April 1979 – Unfall in der Biowaffenfabrik

Vor 40 Jahren – im April 1979 – brach in der UdSSR in der Nähe von Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg, eine Epidemie aus. Menschen erkrankten an einer mysteriösen Seuche mit Fieber, Husten, Schmerzen in den Lungen, innere Blutungen und Erbrechen. Die meisten starben innerhalb von 48 Stunden nach dem Auftreten der Symptome. Etwa 100 Opfer forderte die Seuche.

Die Ursache? Die wurde vertuscht. Eiligst reiste ein Team aus Moskau an, um die Epidemie zu „untersuchen“. Milzbrand-verseuchtes Fleisch lautete ihr Urteil. Und sie taten, was sie konnten, dieses Szenario glaubhaft zu verkaufen und alle Gegenbeweise unter den Teppich zu kehren. Krankenhausberichte und Autopsie-Protokolle wurden konfisziert.

In Wirklichkeit – und daher rührt auch die eifrige Vertuschungsaktion – war es ein Unfall in einer nahe gelegenen geheimen Militärbasis namens „Swerdlowsk -19“. Hier wurden in großem Maße Milzbrandsporen für Biowaffen aufgearbeitet. Natürlich verstieß das klar gegen die Biowaffenkonvention, die die Sowjetunion mitentwickelt und 1972 unterzeichnet hatte.

Ein fehlender Filter war die Unfallursache. Ein Techniker hatte ihn herausgenommen, weil er verstopft war. Aber irgendwie ging seine Nachricht darüber verloren und die Produktion wurde in der nächsten Schicht ohne Filter in der Abluftanlage wieder hochgefahren. So gelangten am 2. April 1979 Milzbrandsporen in die Umwelt. Wahrscheinlich war es nur eine geringe Menge, weniger als ein Gramm. Aber das genügte, um die verheerende Epidemie auszulösen. Und es hätte weit schlimmer kommen können, hätte der Wind die Sporen in Richtung Stadt und nicht über ein dünnbesiedeltes Waldgebiet getragen.

Die Fabrik in Swerdlowsk wurde geschlossen. Aber das war nicht das Ende der russischen Biowaffenforschung. „Swerdlowsk -19“ war nur ein Teil eines sehr viel größeren Projekts. Die Sowjetunion betrieb unter dem Namen Biopreparat seit 1973 – also quasi beginnend mit der Unterzeichnung der Biowaffenkonvention – ein riesiges Biowaffenprogramm, mit etwa 40 Anlagen in verschiedenen Städten über das ganze Land verteilt und zehntausenden von Mitarbeitern. Sie forschten unter anderem an Milzbrand, Ebola, Pest, Pocken und Marburg-Virus.

Einen Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmte mit der Geschichte des verdorbenem Fleischs in Swerdlowsk, gab es schon früh.  Gerüchte sickerten durch, Medien berichteten und im März 1980 konfrontierte die USA die UdSSR mit dem Verdacht, gegen die Biowaffenkonvention zu verstoßen. Diese dementierten. Zu einer formalen Anklage vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kam es nicht. Und so blieb der Verdacht sehr lange ein Verdacht.

Das ganze flog erst viele Jahre später auf. 1989 und 1992 setzten sich zwei hohe Mitarbeiter von Biopreparat in den Westen ab – Wladimir Passetschnik und Ken Alibek. Beide bestätigten unabhängig voneinander den Unfall in Swerlowsk und die Ausmaße des sowjetischen Biowaffenprogramms.

Ebenfalls im Jahr 1992 besuchten erstmals westliche Wissenschaftlern Swerlowsk. Ein Team um den Harvard-Biologen und Biowaffenexperten Matthew Meselson interviewte Verwandte der damaligen Opfer und untersuchte Biopsieproben und Material, das sowjetische Ärzte und Pathologen damals heimlich gerettet hatten. So häuften sich die Beweise, dass es sich bei der Epidemie um einen Unfall in der Biowaffenfabrik handelte. Zum einen hielten sich Opfer, deren Tagesablauf rekonstruiert werden konnte, in einem schmalen Streifen südöstlich der Fabrik auf – und am 2. April 1979 blies der Wind nach Südosten. Darüber hinaus zeigten Fotos von den Opfern und Biopsien, dass die Milzbrandsporen eingeatmet, nicht gegessen wurden. Also kein verseuchtes Fleisch.

13 Jahre hat es gedauert, einem Verdacht auf Verletzung der Biowaffenkonvention nachzugehen und den Unfall von Swerdlowsk zu untersuchen. Und dass dies passierte, beruhte auf einer Privatinitiative – denn die Biowaffenkonvention sieht keinen Mechanismus vor, mit dem die Einhaltung des Vertrages kontrolliert werden könnte. Trotz einiger Bemühungen wurden bis heute keine entsprechenden Vereinbarungen getroffen. Gerade angesichts der Fortschritte in der Gentechnologie und der synthetischen Biologie wäre es jedoch sicher sehr sinnvoll, weiter darauf hinzuwirken, die Biowaffenkonvention zu stärken.

Wissenschaftliche Studien zu den Ursachen des Milzbrandunfalls in Swerdlowsk:

Abramova FA, Grinberg LM, Yampolskaya OV, Walker DH. (1993). Pathology of inhalational anthrax in 42 cases from the Sverdlovsk outbreak of 1979. Proc Natl Acad Sci U S A. 90(6):2291-4.

Meselson M, Guillemin J, Hugh-Jones M, Langmuir A, Popova I, Shelokov A, Yampolskaya O. (1994). The Sverdlovsk anthrax outbreak of 1979. Science 266(5188):1202-8.

Hintergrundinformationen:

Jeanne Guillemin (2002). The 1979 Anthrax Epidemic in the USSR: Applied Science and Political Controversy. Proc Am Philos Soc. 146(1):18-36.

Ken Alibek, Steven Handelman (1999) Biohazard: The Chilling True Story of the Largest Covert Biological Weapons Program in the World – Told from Inside by the Man Who Ran It. Random House, ISBN 0-385-33496-6.

Sarah Zhang (22. Nov. 2016). How DNA Evidence Confirmed a Soviet Cover-Up of an Anthrax Accident. The Atlantic

Paul S. Keim, David H. Walker, Raymond A. Zilinskas (Dez. 2017). Die Milzbrand-Bedrohung. Spektrum der Wissenschaft

Zum Thema Biowaffenkonvention:

Bundeszentrale für politische Bildung (2013). Verbot ohne Überprüfung – die Biowaffenkonvention (BWK) und ihre Lücken.

Informationen des Auswertigen Amts über die Biowaffenkonvention

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Erst wollte ich Biologin werden – ich habe studiert, promoviert und als Postdoc geforscht. Nun bin ich Wissenschaftsjournalistin und darf jetzt das, was einst mein Leben war, von außen betrachten. Ich schreibe über Lebenswissenschaften, Molekularbiologie und Neurowissenschaften für die Fach- und für die Publikumspresse. Die Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft faszinieren mich schon immer – ihnen widme ich diesen Blog.

4 Kommentare

  1. Vielen Dank für den bereit gestellten Inhalt, Dr. Webbaer ergänzt und kommentiert in der Folge ein wenig :

    1.)
    Derartige Konvention muss nicht greifen, wenn Gesellschaftssysteme gemeint sind, die nicht aufklärerisch sind, keine Liberale Demokratie, das Fachwort an dieser Stelle, pflegen.
    Wenn also explizit nicht liberale Demokratie auf der anderen Seite bereit steht.
    Verglichen werden darf an dieser Stelle mit Nord-Korea und dem Iran, wie auch mit Pakistan.

    2.)
    Insofern sind derartige Konventionen (K. meinen ein Zusammenkommen, so wörtlich, im Maximalfall eine verbindliche Absichtserklärung) und Verträge mit “Global Playern”, die nicht so pflegen, wie in Punkt 1 genannt, mit Vorsicht zu genießen.

    3.)
    Extrapoliert werden darf womöglich auch derart, dass auch innerlich, die innere Sicherheit liberaler Demokratie meinend, derart Gesetze erlassen oft die Täter nicht berühren, wohl aber die potentiellen Opfer; ja, hier sind auch Waffengesetze gemeint.

    4.)
    Womöglich darf an dieser Stelle auch der Name Boris Nikolajewitsch Jelzin fallen, die bekannte Online-Enzyklopädie weiß wie folgt – ‘The incident was reported to military command, but local and city officials were not immediately informed. Boris Yeltsin, a local Communist Party official at this time, helped cover up the accident.’ [Quelle] – einzuschätzen, bisher unwidersprochen.

    5.)
    Insofern raten einige an, vgl. hiermit – ‘Gerade angesichts der Fortschritte in der Gentechnologie und der synthetischen Biologie wäre es jedoch sicher sehr sinnvoll, weiter darauf hinzuwirken, die Biowaffenkonvention zu stärken.’ (Artikeltext, letzte Absätze haben oft etwas Fazitäres) – in keinem Fall naiv zu sein.

    MFG
    Dr. Webbaer

  2. Wirklich gefährlich wird Biowaffentechnologie, wenn sie auch von kleinen Gruppen entwickelt und eingesetzt werden kann – wenn also quasi der Terrorist von nebenan eine tödliche Krankheit auf die ganze Menschheit loslassen kann.

    Ich behaupte: Wir sind gar nicht weit von diesem Punkt entfernt. Ich erinnere mich an ein Interview mit Jennifer Doudan (CRISPR) in dem sie auf eine Frage nach den Voraussetzungen für CRISPR antwortete: Ja, sie selber könnte bei Bedarf ein CRISPR-Projekt in ihrer eigenen Küche durchführen. Nun, wenn sie das kann, dann können das auch Terroristen. Irgendwann wird mit Sicherheit jemand einen Designervirus auf die Welt loslassen.

  3. Drohnenangriffe müssten, werter Herr Holzherr alsbald auf der Tagesordnung stehen, sozusagen.
    Opi amüsiert sich durchaus in Anbetracht dieses Vorfalls (der in “westlichen sog. Qualitätsmedien beschwiegen blieb) derart webverwiesen :

    -> https://www.youtube.com/watch?v=EpFNCqCwVzo

    Sittliche Niedrigkeit im Sinne von ‘CRISPR-Projekt’ wird sich additiv ergeben, korrekt.
    Es liegt ein multi-kausaler Krieg vor, der von vielen alsbald erkannt werden wird.


    In anderen Medien, bspw. bei LiveLeak kann näher beschaut werden.
    Wie die Zukunft aussehen mag bis wird.

    HTH (“Hope to Help”)
    Dr. Webbaer

  4. Ich kenne das noch aus DDR-Zeiten: Damals haben die staatstreuen Medien eben alles ausgesiebt, was dem System bzw. der staatstragenden Ideologie schaden könnte .Motto: Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Man hat sich sozusagen ein realitätsfernes Gesellschaftsbild zusammengeträumt , woran man letztlich in der Realität
    -man bestimmte, was wahr ist- gescheitert ist. Warum habe ich bei der Lektüre unserer heutigen Medien bloß immer dieses Dejavue s ….

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