Wie prüft man Wissenschafts-Verständnis?

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… aber nicht einfacher
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Wie die meisten Leser war ich schon oft in Prüfungssituationen: Klausuren in der Schule, schriftliche und mündliche Abiturprüfungen, an der Uni dann die Klausuren zum Scheinerwerb und – mein Physikstudium (an der Universität Hamburg) war noch ein Diplomstudium – die mündlichen Prüfungen, welche die Vordiplomsnote komplett, die Diplomnote zum großen Teil bestimmten. Damals habe ich mich zwar geärgert, wenn ich z.B. in einer Klausur eine Aufgabe falsch verstanden und dann entsprechend falsch bearbeitet hatte. Aber ich war nie in Verlegenheit, mir grundlegende Gedanken machen zu müssen, was derartige Prüfungen für Vor- und Nachteile haben.

Inzwischen sehe ich Prüfungen nur noch von der anderen Seite. Das Haus der Astronomie, an dem ich arbeite, trägt insbesondere im Bereich Lehramtsstudium zur Lehre der Universität Heidelberg bei, und ich war in den letzten Jahren sowohl bei Lehrveranstaltungen zur Astronomie für Lehramtsstudenten als auch bei solchen für Masterstudenten und Doktoranden sowie für Hörer aller Fachbereiche dabei (letztere sämtlich im Bereich Kosmologie). Und, schwupps, verschiebt sich die Perspektive: weg von der Frage, wie eine Prüfung (möglichst gut) zu bestehen ist hin zu der Frage, wie man Leistungsnachweise sinnvoll gestaltet und so, dass sie tatsächlich Verständnis und tieferes Wissen messen.

Mündliche Prüfungen und tieferes Verständnis

Mein persönliches Fazit (das aber, wenn ich mich umhöre, von zahlreichen anderen Lehrenden geteilt wird): Will man wirkliches Verständnis messen, sind mündliche Prüfungen das Mittel der Wahl. Im direkten Gespräch kann ich nachhaken, nachfragen, habe Flexibilität genug, bei besonders guten Studierenden die Grenzen weit jenseits des Erwartungshorizonts der Veranstaltung auszuloten und bei schwächeren Studierenden gezielt danach zu schauen, was doch an Wissen vorhanden ist. Auch von den Themen her kann man flexibel sein – die Studierenden mit einem Thema anfangen lassen, das ihnen besonders liegt (immer ein guter Einstieg) und dann zu anderen Themen weitergehen; andererseits: sobald man festgestellt hat, dass ein bestimmtes Thema sitzt, auch einmal bewusst etwas ganz anderes ansprechen. So etwas geht in dieser Form in keiner Klausur, bei der man per Definition nicht reagieren kann, sondern vorab alles vorgeben und planen muss – und dabei doch naturgemäß nicht alle möglichen Fälle abdecken kann.

Früher war die Rolle von mündlichen Prüfungen einer der Unterschiede zwischen Schule und Universität. Seit der Bologna-Reform, Stichwort Verschulung des Studiums, sind die Unterschiede geringer geworden. Jetzt dominieren auch in der Universität die Klausuren, mit den bekannten Nachteilen – im Extremfall bulimisches Lernen, bei dem man das Wissen bis kurz vor der Klausur in sich hereinstopft, für die Klausur erbricht und anschließend rasch wieder vergessen hat.

Hintergrund der gestärkten Rolle der Klausuren war eigentlich eine sinnvolle Überlegung: Wenige, dafür besonders wichtige Prüfungen wie in den Diplomstudiengängen, so das Argument, hätten den Nachteil, dass zuviel an einer einzigen Prüfung hinge – die Tagesform könne so einen überproportionalen Einfluss auf die Endnote haben, und Stress bzw. Lampenfieber seien besonders groß. Regelmäßige Leistungskontrollen in größerer Zahl, aber dafür jede einzelne mit geringerem Gewicht, könnten Abhilfe schaffen.

Allerdings sind mündliche Prüfungen für die Hochschullehrer vergleichsweise zeitaufwändig: Ein Prüfer und ein Beisitzer sind 30 bis 45 Minuten pro Prüfling beschäftigt – das lässt sich bei bis zu 8 Prüfungen pro Student pro Studium (jeweils zur Hälfte Vordiploms- und Diplomprüfungen) organisieren, wird aber deutlich schwieriger, wenn die Anzahl der Prüfungen um den Faktor 3 zunimmt wie im jetzigen Bachelor-Master-System. Dementsprechend sind die Studienpläne jetzt weitgehend auf Klausuren umgestellt – Studium Im Takt der Klausuren; mündliche Nachprüfungen gibt es nur noch für diejenigen, die eine Klausur trotz mehrfacher Versuche nicht bestanden haben. (An der Universität Bologna ist das übrigens ganz anders, wie dieser schöne ZEIT-Artikel beschreibt.)

Prüfen wir mit solch einer Studienstruktur überhaupt noch tieferes Verständnis?

Ich war in Unterschiede zwischen Schule und Forschung schon auf den Unterschied zwischen einem geistigen Schutzraum mit klar definierbaren, lösbaren Aufgaben und der ergebnisoffenen, unsicheren Welt der Forschung eingegangen, in der einige – selbst einige einfach formulierte! – Aufgaben praktisch sogar gar nicht lösbar sind. Dieser Unterschied macht am Haus der Astronomie regelmäßig unseren Schülerpraktikanten zu schaffen (und soll es auch – das ist eine wichtige Botschaft des Praktikums!). Klausurenlastigkeit verschiebt den Schutzraum noch weiter in die Universität hinein.

Man kann über die Frage, wie real die Wahrnehmung gestiegener Belastungen, eines stressigeren Studiums im Bachelor-Master-System sind, durchaus diskutieren. Da gibt es ja einige interessante Studien dazu, dass zwar der Zeitaufwand für das Studium nicht gestiegen ist, die Belastung dagegen in der Tat. Aber das Absurde ist doch, wenn (u.a.) die Klausurenlastigkeit einerseits für Belastungen sorgt, aber wir auch bei den Ergebnissen einen Verlust erleiden – den Verlust, tieferes Verständnis gar nicht mehr feststellen und abfragen zu können.

Mündliche Prüfungen – subjektiv?

Ich war in Ein Blick auf die Anreize vor knapp einem Jahr darauf eingegangen, wie und mit welchem Hintergrund wir den Leistungsnachweis für den (Pflicht-)Astronomiekurs für Lehramtstudierende Physik, der jedes Jahr am Haus der Astronomie stattfindet, 2013 auf mündliche Prüfungen umgestellt hatten – nach wie vor mit täglichen Aufgabenblättern für die Studierenden, aber jetzt mit Aufgaben, die jetzt nicht mehr zum scheinrelevanten Punktesammeln dienen, sondern als Vorbereitung auf die mündliche Prüfung.

Unsere Erfahrungen aus dem letzten Jahr mit diesen mündlichen Prüfungen waren durchaus gut. Wir alle, die wir an den Prüfungen beteiligt waren, hatten den Eindruck, dass die Unterschiede zwischen den Studierenden, die die Inhalte verstanden hatten, und denen, bei denen das Verständnis lückenhaft war, in den mündlichen Prüfungen sehr deutlich wurde. Sind die Noten für mündliche Prüfungen subjektiver als die für Klausuren? Mein Eindruck ist, dass man als Prüfer recht schnell Erfahrungen sammelt, welche Spannbreite an Verständnistiefe und -mangel es gibt, und dann auch lernt, diese Spannbreite auf die Spanne an möglichen Noten abzubilden. Ein Klausurergebnis mag auf den ersten Blick objektiver scheinen. Die Punktezahl wurde vorher definiert, die Punktekriterien für jede einzelne Aufgabe auch, das Errechnen der Note wird damit zu einem mechanischen Prozess. Aber dieser Anschein von Objektivität täuscht – zumindest wenn das Ziel nicht das automatisierbar-nachprüfbare Zuordnen eines Notenwertes ist, sondern eben der Anspruch, Verständnis zu prüfen. Denn ich habe bei einer Klausur eben keine richtige Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Aufgabenlösung-durch-Auswendiglernen und Aufgabenlösung aufgrund von tieferem Verständnis.

Insofern: Auch wenn’s in den Grundzügen jetzt natürlich beim Bachelor-Master-System bleibt – an den Einzelheiten, eben z.B. den Prüfungsmodalitäten, wird hoffentlich noch weiter gefeilt werden. Ich hoffe jedenfalls auf ein größeres Comeback mündlicher Prüfungen.

[In ein paar Tagen folgt an dieser Stelle ein zweiter Teil, in dem es u.a. um Ablauf von mündlichen Prüfungen sowie die Vorbereitung darauf gehen wird.]

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

10 Kommentare

  1. Es braucht beides: Mündliche Prüfungen mit frei navigiertem Gespräch und unerwarteten Fragen und schriftliche Prüfungen mit Aufgaben, die mehrere operationelle Schritte erfordern.
    Beides sind ganz verschiedene Fertigkeiten. Es gibt Leute mit gutem Verständnis, die aber längere, mehrere hintereinander folgende Schritte erfordernde schriftliche Aufgaben nicht bewältigen können und es gibt Leute, die gut sind darin, die aber blockiert sind beim freien Gespräch oder die sich im Gespräch in eine Ecke verrennen aus der sie nicht mehr herauskommen. Beides, also mündliche und schriftliche Prüfungen müssten zu einer wichtigen Prüfung dazugehören. Wenn es aber zuviele Studenten und zuwenig Zeit gibt, dann werden wohl nur noch schriftliche Prüfungen abgehalten. Das ist aber eine falsche Entwicklung.

  2. Ich denke, dass schriftliche Prüfungen objektiver SIND – und vor allem macht es die Leistungen der Studierenden untereinander viel besser vergleichbar. Meiner Erfahrung nach (Studium in den Biowissenschaften) geben Prüfer in mündlichen Prüfungen mehr Hilfestellungen, wenn’s mal hakt oder sie wechseln das Thema, wenn der Prüfling nicht weiter weiß, bis sie etwas finden, worüber der Studierende etwas erzählen kann. Das führt dazu, dass auch ganz unterschiedliche Themen während der 30 Minuten abgehandelt werden, wenn man individuelle mündliche Prüfungen miteinander vergleicht. Da sehe ich einfach die Vergleichbarkeit nicht. Dementsprechend waren die Noten von mündlichen Prüfungen von Leuten, von denen bekannt war, dass sie sich eher mäßig vorbereiten und in den Themen wenig auskennen, oft überraschend gut.
    Ich kann mich da noch an einen Prof erinnern, der sich wunderte, dass der Notenschnitt viel schlechter wurde, nachdem man auf schriftliche Prüfungen umgestellt hatte. Wundert mich ehrlich gesagt nicht. Vor allem wenn man weiß, dass viele Profs sich Antworten in Klausuren durchlesen und Punkte nach ihrem “Eindruck” vergeben (O-Ton Prof), weil sie keine Lust hatten, sich voher über ihre Erwartungen Gedanken zu machen. Diese Art von subjektivem Bewerten ist bei mündlichen Prüfungen noch viel stärker. Deswegen bin ich kein Freund mündlicher Prüfungen (schon gar nicht von Nachprüfungen; das lässt sich mit dem anderen Teil der Studierenden, die schriftlich geprüft wurden, überhaupt nicht mehr vergleichen).
    Disclaimer: das beruht auf meinen ganz subjektiven Eindrücken und Erfahrungen.

  3. Meine Erfahrung anhand eines Beispiels einer mündlichen Prüfung (MP) an einer deutschen Hochschule in einem Ingenieursstudiengang:

    – Dozent bietet den Studis die Möglichkeit an, eine mündliche Prüfung im Fach X zu absolvieren — alternativ dazu kann auch eine Klausur geschrieben werden. Von der Organisation her wird die MP bevorzugt, da die Anzahl der Studenten recht überschaubar ist (< 15).
    – MP-Termin wird festgelegt, prüfungsrelevante Themen (z.B. Sensoren) werden in der letzten Vorlesung diskutiert
    – MP-Verlauf: Student #1 bekommt 4 Aufgabenblätter gestellt, von denen er eines abwählen kann. Nach einer kurzen Bearbeitungsdauer der restlichen drei Blätter (~5-10 Min) wird er mündlich geprüft. Die Prüfung dauert etwa 30 Minuten, anschließend werden ca. 5 Minuten extra für die Benotung veranschlagt. Danach ist Student #2 dran und der Prozess wiederholt sich im Laufe der nächsten 4-6 Stunden. Die Note erfährt man im Prinzip sofort anhand von objektiver Kriterien (Wissensabfrage, Argumentation, Präsentation…).

    Soweit sogut… Aber dann geht es weiter…

    – Student #1 erzählt seinen Kommilitonen über den Prüfungsverlauf, über die Aufgabenblätter und über den Prüfungsstil
    – Die Kommilitonen werden nun beeinflusst (z.B. Blatt Nr. 2 = Thema abc, Prüfer stellt schwere Fragen – auf keinen Fall Blatt Nr. 2 aus dem Stapel auswählen..)
    – Mit jeder weiteren Prüfung werden mehr und mehr Details der MP bekannt, sodass die übrig gebliebenen Studenten ein zuvor breites Themenspektrum selektiv reduzieren und nur bestimmte Fakten auswendig lernen
    – Manche nehmen vor der Prüfung Traubenzucker, um die Aufnahmefähigkeit kurzzeitig zu steigern
    – Nach der Prüfung ist fast alles wieder vergessen, der Student ist erschöpft aber es hat für eine Note 2,X oder besser gereicht

    Ich habe es so erlebt. Ein tieferes Verständnis war während meiner MP nicht notwendig, allerdings konnte ich Punkte sammeln, falls ich eine für mich schwierige Frage plausibel beantworten konnte. Ob man z.B. ein elektrisches System mit einer komplizierten Differentialgleichung oder einer Formel aus der 10. Schulklasse beschreiben muss — darauf einigt man sich vorher. Die Prüfungszeit reicht einfach nicht aus, um seinen (Un-)Wissensstand vollständig zu präsentieren. Während meines Studiums summierte sich der Anteil von MP auf ca. 10%.

    Deshalb finde ich, dass MP'en mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden sollten. Im physikalischen Praktikum ist die MP in Form eines Fachgesprächs meiner Meinung nach absolut notwendig, bei Prüfungsleistungen hingegen sollte es optional bleiben.

  4. Meine Erfahrungen – und auch meine Meinung zur Frage lieber schriftliche oder mündliche Prüfungen – deckt sich grösstenteils mit dem was stboec oben geäussert hat.

    Anfügen möchte ich noch, dass es neben den beiden in Deutschland praktizierten Varianten noch Möglichkeiten gibt, die an den hiesigen Universitäten (jedenfalls so weit ich weiss) überhaupt nicht genutzt werden: In Uppsala/Schweden, wo ich dank Erasmus zwei Semester verbringen durfte, gab es fast ausschliesslich schriftliche Prüfungen – allerdings in einem völlig anderen Rahmen als jenem, den ich aus Deutschland gewohnt war. In Uppsala dauerte die Klausur üblicherweise vier Stunden, nach frühestens einer Stunde durften die Prüflinge gehen (wenn sie das wollten).

    Die Aufgaben bestanden nicht aus Rechenaufgaben nach dem Schema: finde erstens die passende Formel, setze zweitens die richtigen Parameter ein und versuche Dich drittens nicht zu vertippen, wenn Du mit dem Taschenrechner die Lösung berechnest. Statt dessen ging es in einem grossen Teil der Aufgaben darum, Sachverhalte und wissenschaftliche Zusammenhänge in Worten zu erläutern. Deshalb auch die grosszügig bemessene Zeit.

    Da wurde etwa gefragt, wann bestimmte Näherungen gemacht werden dürfen und warum, aus welchen Messdaten sich welche Informationen über einen Stern ableiten lassen, wie eine experimentelle Apparatur aussehen könnte, die ein bestimmtes Phänomen nachweisen soll etc pp. Das ist inhaltlich einer mündlichen Prüfung gar nicht unähnlich, nur dass der Prüfling sein Wissen halbwegs geordnet zu Papier bringen muss – und dass alle die gleichen Fragen beantworten müssen.

    Vieles von dem Bias (Gender, Lampenfieber, Sympathie…), der mündlichen Prüfungen angelastet wird, ist damit hinfällig; der Vorwurf in Richtung schriftliche Prüfung, man frage nur stupide auswendig Gelerntes ab, ebenfalls.

    Solche Klausuren bedeuten sicherlich einen höheren Korrekturaufwand als die 60-Minuten-Rechnen-Sprints, die ich in Deutschland absolviert habe – dürfte aber noch deutlich unter dem zeitlichen Aufwand einer mündlichen Prüfung liegen.

  5. “Es ist bei [den unzähligen Schilderungen misslungener mündlicher Prüfungen] fraglich, ob sie so stattgefunden haben, so eindrucksvoll und teilweise anrührend sie auch sind, wenn sie von den Betroffenen vorgetragen werden. Ich möchte nur die Tatsache, dass diese Geschichten überhaupt und massenhaft erzählt werden, als Symptom dafür nehmen, dass das System erneuerungsbedürftig ist.
    […]
    Eine mündliche Prüfung ist immer eine kommunikative Situation. Wenn sich zwei Menschen gegenüber sitzen und sich in die Augen sehen, dann hängt immer noch mehr zwischen ihnen im Raum als die Frage, wie ein MHC-Molekül aufgebaut ist, warum Calcium-Phosphat-Verhältnisse wichtig sind oder wie man Diabetes diagnostiziert. Man überprüft unbewusst, ob man sich ähnlich ist. Es gibt Anteile einer mündlichen Prüfung, denen Prüfling und Prüfer ausgeliefert sind und derer sich der Prüfer nicht bewusst ist, weil sie auf einer nonverbalen Ebene ablaufen. Gruppenzugehörigkeiten werden abgecheckt. Man merkt, ob man sich fremd oder vertraut vorkommt, ob man solche Typen einordnen kann oder nicht”

    Das hat Christina Hucklenbroich, die inzwischen Redakteurin bei der F.A.Z. ist, im Jahr 2002 aufgeschrieben, in einer bemerkenswerten und noch immer aktuellen Analyse mündlicher Prüfungen in ihrem eigenen Studienfach, der Tiermedizin.

    Ihr Fazit: Mündliche Prüfungen sind nicht objektiv. Mündliche Prüfungen diskriminieren Studierende aus unterrepräsentierten Milieus, sofern sie fachlich nicht brillieren. Und sie bringen insbesondere schwache Studierende, die mit den Lerninhalten kämpfen, um eine klare, frühzeitige und vergleichbare Rückmeldung darüber, ob sie für das gewählte Studium überhaupt geeignet sind und für das Berufsleben, das sich daran anschliesst.

    Wir Physiker jammern, wenn es um die Frage der Prüfungsgestaltung geht, auf hohem Niveau. Die Argumente für schriftliche, gegen mündliche Prüfungen bleiben dessen ungeachtet gültig.

    Der vollständige Artikel von Christina ist im Internet verfügbar:
    http://www.vmf.uni-leipzig.de/ik/wfreundeskreis/umschau/U15-0302.pdf (Seiten 13 bis 17 im pdf)

  6. Als Prüfer bewerte ich regelmäßig Klausuren, und halte auch regelmäßig mündliche Prüfungen. Nach meiner Erfahrung / meiner Wahrnehmung sind mündliche Prüfungen sind objektiver als Klausuren. Meine Klausuren sind keine Multiple-Choice-Tests, sondern Fragen mit frei zu formulierenden Antworten, ein bischen so wie die von Helga Rietz beschriebenen Klausuren in Schweden (allerdings nur 2 Stunden Zeit). Multiple-Choice-Tests wären objektiver, aber ich weiss nicht, welche fachlich relevanten akademischen Lernziele man mit ihnen abprüfen kann.

    Viele Studentinnen und Studenten schneiden in Klausuren nicht deshalb schlecht ab, weil sie schlecht gelernt haben, sondern weil sie

    (a) Pech haben mit den Themen, die in den Klausuraufgaben vorkommen,

    (b) sich die Zeit schlecht einteilen,

    (c) Aufgaben missverstehen und falsche Lösungen abgeben oder

    (d) teilweise richtige Antworten geben.

    Zu (a): Klausuren sollten die Breite einer Veranstaltung abdecken, aber man kann nicht zu jedem Themengebiet eine anspruchsvolle Frage stellen. Die Auswahl der Themengebiete ist zufällig, entsprechend stehen die Chancen für Kandidaten, die “auf Lücke” lernen, oder auch mit bestimmten Themengebieten auf Kriegsfuß stehen. In einer mündlichen Prüfung bei mir kann der Student / die Studentin jederzeit um einen Themenwechsel bitten. Das ist natürliche in Minuspunkt für die Bewertung, aber es gibt die Chance, auf anderen Themengebieten zu glänzen und den Minuspunkt mehr als auszugleichen.

    Zu (b): Die Zeiteinteilung in mündlichen Prüfungen ist Aufgabe der Prüfenden, nicht der Geprüften.

    Zu (c): In einer mündlichen Prüfung kann ich korrigierend eingreifen, wenn die Antwort nicht zur gestellten Frage passt. Bei einer Klausur finde ich das erst hinterher heraus. Ich merke, da hat jemand etwas gelernt und verstanden, aber, weil die gestellte Frage nicht beantwortet wurde, muss ich Null Punkte geben. Das ist sehr frustrierend, für mich mindestens so sehr wie für die Studierenden.

    Zu (d): Teilweise richtige Antworten sind für gewissenhafte Prüfende eine Qual! Wenn es für eine richtige Antwort volle 10 Punkte gäbe, kann man im Prinzip jede Bewertung rechtfertigen, zwischen 1 und 9 Punkten. Wieviel gibt man nun? Bei sehr guten Prüflingen kann das den Unterschied zwischen 1.0 und 1.7 ausmachen … bei Prüflingen nahe der Bestehensgrenze zwischen 3.7 und “nicht bestanden”. In einer mündlichen Prüfung kann ich durch Hinweise und Hilfestellungen herausfinden, ob die Prüflinge in der Lage sind, die Frage komplett richtig zu beantworten, oder nicht.

  7. Ihre Argumente sind gut nachvollziehbar, Herr Lucks, und ich habe sie so ähnlich auch schon von anderen Dozenten gehört, die regelmässig Studenten prüfen. Ich wüsste allerdings gern von Ihnen, wie Sie in Ihren mündlichen Prüfungen sicherstellen, eine – ich nenne es mal “situative Ungerechtigkeit” – zu vermeiden? Damit meine ich zum Beispiel folgendes (eine Situation, die Studenten massenweise erzählen):

    Die mündliche Prüfung beginnt, der Prüfling ist entweder noch sehr aufgeregt oder noch nicht so richtig “drin”, oder die erste Frage erwischt ihn auf dem falschen Fuss. Die Antwort des Prüflings auf Frage 1 fällt dementsprechend unbefriedigend aus. Daraufhin passiert es laut Schilderungen häufig, dass die Prüfung auf einem weniger anspruchsvollen Niveau fortgesetzt wird. Vielleicht will der Prüfer dem Prüfling damit einen Gefallen tun; er will den Studenten nicht noch weiter verunsichern, ihn nicht überfordern. Die Prüfung plätschert mit eher leichten Fragen bis zum Ende, der Prüfling geht mit einer 2,5 im Heft nach Hause – und ist total unzufrieden, weil er glaubt, dass er von seinem Können und Wissen her auch eine 1,5 hätte schaffen könne – wenn er am Anfang nicht diesen Ausrutscher gehabt oder eine zweite und dritte Chance bekommen hätte, mit seinem Wissen zu brillieren. Wie stellen Sie in einer mündlichen Prüfung sicher, dass das nicht passiert?

    Wie stellen Sie weiter sicher, dass Sie alle Ihre Prüflinge vergleichbar und objektiv behandeln, auch wenn der Kandidat aus irgendwelchen ausserfachlichen Gründen anders ist als erwartet (vgl. mein zweiter Kommentar oben bzw. der Artikel von Christina Hucklenbroich)?

    • Einige Antworten zu den Fragen von Frau Rietz:

      “Die mündliche Prüfung beginnt, der Prüfling ist entweder noch sehr aufgeregt oder noch nicht so richtig “drin”, oder die erste Frage erwischt ihn auf dem falschen Fuss. […] Die Prüfung plätschert mit eher leichten Fragen bis zum Ende, der Prüfling geht mit einer 2,5 im Heft nach Hause – und ist total unzufrieden […] Wie stellen Sie in einer mündlichen Prüfung sicher, dass das nicht passiert?”

      Zunächst einmal kann ich als Prüfer immer nur *versuchen*, sicherzustellen, dass so etwas nicht passiert. Was den Einstieg in eine Prüfung angeht, haben meine Prüflinge grundsätzlich einen freien Einstieg in ein Thema ihrer Wahl. Das wissen meine Prüflinge auch. Ansonsten achte ich darauf, Prüflingen, die auf eine mittlere Note zuzugehen scheinen, mindestens eine zweite schwierige Frage zu geben, als “Chance”, sich zu bewähren. Für eine dritte Chance reicht es meistens nicht.

      “Wie stellen Sie weiter sicher, dass Sie alle Ihre Prüflinge vergleichbar und objektiv behandeln, auch wenn der Kandidat aus irgendwelchen ausserfachlichen Gründen anders ist als erwartet (vgl. mein zweiter Kommentar oben bzw. der Artikel von Christina Hucklenbroich)?”

      Das kann ich erst recht nur *versuchen*, sicherzustellen, indem ich gewissenhaft prüfe. Bevor ich die Note festlege, schaue ich das Prüfungsprotokoll an und vergebe im Kopf Punkte, wie bei einer Klausurbewertung.

      “Eine mündliche Prüfung ist immer eine kommunikative Situation.”

      Eine Klausur mit frei formulierbaren Antworten ist das nicht weniger. Wer sich so ausdrücken kann, wie der Prüfer oder die Prüferin erwarten, ist im Vorteil.

      Nach meiner Erfahrung sind Studierende eher bereit, eine schlechte Note nach einer Klausur zu aktzeptieren, als eine nach einer mündlichen Prüfung. Das ist nicht verwunderlich, die Schein-Genauigkeit der Bewertung bei einer Klausur ist ein irreführendes, aber überzeugendes Argument: “X Punkte, Note Y.Z, da kann man nichts machen! Alle hatten die gleichen Aufgaben.”

      Das ist eine Wahrnehmungsfrage. Es bedeutet nicht, das Klausuren tatsächlich objektiver oder gerechter bewertet werden.

  8. Vielen Dank an die Kommentatoren, insbesondere an Helga Rietz, für die interessanten Kommentare und Hinweise!

    Die schwedischen Klausuren sind sicher eine bedenkenswerte Alternative; mein Eindruck ist allerdings, dass man da erst eine bestimmte Kultur aufbauen muss, bis solche Klausuren richtig funktionieren. Ich sehe das Potential, dass gerade gute Prüflinge in solchen Aufsätzen gut zeigen können, was sie zu leisten imstande sind – aber eben nur, wenn sie an dieses besondere Prüfungsformat gewöhnt sind. Und es bleibt natürlich die Gefahr, dass sich ein Prüfling in solch einer Klausur verrennt (dort, wo in einer mündlichen Prüfung ein guter Prüfer den Prüfling längst vorsichtig wieder auf den “geraden Weg” zurückgeholt hätte). Umgekehrt hat diese Art von schriftlicher Klausur natürlich auch ihre Tücken – gerade weil sie nicht “mechanistisch” aufgebaut ist, gibt es Bewertungsspielräume und damit Unsicherheit in der Benotung. Immerhin ist richtig, dass außerfachliche Vorurteile vermutlich weniger ins Gewicht fallen (insbesondere, falls man die Antworten anonymisiert benotet).

    Andererseits zeigt Frau Hucklenbroich ja selbst einiges an Skepsis gegenüber den Geschichten, die da zum Teil über mündliche Prüfungen kursieren. Mein Schluss wäre daraus aber nicht das Umschwenken auf medizinerhafte Multiple-Choice-Prüfungen; dass mündliche Prüfungen im Prinzip am geeignetsten dafür sind, Verständnis zu prüfen, halte ich nach wie vor für zutreffend.

    Was kann die Lehre daraus sein? Aus meiner Sicht ein Mix an Prüfungsformen, bei denen mündliche Prüfungen aber auch ihren Platz haben – aber vielleicht nur mündliche Prüfungen der Form bestanden/nicht bestanden (denn eine bis auf die Zehntelnote reproduzierbare Notengabe dürfte bei mündlichen Prüfungen in der Tat nicht möglich sein). Zweitens, ein allgemeineres Problem, eine entsprechende Fortbildung der Prüfer – Norm dürfte ja derzeit in Deutschland sein, dass die Prüfer zwar exzellente Fachwissenschaftler, in allen Dingen der Lehrer aber weitgehend Autodidakten sind. Im britischen System, wo junge Dozenten Einführungskurse in Lehrtechniken erhalten, ist man da schon weiter. Drittens evt. so etwas wie weitere Beisitzer – evt. aus den Fachschaften? – mit analoger Rolle wie jener, die Gleichstellungsbeauftragte beim Vorstellungsgespräch haben.

  9. Das ist ja grad irre spannend hier…. Ich antworte mal schnell hier, bevor ich rüber auf den zweiten Beitrag zum gleichen Thema wechsle:

    Sicher müsste sich, wollte man die schriftlichen Prüfungen nach schwedischem Vorbild reformieren, erst eine entsprechende Kultur etablieren, was Zeit in Anspruch nimmt. Allerdings muss man dann auch fragen, wie es im Moment eigentlich um die Kultur unserer mündlichen Prüfungen bestellt ist, wenn so viele Studenten dieses Verfahren als ungerecht empfinden. Sie haben oben selbst den Aspekt der “Ausbildung zum Prüfer” angesprochen, die ich in diesem Zusammenhang sehr wichtig finde. Wo lernen denn die Prüfer das Prüfen? Vermutlich einfach durch “Beisitzen” und “learning by doing”. Reicht das aus? Haben unsere Prüfer gedanklich durchdrungen, was während einer Prüfung auf nichtverbaler, ausserfachlicher Ebene passiert?

    Die Gefahr des “Verrennens” in einer schriftlichen Klausur ist nicht von der Hand zu weisen. Sie ist da, und es passiert immer wieder. In Schweden gab es hier ab und zu kleine Hilfestellungen – etwa sagten die “Aufsichtspersonen” (man muss sich das so vorstellen, dass in einem sehr grossen Saal gleichzeitig viele verschiedene Prüfungen abgehalten werden, und nicht die jeweiligen Dozenten, sondern Menschen aus ganz unterschiedlichen akademischen Positionen eine Aufsicht im Sinne des Verhinderns von Schummeleien, geordneter Abgabe der Prüfungsblätter etc übernahmen) – diese Aufsichtspersonen erinnerten uns also in regelmässigen Abständen daran, dass wir Acht geben sollten, uns nicht zu verrennen: “Wenn Sie länger als 20 Minuten an derselben Aufgabe sitzen, überdenken Sie sich bitte Ihre Zeiteinteilung. ” Das ist erstaunlich effizient. Ausserdem haben manche Dozenten Fragen, die man im Grunde in epischer Breite beantworten konnte, mit einer Längenangabe versehen: “Schreiben Sie nicht mehr als x Worte” oder “Schreiben Sie nicht mehr als eine Seite”. Auch das hilft. Denn es ist ja klar: Ein Prüfling im ersten Studienjahr sollte beispielsweise auf die Frage, warum das Periodensystem so aufgebaut ist wie es ist gute Antworten parat haben – soll aber deswegen nicht gleich ein Buch darüber verfassen.

    Was wäre die Lösung? Meiner Meinung nach wäre viel gewonnen, gäbe es sowohl mehr Prüfungen als auch mehr Prüfungsformen. Dass zum Beispiel die Diplomnote allein anhand von vier mündlichen Prüfungen (plus Diplomarbeit) festgelegt wird, ist in meinen Augen ein Unding – dazu später mehr. Ich würde vorschlagen
    – Seminarvorträge in Form einer benoteten “kleinen Verteidigung” abzuhalten, mit Vortrag, Fragen zum Vortrag, Fragen die über den Inhalt des Vorgetragenen in angemessener Weise hinausgehen.
    – Die Anzahl der Notenstufen in allen Prüfungen, zumindest aber in den mündlichen, auf maximal vier Stufen zu beschränken und nur noch zu unterscheiden zwischen einer sehr guten Leistung, einer Performance im gesunden Mittelfeld, lückenhaftem Wissen und “durchgefallen”. Die Einteilung nach Drittelnoten ist imho nicht glaubwürdig.
    – Einen Mix aus schriftlichen, mündlichen und gegebenenfalls auch praktischen Prüfungen in die Endnote einfliessen zu lassen. Im Rahmen der Umstellung auf Bachelor/Master ist das ja, so weit ich weiss, teilweise schon geschehen.
    – Nochmal Schweden als Vorbild: Für die Grundvorlesung Astronomie mussten wir dort neben den Klausuren (2 pro Semester, wenn ich mich richtig erinnere), noch eine Art Review schreiben. Es gab eine Themenliste aus der aktuellen Forschung, selbstgewählte Themen gingen aber auch, in Absprache mit dem Dozenten. Es galt, zu diesem Thema Literatur zu recherchieren und schriftlich auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Auch das war eine absolut sinnvolle Übung, die gut auf spätere Aufgaben im Forscherleben vorbereitet hat – und sie wurde auch als solche empfunden, was vielleicht noch wichtiger ist. In der Vorlesung “Laserphysik” flossen neben einer langen Klausur pro Student ein Seminarvortrag und ein selbstgestaltetes Poster (sic!) in die Benotung mit ein (wenngleich deutlich geringer gewichtet als die Klausur)….

    Fazit: Wir diskutieren hier, ob schriftliche oder mündliche Prüfungen “besser” sind, dabei gibt es für das universitäre Prüfungswesen Möglichkeiten, die zu Unrecht viel zu selten, wenn überhaupt, in Betracht gezogen werden.