Bewältigung von Unerwünschtem: Was neue Wörter über den Zeitgeist aussagen!

BLOG: Semantische Wettkämpfe

Wie die Sprache, so die Denkungsart
Semantische Wettkämpfe

(Mein Gespräch im Deutschlandfunk Kultur am 23.01.2017): „Jeder Experte ist erst einmal verdächtig“, antwortete ich in einem Interview mit Anke Schaefer im Deutschlandradio Berlin, als sie mich nach der „tieferen“ Bedeutung der Wortschöpfung „alternative facts“ der US-Präsidentenberaterin Kellyanne Conway befragte. Fakten schreibt man Experten zu, „alternative Fakten“ schreibt man … – ja wem zu: Dem Volk (siehe dazu den Jargon der Anmaßung) oder dem Zeitgeist? Die Wortkreation „alternative facts“ soll im Lande die Stimmung verbreiten, dass datengesicherte Aussagen über die Wirklichkeit nicht gemacht werden können (trotz vorliegender Luftbilder, die bei identischem Standpunkt des Fotografen zeigen, dass die Zuschauermenge am 20.1.2017 kleiner war als bei der Vereidigung von Barack Obama 2009). Durch solche Datenignoranz wird versucht, Unerwünschtes auszuklammern. Das sagen neue Wörter über den Zeitgeist aus. Was ich in dem Interview zur Sprache Donald Trumps sagte, gilt nach wie vor.

Neue Wörter als Indiz für Mentalität

Im Folgenden soll es ebenfalls um neue Wörter gehen, genauer gesagt um einen Neologismus. Neologismen sind mentalitätsgeschichtlich erhellend, da eine sprachliche Neuschöpfung einen Hinweis auf eine sich wandelnde Geisteshaltung geben kann. An den Worten erkennst Du die Denke – anders formuliert: In der Sprache spiegelt sich die Gesinnung von Individuen oder einer Gesellschaft wider.

Sichtbare Spuren dieser Veränderungen im Denken sind Wörter, die plötzlich auftauchen und mitunter genauso schnell wieder verschwinden. Diese Spuren der Zeitgeschichte – also das Wortaufkommen und Wortverschwinden – sind nicht zufällig. Ihr Kommen und Gehen sagen etwas aus. Dies lässt sich eindrucksvoll am Beispiel der Medienberichterstattung über die Berliner Mauer zeigen, wenn man diese in den Zeitläuften seit dem Jahre 1961 betrachtet.

In einem Bericht des Magazins Der Spiegel zum Alltag an der Berliner Mauer taucht 1986 erstmals und danach nie wieder das Wort „Mauerbewältiger“ (Der Spiegel 33/1986, S. 42) auf. Was wird damit ausgesagt? Ein Blick in das Wörterbuch verrät, dass das Lemma bewältigen die Bedeutungsangaben ›mit etwas Schwierigem fertig werden; etwas meistern‹ enthält (Duden – Deutscher Universalwörterbuch. Mannheim 2001). Hatte man also 1986 die Mauer bewältigt? Ein weiterer Blick auf den ganzen Spiegel-Artikel (Der Spiegel 33/1986 „Man lebt damit. Man wird alt damit.“) legt offen, dass es in diesem Beitrag anlässlich des 25. Jahrestages zum Mauerbau um den Nachweis geht, dass sich die West-Berliner Bevölkerung – insbesondere die unmittelbaren Anrainer der Mauer – sich über „die grauenhafteste Absurdität in Europa“ (so der Mauer-Mahner Axel Springer laut Der Spiegel 33/1986) nicht mehr empörten.

Sprachlicher Höhepunkt des Beitrags ist der neue Ausdruck, der den Zeitgeist so pointiert charakterisiert – nämlich die Neuschöpfung „Mauerbewältiger“. Da wird die Grundstimmung der West-Berliner Bevölkerung, deren Alltagsleben sich direkt an den DDR-Sperranlagen abspielen, in einem Ausdruck treffend zusammengefasst. Mehr noch: Auch die durch Franz Josef Strauß 1983 initiierten Milliardenkredite für die DDR und Helmut Kohls Empfang des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Bonn im Jahre 1987 sind klare Indizien für diese Haltung, die nicht nur in West-Berlin, sondern auch in Westdeutschland vorherrschte. Man hatte sich offensichtlich eingerichtet, ist mit den Umständen übereingekommen.

Der erwähnte Spiegel-Artikel wurde von Wolfgang Bayer verfasst, ihm ist zu dieser Wortschöpfung zu gratulieren. Selten, dass es gelingt, mit einem Ausdruck einen Ist-Zustand an Stimmungen, Haltungen und Einstellungen zu bündeln. Das Wort kann als Erkennungszeichen kollektiver West-Stimmung der 1980er Jahre bis zum Mauerfall gelten. Bis heute – so ergibt die Recherche im weltweiten Netz – ist dieses Wort nicht wieder aufgegriffen worden, außer von Fahndern der Sprache – sprich Sprachwissenschaftlern. Eigentlich schade!

Was ist eigentlich Bewältigung?

Man könnte an dieser Stelle aufhören nachzudenken. Man kann aber auch neugierig weiterbohren und grübeln: Gibt es andere Phänomene der Zeitgeschichte, von denen in einem einschlägigen Publikationsorgan behauptet wird, ein Kollektiv habe sie „bewältigt“? Denn es fällt ja auf, dass es anscheinend zum Gebot des Bewältigens – insbesondere der Vergangenheitsbewältigung – keine Alternative gibt. Wer könnte in der Öffentlichkeit schon auftreten und fordern, wir sollten ein politisch brisantes Phänomen nicht aufarbeiten und zu bewältigen versuchen?

Vor diesem Hintergrund muss es doch – so könnte man sich fragen – Exempel für erfolgreiche Bewältigung geben. Suchen wir erst einmal nach Beispielen: Haben die Amerikaner den Vietnamkrieg oder den Anschlag auf das World Trade Center („9/11“) bewältigt? Haben die Westdeutschen die Notstandsgesetze, den RAF-Terrorismus oder die Gesetzgebung zum Radikalenerlass oder zu (wie es in der Sprache der Kritiker heißt) Berufsverboten bewältigt (gemeint ist der „Gemeinsame Runderlass der Ministerpräsidenten und aller Landesminister zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst vom 18. Februar 1972“, der je nach Bundesland bis in die 1990er Jahre galt)? Haben Russland und die übrigen postsowjetischen Staaten den Stalinismus bewältigt? Hat Gesamtdeutschland den Nationalsozialismus bewältigt?

Mir fällt – bis auf eines – kein Beispiel dafür ein, dass ernst zu nehmende Vordenker und Intellektuelle glaubhaft machen konnten, ein bestimmtes zeitgeschichtliches Phänomen sei von einer Gesellschaft bewältigt worden. Rennen wir also einem Phantom namens Bewältigung hinterher? Ich bin dankbar für Hinweise in dieser Sache. Mein Beispiel einer erfolgten „Bewältigung“ lautet: Wenn die Befunde aus Der Spiegel 33/1986 zutreffend sind, so haben wir in den 1980er Jahren in West-Berlin oder in Westdeutschland die historisch singuläre Situation gehabt, etwas eigentlich Unerwünschtes bewältigt zu haben.

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Ekkehard Felder ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Heidelberg. Er initiierte 2005 die Gründung des internationalen und interdisziplinären Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen. Diese Forschungsgruppe untersucht diskurs- und gesellschaftskritisch die sprachliche Zugriffsweise auf Fachinhalte in zwölf gesellschaftlichen Handlungsfeldern – sog. Wissensdomänen (z.B. Recht, Wirtschaft, Medizin, Politik, Naturwissenschaft und Technik). Da Fachinhalte durch die Wahl der Worte geprägt werden und widerstreitende Positionen eine andere Wortwahl präferieren, ist ein Streit um die Sache auch ein Streit um Worte bzw. ein semantischer Kampf um die richtige Sichtweise. Deshalb heißt sein Blog bei SciLogs „Semantische Wettkämpfe – Wie die Sprache, so die Denkungsart“. Seine Forschungen beschäftigen sich mit der Fachkommunikation, der sozio-pragmatischen Diskursanalyse und der Untersuchung von Sprache als Indikator für Identität, Mentalität und Authentizität. 2010 gründete er mit den Kollegen Ludwig M. Eichinger und Jörg Riecke das Europäische Zentrum für Sprachwissenschaften (EZS). Als Fellow des Institute for Advanced Studies in Heidelberg (2008, 2020/21) und STIAS in Stellenbosch / Südafrika (2009) widmete er sich dem diskursiven Wettkampf um erkenntnisleitende Konzepte („agonale Zentren“). Felder ist Autor von sechs Monografien und (Mit-)Herausgeber diverser Sammelbände. Besonders bekannt ist die von ihm herausgegebene Reihe „Sprache und Wissen“ (SuW) bei de Gruyter und die dort mit Andreas Gardt herausgegebenen „Handbücher Sprachwissen“ (HSW).

19 Kommentare

  1. Nachsatz:

    Hatte man die Mauer auch auf der anderen Seite derselben “bewältigt”? Eine bloß einseitige Bewältigung wäre aber doch ein höchst sonderbares Ding, oder nicht?

    Scheint mir also, hier passt was nicht. Dazu kommt, dass Herr Reagan sein berühmtes “Tear down this wall” im Jahr 1987 sagte. Er hatte die Mauer offensichtlich nicht bewältigt…

  2. Ja, hier möchte ich @fegalo zustimmen. Die “Mauerbewältigung” war wohl eher eine Absicht, ein politisches Programm. Und politisch eher links Verortete waren weiter bei der “Mauerbewältigung”. Es ist eben kein Zufall, dass die Mauer um 1986 für einige immer noch ein Skandal war, für andere aber sichtbares Zeichen einer neuen, bleibenden Realität geworden war. Die gleiche Mauer bedeutete für verschieden orientierte Menschen tatsächlich etwas sehr Verschiedenes – sogar nachdem die Mauer gefallen war.

  3. Martin Holzherr,
    …verschiedene Wahrnehmung,
    die Deutschen, deren Verwandte im Westen lebten, haben sich nicht mit der DDR identifiziert.
    Die , die dort geboren sind, und vielleicht noch wichtige Positionen hatten, die schon eher.
    Aber selbst die haben alle nach dem Westen “geschielt” . Für die war der Mauerfall eine Befreiung.
    Für die meisten ist die Mauer nur noch Geschichte.

  4. “Die Wortkreation „alternative facts“ soll im Lande die Stimmung verbreiten, dass datengesicherte Aussagen über die Wirklichkeit nicht gemacht werden können (trotz vorliegender Luftbilder, die bei identischem Standpunkt des Fotografen zeigen, dass die Zuschauermenge am 20.1.2017 kleiner war als bei der Vereidigung von Barack Obama 2009).”

    Wenn ich mir das von CNN veröffentlichte “Gigapixelbild” genau anschaue, so sehe ich *sehr* viel mehr Besucher bei Trump, als auf dem bekannten Bild mit der Gegenüberstellung Trump/Obama zu vermuten wären.
    Keine Ahnung woher das kommt…

    Hier das “Gigapixelbild” (erstaunlich an dieser Stelle übrigens, was man “heute” alles machen kann!):
    http://edition.cnn.com/interactive/2017/01/politics/trump-inauguration-gigapixel/
    Das Bild ist mit frei dreh-, kipp- und zoombar! (Mit gedrückter Maustaste und Scrollrad der Computermaus)
    Offensichtlich (man achte auf die bekannten Protagonisten) zeigt das Bild einen Moment während Trumps Inaugurationsrede, mithin definitv *während* der Veranstaltung.

    Immerhinque: US-Präsident Donald Trump bezeichnete CNN, den Sender, der das Bild gebracht hat, bei Pressekonferenzen, Interviews und Parteiveranstaltungen wiederholt als „Fake news“ (laut Wikipedia)…

    Alles sehr verwirrend…
    😉

  5. Interessant, dass im einem Artikel über die Aussagekraft von Wörtern der Ausdruck „weltweites Netz“ benutzt wird.

  6. Was verrät uns über den Zeitgeist, wenn selbst Leute, die es besser wissen müßten, urplötzlich statt “im folgenden…” “im Folgenden” schreiben, obwohl das der Logik wie dem Sprachgefühl, also dem, was während des Sprechens im Kopf an Vorstellungen zur Bedeutung des Gesprochenens abläuft, vollkommen widerspricht ?

    • „im Folgenden“ ist korrekt, weil das Wort hier kein Adjektiv, sondern ein Substantiv ist, da es sich auf nichts bezieht.

    • @Bote
      Widerspruch ! Die deutsche Sprache ist in höchstem Maße logisch und zu feinsten Bedeutungsabstufungen fähig. Oder soll ich besser sagen “war fähig”?
      Denn es gilt immer noch: “Wie die Denkungsart, so die Sprache.”
      Der Bloginhaber hat diese Grundlage in seiner Blogüberschrift bereits vernichtet. So muß folgerichtig bei ihm aus “im folgenden “im Folgenden” werden. Diese Idiome drücken verschiedenes aus, wobei “im Folgenden” nur sehr sehr selten sinnvoll anwendbar ist.

  7. Die Denkweise unserer Zeit zeigt sich auch, wenn Sinn (von den Medien) gemacht wird, und sich nicht mehr aus den bekannten Fakten ergibt. Der sinnlose Anglizismus war nur möglich, weil die Bedeutung von Sinn dem Anglizismus entsprach: Sinn ist etwas, das mir gesagt wird, nicht etwas, was ich selbst entdecke.

  8. “Bewältigung von Unerwünschtem” – wie aus Brot & Spiele das Tittitainment wurde, oder die gewohnte Welt- und “Werteordnung” zur Dienstleistungsgesellschaft globalisiert wird, wobei niemand merkt, wie der stets zeitgeistlich-reformistische Faschismus uns weiterhin in Abhängigkeit/Sklaverei von “Wer soll das bezahlen?” & “Arbeit macht frei” hält – wie alle Revolutionen und “Veränderungen” nur Reformen des Zeitgeistes sind und … 😎

  9. Das Wort Phänomen, ist ein Ausdruck der Heuchelei / des Tanzes um den heißen Brei / des “goldenen Kalbes” / der leichtfertigen KAPITULATION vor der Symptomatik/URSACHE des nun “freiheitlichen” WETTBEWERB, wo die Schuld- und Sündenbocksuche im “Recht des Stärkeren” zur Suppenkaspermentalitaet gebildet betrieben wird.

  10. Der Chart auf dem Ngram Viewer für “Vergangenheitsbewältigung” überrascht mich – ich hätte die Kurve etwas nach links verschoben. Denn gefühlt ist das für mich ein allgegenwärtiges Wort der 60er- und 70er-Jahre. 1984 schlägt das Wort sogar “deutsche Einheit” 🙂

    Oder verschiebt der Ngram Viewer generell nach rechts, weil Wörter in Büchern oft später aufkommen als in der Umgangssprache?

  11. Stephan,
    ….einverstanden, wer Sinn für solche Feinheiten hat, hat den anderen gegenüber einen Vorteil.
    Galbadon,
    ….sinnloser Anglizismus,
    wenn er die Gedankenlosigkeit unterstüzt, hast du meine Zustimmung. Was früher interessant war, ist heute cool.
    Man braucht sich dabei nicht viel zu denken.
    Wenn es um Computertechnik geht, gibt es keinen Ersatz.
    Anmerkung: Wenn du mal die Gebrauchsanleitungen in verschiedenen Sprachen liest, ist die englische Version vom Textumfang her oft die kürzere. Deshalb hat sich Englisch durchgesetzt.

    hto,
    ….Tittitainment,
    der Busen ist für Babies unentbehrlich, für Erwachsene genauso , also verunglimpfe ihn nicht.

  12. hto,
    …..die Wahrheit ist oft ernüchternd. Wir leben nun einmal in einer Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft ist Lichtjahre davon entfernt, wahrhaftig zu sein.
    Es ist aber gut, uns immer wieder darauf aufmerksam zu machen.

  13. Der Begriff “Vergangenheitsbewältigung” ist per se irreführend. “Bewältigen” kann man eine Aufgabe im Sinne eines Erreichens eines gesetzten Zieles. “Vergangenheit” ist jedoch keine Aufgabe, sondern schlicht “eine Summe von Ereignissen”.

    Da diese schon geschehen sind, kann man sie auch nicht mehr bewältigen. Man kann sie höchstens erforschen, bedenken, begreifen und bewerten.

    Ob einzeln oder als Kollektiv, zu bewältigen gibt es im Temporären also nichts. Viele Einzelne können aber (mittels Aufsätzen, Büchern, Reden, Denkmälern) die Vergangenheit aufarbeiten. Die Summe dieser Veröffentlichungen kann analysiert und bewertet werden. Eine ausgewählte Menge dieser Bewertungen wird dann weiter zusammengefasst zu einer Meinung unter der Bezeichnung “Vergangheitsbewältigung”.
    Die aber eine “Vergangenheitsaufarbeitung” ist.

    Was geschehen ist, ist geschehen. Und geht ein in unser aller kollektives Gedächtnis. Laut Ansicht einiger uramerikanischer Stämme wirken schwerwiegende Ereignisse sieben Generationen lang. Familiensteller (nach B.Hellinger) bestätigen dieses “Zeitlinien-Trauma”.

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