Weltraumtechniksinfoniejazz

BLOG: RELATIV EINFACH

… aber nicht einfacher
RELATIV EINFACH

Eigentlich war ich gestern aus ganz anderen Gründen am ESTEC in Noordwijk, dem Technologiezentrum der europäischen Weltraumagentur ESA. Aber dann hat unser Betreuer uns noch vorgeführt, worin seine Hauptarbeit besteht, und das war dann doch zu faszinierend, um nicht darüber zu bloggen. “Concurrent design” heißt das Stichwort – und es geht darum, wie neue Satellitenmissionen, aber z.B. auch Trägersysteme und andere weltraumtaugliche Systeme entwickelt werden.

ESTEC liegt im niederländischen Noordwijk, rund 20 Autominuten von der schönen (und auch für die Astronomie wichtigen) Stadt Leiden entfernt, an der Nordsee direkt hinter den Dünen: Ein großer  Büro- und Laborkomplex mit strenger Eingangskontrolle, davor die Fahnen der ESA-Mitgliedsstaaten; im Hauptgebäude (das, etwas überraschend, Designelemente einer Strandhütte aufweist, komplett mit verwitterter Holzverkleidung) ein langer Korridor mit lauter Modellen und Beschreibungen der verschiedenen ESA-Satelliten.

Als Astronom trifft man beim Gang durch das Gebäude viele alte Bekannte in Modellform: Das Herschel-Weltraumteleskop, das James Webb-Weltraumteleskop (beide sehen aus mir unerfindlichen Gründen im Modell deutlich gedrungener aus als in den Computersimulationen), den Planck-Satelliten; vom Hubble-Weltraumteleskop hängt sogar ein Originalteil an der Wand: Eines der Sonnensegel, welches die Astronomen bei der  Wartungsmission 3B (glaube ich) abgebaut und durch eine modernere Solarzellenfläche ersetzt hatten.

Unser ESA-Kontakt, Massimo Bandecchi, ist “Head of Systems & Concurrent Engineering Section” bei ESTEC, und mit seinen Leuten dafür zuständig, neue Satellitenmissionen so zu entwerfen, dass sie den Anfordungen der Kunden – bei Weltraumteleskopen: der jeweiligen Konsortien – gerecht werden und (trotzdem, möchte man manchmal hinzufügen) gut funktionieren.

Am Haus der Astronomie und bei meinen vorigen Jobs ging es immer um relativ überschaubare Projekte: höchstens ein Dutzend an der Planung Beteiligte, weitgehend klar getrennte Zuständigkeiten. Sicher gab es auch dort Abstimmungsbedarf, aber dann traf man sich eben zu Besprechungen oder mit Einzelpersonen, verteilte Aufgaben, schrieb sich gegenseitig E-Mails oder telefonierte, und am Ende passte irgendwie alles, wie es passen musste. Vortragsreihen und (z.T. sehr viel) größere Veranstaltungen, Texte mit vielen Koautoren, Beiträge zu Ausstellungen und Ähnliches kann man auf diese Weise bewältigen.

Bei komplexeren Projekten wie jenen, von denen uns Bandecchi erzählte, würde man sich mit einem solchen Ansatz hoffnungslos verheddern. Beim Satelliten-Design (und analog sicher auch beim Entwurf anderer komplexer Produkte) kommt folgendes zusammen: Erstens geht es nicht ohne Spezialisierung, denn die einzelnen Systeme eines Satelliten – von der Grundstruktur über die Energieversorgung und Wärmeregelung bis hin zu den spezielleren Anforderungen der Nutzlast, z.B. wissenschaftlicher Instrumente – sind für sich genommen ja bereits jeweils hochkomplex.

Zweitens gibt es viele gegenseitige Abhängigkeiten, vor allem auch, weil es globale Randbedingungen gibt. So darf das Startgewicht eines Satelliten je nach verwendeter Trägerrakete bestimmte Werte nicht überschreiten; bestimmte Höchstausmaße sind natürlich auch einzuhalten, wenn der Satellit in die Nutzlastkapsel (“Fairing”) der Rakete passen soll; die Kosten muss man dabei selbstverständlich auch im Blick behalten.

Damit sind Abstimmungsprobleme vorprogrammiert. Ändert man etwas an einem der Teilsysteme, kann das z.B. die Energieversorgung beeinflussen (mehr oder weniger Leistung nötig?), die Anordnung der Komponenten des Satelliten, den Schwerpunkt, die Systeme mit denen das betreffende Teilsystem zusammenspielt – und jede Anpassung anderer Komponenten, die man daraufhin vornimmt, kann ihrerseits Auswirkungen haben, die weitere Anpassungen nötig machen, und so weiter. Welche Auswirkungen das im einzelnen sind? Das weiss kein einzelner Ingenieur allein, sondern dafür muss man die jeweiligen Experten ins Spiel bringen.

Mit gelegentlichen Meetings, viel E-Mail-Verkehr und ansonsten einsamem Dahinwerkeln wird man einem solchen Netz von Abhängigkeiten nicht gerecht. Das hatte auch Bandecchis damaliger Chef, der heutige ESTEC-Direktor Franco Ongaro begriffen, als er Bandecchi Ende der 1990er Jahre den Auftrag gab, eine “Concurrent Design Facility” aufzubauen – aufbauend auf den Methoden, die die Raumfahrtingenieure und -manager in den USA z.B. am Jet Propulsion Laboratory entwickelt hatten und auf analogen Methoden in anderen Industriezweigen, mit denen Bandecchi bereits etwas Erfahrungen hatte sammeln können.

Die letzte Ausbaustufe der Concurrent Design Facility durften wir dann gestern in Aktion erleben. Ort des Geschehens ist ein großer Raum, der vielleicht 20 mal 20 Meter misst. Das folgende ESA-Bild entspricht recht gut dem, was wir da auch gesehen haben (außer, dass in unserem Falle, auch das fällt einem ja mittlerweile auf, keine einzige Frau im Raum saß):

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[Bild: ESA]

Sitzplätze gibt es da für rund 40 Menschen; Stühle und Tische sind zu zwei ineinander geschachtelten “U”s angeordnet. Vorne befinden sich zwei Projektionswände, die eine 6 Meter breit, die andere eine große Touchscreen. Und außerdem hat jeder auf seinem Tisch einen eigenen Monitor mit Keyboard; zu zweit teilen sich die Teilnehmer dann noch einen weiteren Monitor, dahinter auf jeden Teilnehmer eine Kamera gerichtet, davor für jeden ein Mikrofon. Hier ist so eine Workstation zu sehen; die Schalttafel hinter dem Mikrofon kann genutzt werden, um sich die Anzeigen der anderen Displays auf den eigenen Bildschirm zu holen, oder umgekehrt das eigene Bild auf ein anderes Display zu schalten:

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[Bild: ESA]

Weitere Displays an den Seitenwänden und an der Hinterwand – letztere können ausgeschaltet werden und stellen dann Sichtkontakt zu einem Nebenraum mit weiteren Arbeitstischen her – ergänzen das Bild.

Und das sind sie auch schon, die technischen Voraussetzungen für “Concurrent Design”, wörtlich “simultanes Entwickeln”: In diesem Raum versammeln sich die Fachingenieure der verschiedenen Abteilungen, Vertreter der Kunden (also der Nutzer bzw. Auftraggeber für den Satelliten), Mitarbeiter von der Kostenkontrolle, Projektmanager und Systemingenieure und Risikoanalysten. Üblicherweise sind dabei nicht nur ESTEC-Leute, sondern auch Mitarbeiter der ESOC dabei, entweder im Raum oder per Video dazugeschaltet; ESOC ist das ESA-Operationszentrum, das “European Space Operations Center” in Darmstadt, wo ja auch Blogger-Kollege Michael Khan von den Kosmologs arbeitet.

Und dann wird, in der Regel rund vier Stunden am Stück, so gearbeitet, wie es dem komplexen Geflecht der Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Systemen entspricht. Bandecchi spricht gerne vom Sinfonieorchester der Ingenieure, mit dem Teamleiter, der ganz vorne steht und bei dem alle Technik zusammenläuft, als Dirigenten. Auch die Solisten passen noch in dieses Bild, denn typischer Weise kommen dann nacheinander die Vertreter der verschiedenen Fachgruppen nach vorne und stellen ihre Entwürfe vor. Was dann kommt, ist allerdings eher Jazz als klassische Musik, denn dann muss spontan improvisiert und reagiert werden: Während der Solist seinen Vorschlag macht, rechnen/simulieren/modellieren die betroffenen Fachvertreter, welche Konsequenzen das Gesagte für ihr Teilgebiet hat, stellen entsprechende Rückfragen oder bringen Einwände vor.

Das Ergebnis sind hochintensive Diskussionen, während denen die verschiedenen Ingenieure ihre Rechnungen zeigen, sich Hintergründe erklären lassen, gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen: Wo in den Satelliten passt die neue Komponente denn noch hinein? Wenn wir dieses Teil hier verschieben, funktioniert dann alles noch, und stimmt z.B. der Schwerpunkt? So etwa dürfte die Aktivität des Ingenieurs aussehen, der derweil an seinem CAD-Terminal sitzt und an einem virtuellen Modell der Struktur des Satelliten herumprobiert. Ändert sich etwas an der Wärmeentwicklung? Kann man etwaige zusätzliche Wärme ableiten, wenn ja: wie? Auch damit schlägt sich mindestens einer der Teilnehmer herum. Werden mechanische Komponenten gebraucht? Muss das neue System kommunizieren, und wenn ja, kommt das mit der Bandbreite hin? Und so weiter und so fort.

Dabei kommt die erwähnte geballte Technik zum Einsatz: Modellansichten und Ergebnisse werden auf die verschiedenen Displays geschaltet, Teilnehmer melden sich per Mikrofon zu Wort oder konferieren, um Teilfragen zu klären, per Zweier-Videokonferenz mit Kollegen im Raum oder in Darmstadt. Wenn nötig, werden auch schon einmal die 3D-Brillen hervorgeholt, um eine räumliche Anordnung genauer zu betrachten. Auch handfeste Modelle, hergestellt in der CDF-eigenen Rapid Prototyping-Maschine (ich will auch eine!) kommen zum Einsatz.

Erst wenn alle Einwände ausgeräumt sind, wird die Änderung übernommen – in ein Datenbanksystem, das weniger greifbar ist als der Raum mit seiner Technik, aber für das Funktionieren des Prozesses nicht minder wichtig. Das System zeigt über viele Entwicklungsstufen hinweg den jeweils aktuellen Stand des Konstruktionsprozesses; hier findet jeder der Ingenieure die Parameter der Kollegen, die er für seine eigene Planung braucht.

In der “heißen Phase” der Entwicklung, die rund 4 Wochen dauert, findet sich das Planungsteam an zwei festen Wochentagen zu solchen 4-Stunden-Sitzungen zusammen. Je nach Projekt kann davor noch eine Vorbereitungsphase liegen. Insgesamt, so erzählte Bandecchi, hätte man damit die Entwicklungsphase (Design phase), die früher 6 bis 9 Monate gedauert hätte, auf 3 bis 6 Wochen verkürzt.  

Ich finde die Vorstellung, dass die wesentlichen Konzepte von Weltraumissionen in solchen furiosen, systematischen Plenumsdiskussionen eines Weltraumtechniksinfoniejazzensembles entstehen, spannend und irgendwie auch angemessen.

ESTEC scheint jedenfalls auch recht stolz auf seine CDF zu sein; wer weitere Informationen möchte, findet auf den dortigen Webseiten jedenfalls viele weitere Details – Informationen zur Geschichte ebenso wie Panoramas, und natürlich auch eine Liste der Missionen, die ihre Design-Phase im CDF durchlaufen haben – darunter Missionen wie EChO (für diese Mission war unser Haus der Astronomie ja gerade im Januar Austragungsort des ersten Konsortiumstreffens) oder die EU-Version des Weltraum-Gravitationswellendetektors LISA.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

2 Kommentare

  1. Denken im Plenum?

    Spontan bin ich sehr skeptisch gegenüber der beschriebenen Arbeitsweise. Ich würde erwarten, dass in dieser Art von Vorgeführtwerden kein wirkliches Denken möglich ist, sondern nur ein Demonstrieren von etwas was bereits vorbereitet wurde. Aber viellicht täusche ich mich da. Zudem sind es ja nur 4 Stunden am Stück in denen man so ausgestellt arbeitet. Davor und danach bleibt genug Zeit zum Nachdenken und Verarbeiten. Wahrscheinlich ist das Geheimnis des Erfolgs dieser Arbeitsweise genau die richtige Kombination von Arbeit im Plenum und Reflektieren darüber.

  2. @Martin Holzherr

    Ich habe selbst auch nie Concurrent Design gemacht, kenne solch eine Art von kollektivem Denken aber durchaus aus wissenschaftlichen Diskussionen – wobei mit die spannendsten diejenigen waren, die in eine ähnliche Richtung liefen: Sehr kritische Nachfragen, freundliche aber unnachgiebige Atmosphäre, plus Teilnehmer, deren Wissen sich ergänzt. Insofern kommt mir durchaus plausibel vor, dass diese Arbeitsweise funktioniert.

    Was ja durchaus nicht dagegen spricht, dass die Kombination aus guter Einzel-Vorbereitung und Plenum der Schlüssel zum Erfolg ist.

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