeht, begabter, als man bisher weiß. Denn nicht nur Snowball überraschte mit dieser Fähigkeit. Inzwischen kennt man etliche Tiere, die zumindest bis zu einem gewissen Grad gelernt haben, ihre Bewegungen oder Lautäußerungen an gehörte Rhythmen anzupassen: Weitere Papageien, Zebrafinken, ein asiatischer Elefant, ein Seelöwe namens Ronan, ein Bonobo, ein Schimpanse. Aber so gut wie Menschen tanzen sie alle nicht – die Musikalitätsforschung ist also noch nicht am Ende.

 

Literatur:

Patel AD (2014) The Evolutionary Biology of Musical Rhythm: Was Darwin Wrong? PLoS Biol 12(3): e1001821. doi:10.1371/journal.pbio.1001821
(Aniruddh Patel über seine Gedanken zur Evolution und seine „vocal learning hypothesis“)

Large EW, Herrera JA and Velasco MJ (2015) Neural Networks for Beat Perception in Musical Rhythm. Front. Syst.Neurosci.9:159. doi: 10.3389/fnsys.2015.00159
(Review zum Thema neuronale Oszillationen und Rhythmus)

Peter Vuust and Maria A. G. Witek (2014) Rhythmic complexity and predictive coding: a novel approach to modeling rhythm and meter perception in music. Front. Psychol., 01 October 2014. doi:10.3389/fpsyg.2014.01111
(zum Thema “predictive coding” und Musik)

Doelling KB, Arnal LH, Ghitza O, Poeppel D (2014) Acoustic landmarks drive delta–theta oscillations to enable speech comprehension by facilitating perceptual parsing. Neuroimage 85: 761 – 768. doi:10.1016/j.neuroimage.2013.06.035
(Studie zu Oszillationen und Sprache)

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Erst wollte ich Biologin werden – ich habe studiert, promoviert und als Postdoc geforscht. Nun bin ich Wissenschaftsjournalistin und darf jetzt das, was einst mein Leben war, von außen betrachten. Ich schreibe über Lebenswissenschaften, Molekularbiologie und Neurowissenschaften für die Fach- und für die Publikumspresse. Die Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft faszinieren mich schon immer – ihnen widme ich diesen Blog.

3 Kommentare

  1. Dies hier :

    -> https://www.youtube.com/watch?v=R2trRbg6P38

    … “zusammengeschnitten”, die Katzen tanzen nicht, sondern sie starren nebeneinander aufgereiht auf einen vom Menschen gereichten Gegenstand.

    ‘Snowball’ ist wirklich ein Genie (wie Freddie es auch war), vergleiche :

    -> https://www.youtube.com/watch?v=cJOZp2ZftCw

    Gerne auch Vids wie solche geeignet in die Publikation selbst einbauen, liebe Frau Weigmann, gute Arbeit, danke.

    MFG
    Dr. Webbaer (der i.p. “predictive coding” jetzt nicht so-o glücklich wird, den Begriff meinend, was sollte Coding anders sein als prädiktiv Gedachtes wie Ausgeführtes?)

    PS zu ‘Die Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft faszinieren mich schon immer – ihnen widme ich diesen Blog.’ :
    Wissenschaft, Naturwissenschaft, ist Veranstaltung.

  2. PS :

    Vielleicht liegt bei Kakadus, bei Papageien, generell eine Störung vor, d.h. sie müssen ihre tonal wahrgenommene Umgebung durch Bewegung oder Äußerung reflektieren.
    Evolutionär scheint dies keinen Sinn zu ergeben.

    Dr. W tanzt insofern nicht, hat diesbezüglich keinerlei Talent, gönnt dieses anderen, er ließ stets tanzen, gelegentlich.
    IYKwIM

    Das Tanzen müsste eine Art Zeitvertreib sein, um sich, auch bei schwierigen körperlichen Arbeiten, dem Geist entledigen zu können, bestmöglich.
    Später dann zu Folklore geworden.

  3. Die Idee des ´predictive coding´ – dass unser Gehirn ständig Vorhersagen erstellt, damit eine schnelle Reaktion möglich ist – ist fragwürdig. Unser Gehirn ist kein Orakelinstrument.
    Vielmehr ist es so, dass unser Gehirn als Reaktion auf einen neuen Reiz – sofort vergleichbare/identische eigene Erfahrungen RE-AKTIVIERT. Durch das Reaktivieren eigener Erfahrungen können wir verstehen was wir wahrnehmen und gleichzeitig schnell reagieren. Unsere erste Reaktion ist also ein Vorurteil – Schnelligkeit geht vor Genauigkeit – das ist eine Überlebensfunktion.
    Eine Erfahrung besteht aus Wissen, Körper-/Immun-/Sinnes-Reaktion und Emotion.
    Das sofortige RE-AKTIVIEREN eigener Erfahrungen als Reaktion auf einen Reiz – ist die Grundlage von Empathie, Theory of Mind, aber auch von Vorurteil und falschen Erinnerungen; sowie des Placebo-Effekts.

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