Wenn „Flexitarier“ sowohl „liken“ als auch „entfreunden“: Der Duden sagt uns, wie die Gesellschaft tickt.

BLOG: Semantische Wettkämpfe

Wie die Sprache, so die Denkungsart
Semantische Wettkämpfe

In den neuen Rechtschreibduden haben 5.000 neue Wörter Eingang gefunden. Wie kamen die da rein? Was sagt das über den Zeitgeist und die Gesellschaft? Dazu befragte mich Valentin Raskatov (hier das komplette Interview zum Nachhören). Denn manche Wörterbuchnutzer regen sich über Modewörter und Anglizismen auf, andere über Vulgärsprache, der Dritte über nicht aufgenommene Ausdrücke in Anbetracht von gerade frisch ausgewählten Wörtern („Das Rätsel um die neuen Wörter“). Ich rege mich nicht auf, sondern bedauere nur: Der Duden verhält sich bei der Aufnahme neuer Wörter in das Wörterbuch wie ein Flexitarier beim Essen: Ohne klare Linie – mal so, mal so. Das schadet zwar nicht der Sprache, aber der Marke DUDEN, also dem Verlag.

Zeitgeist und Gesellschaft im Spiegel des Dudens

Was verbirgt sich hinter dem neuen Lemma Flexitarier? Der gelbe Duden verrät es, denn dort wird erklärt: Flexitarier ist ein „Kunstwort für eine Person, die sich überwiegend vegetarisch ernährt, aber auch gelegentlich hochwertiges, biologisch produziertes Fleisch zu sich nimmt“. Gegen die Aufnahme des Wortes in das Rechtschreibwörterbuch (Band 1 der zwölfbändigen Duden-Reihe) ist nichts zu sagen – im Gegenteil: Ein interessantes Wort, das etwas über den Zeitgeist und von ihm als relevant markierte Themenfelder mitteilt – nämlich über Ernährung, Landwirtschaft, Ökonomie, Kulinaristik, Ökologie, Soziologie, Politik …

Während gegen die Aufnahme von Flexitarier nichts einzuwenden ist, erhebe ich bei folgendem Lemma Einspruch: 2013 wurde der Ausdruck Saftschubse für „Flugbegleiterin, Stewardess“ aufgenommen – in den Erläuterungen findet sich der berechtigte Warnhinweis „Gebrauch: salopp abwertend“. Warum nimmt das Wörterbuch in Anbetracht des reichhaltigen „Schatzes“ an verletzenden Personen- und Berufsbezeichnungen gerade diese Stigmatisierung auf? Laut eigenen Angaben wird auf der Basis einer „Textsammlung aus 4 Milliarden Einträgen“ eine Wortliste mit neuen Wörtern (im Vergleich zur letzten Auflage) zusammengestellt und nach Häufigkeit sortiert. „Die daraus resultierenden umfangreichen Listen werden gesichtet und redaktionell bewertet“, erfahren wir auf Seite 8 des neuen Bandes, und Wörter werden dann aufgenommen, „wenn diese in einer gewissen Häufung und einer bestimmten Streuung über verschiedene Texte hinweg erscheinen” (S. 148). Genau da ist die Achillesferse des ganzen Unternehmens.

Offenlegung der Kriterien ist angesagt: Die Gesellschaft will mitdiskutieren

Der Verlag steckt viel Geld in hippe und schicke Anzeigenwerbung. Er sollte auch etwas Geld in die Vermittlung seiner Kriterien investieren, die dem Werk zugrunde liegen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, schließlich genießt die Marke DUDEN Renommee. Dieses resultiert noch aus dem besonderen Status, der dem Duden in den 1950er Jahren von der Kultusministerkonferenz eingeräumt wurde. „Zur Wahrung einer einheitlichen deutschen Rechtschreibung erklärt die westdeutsche Kultusministerkonferenz (KMK) ,in Zweifelsfällen … die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln‘ für vorläufig (nämlich bis zu einer amtlichen Neuregelung) verbindlich“, erinnert sich der Duden in seiner kleinen „Geschichte der Rechtschreibung“. Der Prozess der amtlichen Neuregelung begann schließlich am Ende des 20. Jahrhunderts und endete im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Das Thema hat immer noch das Zeug zum Aufreger.

Der Duden ist modern und aktuell, sagen die Liberalen. Er biedert sich an, erwidern die Kritiker. Ich meine: Er soll seine Linie der Aufnahmepolitik – welche Wörter kommen in das Wörterbuch – verständlich und transparent mit der Sprachgemeinschaft diskutieren. Sonst passiert dem Duden das Gleiche wie dem Fußball: Einst mit großem Interesse vieler Menschen verwöhnt verspielt dieser gerade durch inflationäre Angebotsüberflutung der Fans („Stoppt die Fußball-Aufbläher“) seine Anziehungskraft.

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Ekkehard Felder ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Heidelberg. Er initiierte 2005 die Gründung des internationalen und interdisziplinären Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen. Diese Forschungsgruppe untersucht diskurs- und gesellschaftskritisch die sprachliche Zugriffsweise auf Fachinhalte in zwölf gesellschaftlichen Handlungsfeldern – sog. Wissensdomänen (z.B. Recht, Wirtschaft, Medizin, Politik, Naturwissenschaft und Technik). Da Fachinhalte durch die Wahl der Worte geprägt werden und widerstreitende Positionen eine andere Wortwahl präferieren, ist ein Streit um die Sache auch ein Streit um Worte bzw. ein semantischer Kampf um die richtige Sichtweise. Deshalb heißt sein Blog bei SciLogs „Semantische Wettkämpfe – Wie die Sprache, so die Denkungsart“. Seine Forschungen beschäftigen sich mit der Fachkommunikation, der sozio-pragmatischen Diskursanalyse und der Untersuchung von Sprache als Indikator für Identität, Mentalität und Authentizität. 2010 gründete er mit den Kollegen Ludwig M. Eichinger und Jörg Riecke das Europäische Zentrum für Sprachwissenschaften (EZS). Als Fellow des Institute for Advanced Studies in Heidelberg (2008, 2020/21) und STIAS in Stellenbosch / Südafrika (2009) widmete er sich dem diskursiven Wettkampf um erkenntnisleitende Konzepte („agonale Zentren“). Felder ist Autor von sechs Monografien und (Mit-)Herausgeber diverser Sammelbände. Besonders bekannt ist die von ihm herausgegebene Reihe „Sprache und Wissen“ (SuW) bei de Gruyter und die dort mit Andreas Gardt herausgegebenen „Handbücher Sprachwissen“ (HSW).

8 Kommentare

  1. Der Duden soll aufnehmen, wie gesprochen wird, deskriptiv bleiben.

    Er ist ein “Player” geworden im Politischen, dies kann er im fachwissenschaftlichen Sinne nicht sein, trösten tut hier, dass der Duden in keiner Hinsicht entscheidend maßgeblich ist.

    Der Duden hat -idealerweise, es liegt ja ein Wirtschaftsunternehmen vor- auf empirischer Grundlage die hier gemeinte Sprache zu beschreiben, nicht neue Wörter deshalb abzulehnen, weil sie politisch, aus Sicht einiger, nicht konvenieren, nicht alte Wörter sukzessive, wie dies geschieht, auszusortieren, wenn sie ebenfalls, aus Sicht einiger, nicht konvenieren, politisch.
    Sondern sich eben an der Menge orientieren.

    Das Aussortieren alter Wörter stört den Schreiber dieser Zeilen besonders, denn so wird direkt das Verständnis älterer Literatur erschwert, diesbezüglich liegt eine Art Zensur vor (wie sie ein Wirtschaftsunternehmen natürlich nicht betreiben kann, deshalb stand da : ‘eine Art’).
    Es gibt auch von Seiten der Linguistik keinen Grund dafür (einstmals häufig verwandte und jetzt weniger verwandte) Wörter auszusortieren.

    Der Duden gibt mittlerweile auch sogenannte besondere Hinweise, durchaus politisch motiviert zu nennen, zum Sprachgebrauch.
    Keine Ahnung im Moment, wie sich der Duden zurzeit zum sogenannten Kiezdeutsch stellt, vielleicht sollte der Schreiber dieser Zeilen mal nachgucken, “Kiezdeutsch” müsste doch politisch korrekt sein?


    Nur zum Vergleich notiert, als gesamtgesellschaftliches und anscheinend weit von Herrschaft, von der Politik, weg stehendes Angebot scheint dies hier ganz OK zu sein :

    -> http://www.urbandictionary.com

    MFG
    Dr. Webbaer

  2. Bonus-Kommentar hierzu :

    Warum nimmt das Wörterbuch in Anbetracht des reichhaltigen „Schatzes“ an verletzenden Personen- und Berufsbezeichnungen gerade diese Stigmatisierung auf? Laut eigenen Angaben wird auf der Basis einer „Textsammlung aus 4 Milliarden Einträgen“ eine Wortliste mit neuen Wörtern (im Vergleich zur letzten Auflage) zusammengestellt und nach Häufigkeit sortiert. „Die daraus resultierenden umfangreichen Listen werden gesichtet und redaktionell bewertet“, erfahren wir auf Seite 8 des neuen Bandes, und Wörter werden dann aufgenommen, „wenn diese in einer gewissen Häufung und einer bestimmten Streuung über verschiedene Texte hinweg erscheinen” (S. 148). Genau da ist die Achillesferse des ganzen Unternehmens.

    Moment, wenn so deutsch gesprochen wird :
    Saftschubse, ist dies in einem zumindest wissenschaftsnahen Werk aufzunehmen.
    Wenn empirisch nachgewiesen.

    Egal, wie ‘stigmatisierend’; die ‘Achillesferse (des ganzen Unternehmens)’ liegt womöglich beim (unzufriedenen) Abnehmer dieser Leistung.
    Wie der Duden in diesem Fall vorgegangen ist, scheint klar : empirisch.

    Ich meine: Er [der Duden] soll seine Linie der Aufnahmepolitik – welche Wörter kommen in das Wörterbuch – verständlich und transparent mit der Sprachgemeinschaft diskutieren.

    Stand das nicht bereits im dankenswerterweise bereit gestellten WebLog-Artikel : empirisch ?

    Wollen Sie ernsthaft diesbezüglich ran, Herr Felder?

  3. Nun, ein Kriterium für die Aufnahme in den Duden wäre für mich auch die Anzahl der google-Treffer. Im Fall von Saftschubse finde ich folgende Top-Treffer bei den 93’200 Fundstellen:
    Wiktionary, Duden, Sueddeutsche (2010), Zeit (2004), Zeit (2016), SPON (2008) und so weiter. Sogar im Wikipedia-Eintrag Flugbegleiter ist Schaftschubse unter dem Untertitel Synonyme eingetragen, wo man liest: Saftschubse ist in Deutschland eine umgangssprachliche, abwertende Bezeichnung der Berufsgruppe der Flugbegleiter. Das Wort wurde in die am 28. August 2004 erschienene 23. Auflage des Dudens aufgenommen. Saftschubse ist der Titel eines Romans von Annette Lies.[7]
    In Österreich existiert auch die ebenfalls abwertende Bezeichnung Luftkellner/in.

    • Ergänzung: Im Duden liest man zu Saftschubse: Wussten Sie schon?
      Dieses Wort stand 2004 erstmals im Rechtschreibduden.

  4. Der Schreiber dieser Zeilen ist zudem nicht in der Lage Wörtern, ad hoc, wie bspw. ‘Saftschubse’ zeitnah eindeutig eine negative oder positive Konnotation beizusprechen.

    Derartige Konnotation entsteht insofern in der Phantasie, etymologisch unklar bleibend; klar, die Transporteure im Fluggerät scheinen schon, aus Sicht des Passagiers -einen beträchtlichen Zeitraum ihrer Arbeit betreffend- Sachen von A nach B zu tragen, auch zu vertilgende, abär so richtig streng, im abwertenden Sinne, blieb Dr. W in diesem Punkt nie.

    Insofern scheinen Moden vorzuliegen, die aus orthographisches Wörterbüchern, auch die Politik meinend, womöglich und bestmöglich herauszuhalten sind, auch die Aufnahme von Wörtern betreffend.

    Wenn der Deutsche halt so spricht…

    MFG
    Dr. Webbaer

  5. Sollen Wörter nicht in den Duden aufgenommen werden, weil sie eine Nähe zu Unwörtern haben?
    Das ist für mich das zentrale Thema dieses Beitrags von Ekkehard Felder. Der Titel des Beitrags “Wenn „Flexitarier“ sowohl „liken“ als auch „entfreunden“” verwendet diesbezüglich harmlose Worte („Flexitarier“, „liken“, „entfreunden“ haben keinen Beigeschmack). Später kommt dann die Schreibe (das Gespräch) auf das Unwort “Saftschubse” und damit auf das eigentliche Thema. Und es stimmt natürlich: Zahlreiche Neuzugänge zum Duden sind problematisch und sollten gar nie in den Duden aufgenommen werden, wenn man verhindern will, dass sie noch bekannter werden und damit ihr Gebrauch tendenziell zunimmt.
    Beispiele dafür sind folgende Neuzugänge des 2017er Dudens: Flüchtlingskrise, Lügenpresse, Volksverräter, Kopftuchstreit, Wutbürgerin, vielleicht aber auch Pärchenterror.

    Allerdings gilt für mich: Wird Erwünschtheit/Unerwünschtheit eines Wortes zu einem Auswahlkriterien für die Aufnahme in den Duden, dann bewegt sich der Duden Richtung “politische Korrektheit”, also in Richtung von Neusprech und Gutdenk

    Tendenziell würde ich einen Auswahl-Automatismus bevorzugen, einen Algorithmus also, der bestimmt, was reinkommt und was nicht. Dann müsste man nur noch darüber streiten, ob der Algorithmus neutral ist und nicht mehr darüber ob das Wort es verdient hat, in den Duden zu kommen oder nicht.

    • @ Herr Holzherr :

      Sollen Wörter nicht in den Duden aufgenommen werden, weil sie eine Nähe zu Unwörtern haben?

      So in etwa tauchte diese Fragestellung ebenfalls im Hirn des Schreibers dieser Zeilen auf.
      Wobei zwischen Wörtern und “Unwörtern” (die wohl in der BRD jährlich erkoren werden, lol) nicht so klar ist, denn verschleiernde Sprache liegt oft bei den “guten” Wörtern vor, bösen Wörtern, der “Klassiker” hier womöglich ‘judenrein’, kann ihre Boshaftigkeit oft direkt angesehen werden. (Es gibt aber nicht viele davon.)

      Die eigentliche Idee des Herr Felder könnte darin bestehen, dem Volk nicht mehr “aufs Maul zu schauen”, in seine Sprache also, und im Bereich des hier gemeinten Wörterbuchs empirisch vorzugehen, deskriptiv, sondern den Bestand im hier gemeinten Wörterbuch gesellschaftlich auszuhandeln.
      Sollte dies so sein, würde Dr. Webbaer hierzu nichts mehr (Positives) einfallen.

      MFG
      Dr. Webbaer

  6. Ich finde es immer wieder faszinierend, welche Worte und Begriffe erfunden werden. Anfangs wehrte ich mich innerlich noch gegen Anglizismen und neudeutsche Sprachakrobatik, genauso wie ich mich auch gegen E-Mailing und Online-Banking wehrte. Jetzt, zwanzig Jahre später, merke ich, wie ich über diese Modernisierungs-Effekte komplett anders denke als dazumal, einfach weil der Mainstream mich mitriss trotz jahrelanger Gegenwehr.
    Siegte die Faulheit?
    Siegte die Gewohnheit?
    Siegte die Wirklichkeit?

    “Wutbürger”, “entfreunden”, “Flexitarier”, “Lügenpresse”. Markante Wortschöpfungen, denen eine gewisse erfinderische Genialität nicht abgesprochen werden kann. Natürlich wird das Ganze tendenziell “babylonisch”, denn wer sich nur selten mit den neuen Medien oder gar schon nur dem mit Englischen beschäfigt, wie z.B. meine Mutter, versteht da und dort tatsächlich die Welt nicht mehr.

    Sprache war und ist schon immer ein Stück Welt gewesen, ein Symbol des kulturellen Menschen ansich. Wir leben in wirbligen Zeiten: Noch nie zuvor gab es eine solche Vermischung der Völker, Vernetzung wirtschaftlicher Prozesse und eine derartig forcierte Technisierung. Geschwindigkeit und Komplexität haben zugenommen. In gleichem Masse wird auch unser Sprachgut , dieses gedankliche Abbild der Welt, “flexitarischer”.

    Ich beneide den Duden wahrlich nicht um sein Aufgabe.

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