And the winner is: Shitstorm!

BLOG: Sprachlog

Alle Sprachgewalt geht vom Volke aus
Sprachlog

Button für den Anglizismus des Jahres 2011Im letzten Jahr haben wir den Shitstorm anfangs noch als Außenseiter abgetan — das Wort selbst (und auch das Phänomen, das es bezeichnet) schienen uns zu neu und in der Sprachgemeinschaft insgesamt zu wenig verbreitet. Tatsächlich landete es in der internen Abstimmung der Jury dann aber immerhin doch auf einem respektablen fünften und in der Publikumsabstimmung auf dem sechsten Platz.

Und in diesem Jahr haben es nun sowohl die Jury als auch das Publikum zum strahlenden Sieger gekürt. Was ist das also für ein Wort, und was erklärt den Sprung aus dem Mittelfeld an die Spitze des englischen Lehnguts?

Das Wort bezeichnet, grob gesagt, eine unvorhergesehene, anhaltende, über soziale Netzwerke und Blogs transportierte Welle lautstarker Entrüstung über das Verhalten öffentlicher Personen oder Institutionen, die sich schnell verselbstständigt und vom sachlichen Kern entfernt. Und das Phänomen solcher netzgestützter Entrüstungswellen scheint im vergangenen Jahr stark zugenommen zu haben. Es ist sicher kein Zufall, dass der Wikipediaartikel zu Shitstorm vom Juni 2011 stammt (in seiner aktuellen Fassung stützt er sich übrigens stark auf die exzellenten Blogbeiträge, die Jurymitglied Susanne Flach im letzten und in diesem Jahr im Rahmen unseres Wörterwettbewerbs verfasst hat). Die in diesem Artikel aufgeführten Beispiele von Shitstorms stammen alle von 2010 und 2011. Auch dem Onlinemagazin t3n ist die Häufung entfesselter Kritikwellen in den sozialen Medien aufgefallen, sodass man das Jahr 2011 Anfang Februar rückblickend zu einem „Jahr der Shitstorms“ ausrief.

(Auf Twitter hat das Phänomen zwischenzeitlich so überhand genommen, dass ich mich im Dezember genötigt sah, ganz gegen meine sprachwissenschaftliche Natur sprachschöpferisch tätig zu werden und ein Antonym zum Shitstorm zu schaffen — den Flauschstorm, bei dem das „Opfer“ auf den sozialen Netzwerken mit einem Sturm aus Lobes- und Liebesbekundungen überschüttet wird. Der Flauschstorm, manchmal auch Flauschsturm, hält sich übrigens bis heute auf Twitter, wird sich aber natürlich schon aus Befangenheitsgründen nicht für unsere Wörterwahl qualifizieren können, solange ich der Jury angehöre.)

Entscheidend für die Karriere des Wortes Shitstorm dürfte aber sein, dass diese Shitstorms im Laufe des Jahres immer häufiger auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden. Eine Google-Suche nach dem Wort liefert schon unter den ersten 20 Treffern aktuelle Artikel von den Webseiten des Bayerischen Rundfunks, der Financial Times Deutschland, des Handelsblattes, des Senders N24, der Rheinischen Post, der Süddeutschen Zeitung, der Welt und des Cicero (letzteres ein klarer Hinweis darauf, dass nun in den Feuilletons die Meta-Analyse dieses (netz-)kulturellen Phänomens beginnen wird; den Feuilletonist/innen sei dringend nahegelegt, sich zu diesem Zweck noch einmal Sascha Lobos Vortrag How to survive a shit storm von der re:publica 2010 zu Gemüte zu führen, der übrigens auch bei der Ausbreitung des Wortes eine Rolle gespielt haben dürfte).

Das Phänomen des Shitstorms ist auf diesem Weg ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gedrungen, und die brauchte ein Wort. Und da das Phänomen sein Wort selbst mitbrachte, übernahm es die Sprachgemeinschaft einfach. Seine Lautstruktur stellt dabei keine besonderen Hindernisse auf, die Orthografie nur insofern, als dass der sch-Laut durch die Buchstaben <sh> statt standardmäßig durch <sch> wiedergegeben wird (was aber auch nicht merkwürdiger ist als die Tatsache, dass der f-Laut in Wörtern wie Phänomen, Philosophie, Phosphor usw. durch die Buchstaben <ph> repräsentiert wird. Und grammatisch kann das Wort als Substantiv ohnehin leicht integriert werden, da nur eine Pluralendung gefunden werden muss (und die ist bei englischen Lehnwörtern normalerweise das -s).

Ernsthafte Eindeutschungstendenzen lassen sich derzeit (noch) nicht beobachten. Das könnte unter anderem daran liegen, dass mögliche Lehnübersetzungen (wie Mario Sixtus sie schon im August auf Google Plus gesucht und gefunden hat) durchgängig recht vulgär sind. Beim englischen Lehnwort wird das Vulgäre dagegen durch die Sprachbarriere etwas abgefedert.

Trotzdem hat die deutsche Sprachgemeinschaft hier nicht einfach ein englisches Wort komplett übernommen: Das Wort shitstorm (oder shit storm) stammt zwar aus dem Englischen, aber es hat dort eine sehr viel breitere Bedeutung als im Deutschen: laut Oxford English Dictionary bezeichnet es dort a frenetic or disastrous event; a commotion, a tumult („ein chaotisches oder desaströses Ereignis, einen Aufruhr, einen Tumult“).

Das Wort stammt ursprünglich aus dem amerikanischen Englisch, das Oxford English Dictionary nennt als erste schriftlich belegte Verwendung eine Passage aus Norman Mailers Roman The Naked and the Dead von 1948:

(1) The hell with Brown […] He’s been missing all the shit storms. It’s his turn.

Im selben Roman wird das Wort ein weiteres Mal verwendet, auch die zweite dokumentierte Verwendung stammt also von Mailer:

(2) I knew we been havin’ it soft too long. Two to one they send us out to catch a shit-storm tonight.

In beiden Fällen bezeichnet das Wort unangenehme und gefährliche Gefechtssituationen. Mailers Roman spielt während der Rückeroberung der Philippinen durch die US-Armee im Zweiten Weltkrieg, wo Mailer selbst diente. Dort lernte er Francis Irby Gwaltney kennen, der später ebenfalls Schriftsteller wurde. Und wie es der Zufall will, enthält Gwaltleys Roman The Day the Century Ended (1955), der ebenfalls während der Rückeroberung der Philippinen spielt, laut Google Books die dritte und vierte schriftlich dokumentierte Verwendung des Wortes:

(3) Using his helmet for a pillow, Johnson stretched out on his back […] “Boys,” he said, “that was one hell of a shitstorm.”

(4) The sniper fired again and we ducked. “Looks like we had a general shitstorm last nicht,” Johnson said.

Es scheint mir deshalb wahrscheinlich, dass das Wort aus dem amerikanischen Soldatenslang des Zweiten Weltkriegs stammt. Schon in den 1960er Jahren finden sich aber Verwendungen, die keinen militärischen Zusammenhang mehr haben, sondern ganz allgemein chaotische, unkontrollierbare Situationen bezeichnen, z.B. in Ken Keseys Roman One Flew over the Cuckoo’s Nest:

(5) They finally got to arguing with each other and created such a shitstorm I lost my quarter-cent-a-pound bonus I had comin’ for not missin’ a day because I already had a bad reputation around town …

Das Wort Shitstorm hat also nicht nur einen hervorragenden literarischen Stammbaum, sondern auch eine bewegte Bedeutungsgeschichte, die vom Zweiten Weltkrieg im Pazifik bis in die Sozialen Netzwerke des 21. Jahrhunderts in Deutschland führt. Im Englischen nennt man das, was wir im Deutschen als Shitstorm bezeichnen, übrigens (social) media shitstorm, also etwa „medialer Aufruhr/Tumult“. Da es die allgemeinere Bedeutung von Shitstorm im Deutschen aber nicht gibt, erübrigt sich die Modifizierung mit Social und/oder Media.

Auf diese Weise haben wir im Deutschen (anders als die englischsprachige Welt) nun ein ganz eigenes Wort für diese ganz besondere Erscheinungsform des gesellschaftlichen Diskurses.

 

Mehr zum Anglizismus des Jahres

2011

1. Shitstorm, 2. Stresstest, 3. circeln. ›› Aktuelle Pressemitteilung und Links

2010

1. leaken, 2. entfrienden, 3. Whistleblower. ›› Alte Pressemitteilung und Links

 

Mehr zum Shitstorm

FLACH, Susanne (2011): Kandidat II: Shitstorm. Decaf – Coffee and Linguistics, 17. Januar 2011. [Link]

FLACH, Susanne (2012): Der Shitstorm ist zurück. Decaf – Coffee and Linguistics, 16. Januar 2012. [Link]

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Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

23 Kommentare

  1. Shitstorm: practical english usage??

    Wie verwendet man Shitstorm und welche Emotionen sind damit verbunden?

    Wenn der Kommentator Jasi unten von Vahrenholt-shitstorm spricht, ist dann Vahrenholt der vom shitstorm Betroffene, der Angegriffene? (Spontan würde ich das so annehmen) Und transportiert Vahrenholt-shitstorm Mitgefühl/Mitleid mit dem Angegriffenen oder ist es ein reiner Terminus Technicus, der ein Phänomen ohne jede Wertung “eindeutscht”.

    Wäre also auch, um ein noch aktuelleres Beispiel zu geben das folgende aus dem SPON eine Beschreibung für einen Hamsa Kaschgari-Shitstorm

    Ein hochrangiges Komitee islamischer Geistlicher erklärte ihn [den Saudi Hamsa Kaschgari] aber zum “Ungläubigen” und forderte, dass er vor Gericht gestellt werde. Mehr als 13.000 Menschen schlossen sich daraufhin einer Facebook-Seite ein, die seine Hinrichtung fordert.

  2. Kurze Anmerkung

    Hallo Herr Stefanowitsch,

    danke für diesen erneut tollen Beitrag. Ich bekenne mich gerne als einen interessierten Leser Ihres Blogs. Ich freue mich auch, dass das Phänomen Shitstorm spätestens nach seinem Sieg jedem bekannt sein sollte. Erlauben Sie mir dennoch eine kurze Kritik an der Definition und Erklärung dieses Begriffes, der den Kernbestandteil meiner Dissertation darstellt.

    http://chris85blog.posterous.com/…smus-2011-aber

    Mit vielen Grüßen
    Christian Salzborn

  3. Berühmt?

    Der Anglizismus des Jahres hat es sogar in die SWR3-Nachrichten geschafft. =D Glückwunsch. =)

  4. Mist, und ich dachte schon, der erste zu sein, der darauf hinweist.

    Um diesen Kommentar zu etwas Sinnvollerem aufzuwerten: Wie gut ist man als Sprachwissenschaftler eigentlich weltweit vernetzt? Bleibt man, wenn man sich auf eine bestimmte Sprache oder Sprachfamilie spezialisiert, mit seinen Forschugnen auch immer in der entsprechenden Region hängen oder gibt es immer irgendwelche Gemeinsamkeiten, mit denen man sich mit dem Rest der Welt austauscht?

  5. Anmerkung zur Orthografie

    Streng genommen fällt der erste Bestandteil des Wortes doch auch dadurch aus dem Rahmen der hochdeutschen Orthografie, dass die Kürze des i in der betonten Stammsilbe “Shit” nicht durch Doppelschreibung des folgenden Konsonanten gekennzeichnet ist, wie etwa in “Tritt”.
    Oder täusche ich mich da?

  6. Rauschen im Blätterwald

    Der Google-Translator über setzt den “Shitstorm” übrigens sehr malerisch mit “Rauschen im Blätterwald”.

  7. Streng genommen fällt der erste Bestandteil des Wortes doch auch dadurch aus dem Rahmen der hochdeutschen Orthografie, dass die Kürze des i in der betonten Stammsilbe “Shit” nicht durch Doppelschreibung des folgenden Konsonanten gekennzeichnet ist, wie etwa in “Tritt”.
    Oder täusche ich mich da?

    Dasselbe haben wir aber (aus unterschiedlichen Gründen) auch schon bei etablierten Wörtern wie Litfasssäule, mit, Jet, Kit oder Set.

  8. “Dasselbe haben wir aber (aus unterschiedlichen Gründen) auch schon bei etablierten Wörtern wie Litfasssäule, mit, Jet, Kit oder Set.”

    Das ist richtig. Das gleiche gilt aber auch für die Wiedergabe des sch-Lauts durch sh in Wörtern wie Milchshake, Shuttle, Shop und Sheriff.

    Herrn Litfaß und seine Säule schreibt man übrigens mit ß.

  9. Herrn Litfaß und seine Säule schreibt man übrigens mit ß.

    Ja, das war mir schon immer ein Dorn im Auge. Mit der ss/ß-Regel hat die Rechtschreibform eine der wenigen phonetischen Rechtschreibregeln im Deutschen kreiert, die ohne Ausnahme gilt, zumindest was das Ableiten der Aussprache angeht. Daher bin ich gerne bereit, die Regel hier etwas zu konsequent anzuwenden. Herr Litfaß wird’s verkraften, die meisten wissen sowieso nicht, dass die Säule nach ihrem Erfinder benannt ist.

  10. (Wenn sie überhaupt wissen, dass das Ding Litfa{ss/ß}säule heißt. In einer Anzeige für eine Mitfahrgelegenheit las ich neulich “Reklamepfosten” als vorgeschlagenen Treffpunkt.)

  11. Reklamepfosten?

    Da denke ich eher an was schmaleres als die “handelsübliche” Litfasssäule. Aber die Wortfindung könnte ja auch ironisch/sonstwie spaßig gemeint sein – sind wir nicht alle ein bisschen überfüttert was Werbung angeht?

    Ok, ist jetzt wirklich sehr off topic geworden.

  12. Shitstorm vs. flamewar

    Ich habe im Zusammenhang mit Internet-Forendiskussionen, die außer Rand und Band geraten (bis irgendwann das Thema Hitler angesprochen wird, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Godwin%E2%80%99s_law) schon öfter das Wort “flame war” (oder eingedeutscht Flamewar) gehört. Ist das ein Synonym für “shit storm”, oder gibt es zwischen den beiden Begriffen einen Unterschied?

  13. Shitstorm, Flamewar und Amazon

    @Guido: Bei einem Flamewar geht es eher um beleidigende/provozierende Äußerungen und persönliche Angriffe, meistens zwischen den Teilnehmern eines Forums oder in Blogkommentaren. Bei einem Shitstorm geht es dagegen vereinfacht gesagt um “Netzwelt gegen Institution” (eine bessere Definition enthält natürlich dieser Artikel 😉 ). Zu Flame/Flamewar siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Flame

    Eine (vielleicht) interessante Randbemerkung: Anscheinend befindet sich “Shitstorm” auf der Liste der pösen Wörter, die zum automatischen Nichterscheinen einer Amazon-Rezension führen: http://www.nachdenkseiten.de/?p=12683

  14. Shitstorm/ Flamewar

    @Marcel: Danke für die Erläuterung! Jetzt hab ich’s begriffen!

  15. Englisches Äquivalent: Outrage

    ZITAT: “Im Englischen nennt man das, was wir im Deutschen als Shitstorm bezeichnen, übrigens (social) media shitstorm, also etwa „medialer Aufruhr/Tumult“.”

    Das stimmt so nicht. Im Englischen ist das Äquivalent “social media outrage”, “buzz” (eher im positiven Sinne) oder (gelegentlich) “firestorm”. Alle Google-Treffer mit “Shitstorm” landen auf deutschen Seiten. Oder vielmehr: Inzwischen gibt es auch ein paar englischsprachige Medien, die darüber den Kopf schütteln, was sich die Deutschen nach “Handy” und “Bodybag” da wieder ausgedacht haben. Sie merken zudem an, dass die Deutschen ihrer Vorliebe für Fäkalsprache mal wieder freien Lauf gelassen haben…

  16. Nachfrage zum obigen Kommentar

    @Gast
    Sehr geehrter Kommentator,

    auch in meiner Doktorarbeit zu Shitstorms fiel bereits am Anfang auf, dass es sich hier um ein “eingedeutschtes Phänomen” handelt. Ist es möglich, Ihr Kommentar mit Quellen zu belegen, so dass ich diesen Aspekt entsprechend in der Diss verarbeiten kann? Einen Kommentar zu zitieren ist da leider etwas unpassend. Über ein Feedback würde ich mich sehr freuen. Vielen Dank.

    http://my-shitstorm-diss.posterous.com/