Tyrannei der Präzision?

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… aber nicht einfacher
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Wie man richtig vereinfacht und wie nicht ist die vielleicht spannendste Frage der Wissenschaftskommunikation. Florian Freistetter hat sie jüngst wieder in einem Blogbeitrag aufgegriffen; sein Stichwort “Tyrannei der Präzision” bezieht sich dabei auf einen TED-Talk des Biologielehrers und Mikrobiologie-Doktoranden Tyler DeWitt. Der macht in der Wissenschaftskommunikation, konkret bei den Schulbüchern, einen Seriösitätskult aus, dem gemäß es sich einfach nicht schickt, Geschichten zu erzählen oder auch – Hilfe! – Humor in eine wissenschaftliche Schilderung einfließen zu lassen. Die Sprache in solchen Büchern, so DeWitt, sei von denjenigen bestimmt, die jegliche Vereinfachung ablehnen und nichts durchgehen, was nicht so präzise wie möglich formuliert sei. Das ist die titelgebende “Tyrannei der Präzision”, die es unmöglich mache, einfach mal so eine Geschichte zu erzählen.

Nun habe ich von vornherein nicht den Eindruck, die Situation sei so schwarz-weiß wie in DeWitts Vortrag gezeichnet – hie die überkommenen Institutionen, die nicht von der unverständlichen Präzision lassen können, auf der anderen Seite innovative Videoportale wie MIT+K12, für das sich DeWitt in seiner Freizeit engagiert. Und neu ist die Debatte um Vereinfachung und das Plädoyer für besseres Geschichtenerzählen ja nun auch gerade nicht. Aber ein guter Anlass, sich einmal wieder mit dem Thema auseinanderzusetzen ist der Vortrag allemal. Florian schlägt als Analogie Näherungen vor, wie man sie in der Wissenschaft ja auch verwende – warum also nicht in der Wissenschaftskommunikation?

Gute Geschichten sind wichtig

Darüber, das gute Geschichten wichtig sind und, allgemeiner, dass eine gute narrative Struktur beim Vermitteln von Wissenschaft wichtig ist, dürften sich die meisten Akteure einig sein. Wer über Wissenschaft schreibt, ist in einer ähnlichen Situation wie ein Romanautor, der seine Charaktere, das Umfeld, die Hintergrundgeschichte möglichst unaufdringlich einführen muss, damit seine Leser wissen, worum es geht. Da ist es ganz entscheidend, die verschiedenen Informationen so zu verknüpfen, dass sie in natürlicher Weise aufeinander folgen, ohne, dass sich Leser oder Leserin von Details erschlagen oder in eine langweilige Schulstunde versetzt fühlen. Um den Schwierigkeitsgrad noch einmal zu erhöhen: Einige Leser haben das nötige Vorwissen bereits, und auch die sollen sich bei der Rekapitulation nicht langweilen.

Gleich mit allen Details und Qualifikationen ins Haus zu fallen ist dagegen sicher kein guter Erzählstil. Soweit, so gut, soviel Übereinstimmung.

Präzision oder…?

Aber es gibt bei all der Vereinfachung eben auch Fallstricke, und den wichtigsten davon übergeht DeWitt in seiner Präsentation soweit ich sehen kann komplett. Er präsentiert als Beispiel die einfache Zusammenfassung der Geschichte, die er erzählt hat: “Diese Viren beginnen, weitere Kopien von sich selbst zu machen, indem sie ihre DNA in Bakterien einschleusen.”

Es gebe aber genügend Menschen in der Wissensvermittlung (genauer in “science education”), so führt er weiter aus, die ihm das nicht durchgehen lassen würden. Zum Beispiel würden sie darauf bestehen, DNA durch “Nukleinsäuren” zu ersetzen, da ja einige Viren gar keine DNA hätten.

Sehen wir mal davon ab, dass das abschreckend komplizierte Textbuch-Textbeispiel zum gleichen Sachverhalt, das DeWitt dann präsentiert aus meiner Sicht übertrieben ist und verschiedene Arten der Verkomplizierung unzulässig vermischt – komplizierte Satzkonstruktionen oder indirekte Rede haben ja nun direkt nichts mit präziser Sprache zu tun. Aber gerade das Beispiel DNA, das er wählt, hat eine weitere wichtige Eigenschaft, die DeWitt schlicht ignoriert.

Anschlussfähigkeit

Eine der wenigen Dinge, die z.B. ich über Viren weiß, ist, dass eine Reihe davon eben keine DNA haben, sondern RNA. Sind das dann automatisch keine Bakteriophagen? Oder hatte ich das mit der RNA ganz falsch in Erinnerung? Solche Denkprozesse gehen bei mir los, wenn an der Stelle nur und kommentarlos von DNA die Rede ist. Und solche Reaktionen sind ein Risiko, wenn man bei der Vereinfachung nicht vorsichtig ist: Man läuft Gefahr, diejenigen zu verwirren, die schon etwas Vorwissen haben, dessen sie sich aber nicht so ganz sicher sind.

Das RNA-DNA-Beispiel mag da noch vergleichsweise harmlos sein. Ich erinnere aus meiner Jugendzeit, an mehr als einer Stelle bei der Lektüre von populärwissenschaftlichen Büchern zu physikalischen Themen erst länger gerätselt zu haben, weil sich eine bestimmte Aussage nicht so richtig in das, was ich schon wusste einfügen wollte – und mich danach geärgert zu haben, weil da offenbar nur der betreffende Autor etwas geschludert hatte. Das sollte man nicht vergessen: Unter den Zuhörern und Lesern sind im allgemeinen nicht nur solche, die zum ersten Mal hören, was da erzählt wird, sondern auch einige, die genau das machen, was man als Wissenschaftskommunikator ja eigentlich ermutigen sollte: die versuchen, all das über Wissenschaft gehörte einzuordnen und logisch miteinander zu verknüpfen.

Und damit ist es dann nämlich auf einmal nicht mehr genug, wenn die coole Analogie, die man sich zurechtgelegt hat, bei genau den Eigenschaften, die man erklären will, funktioniert, darüber hinaus aber versagt. Denn wenn man die Grenzen der Analogie nicht zumindest erwähnt, schickt man Zuhörer, die selbständig versuchen, weiterzudenken, im ungünstigsten Falle auf eine sehr frustrierende Reise. Weil Wissenschaft eben gerade nicht nur eine Geschichte ist, und ebenso wenig nur eine lockere Sammlung verschiedener Geschichten, sondern ein Netz von Aussagen, zwischen denen jede Querverbindung stimmen muss – ansonsten wäre etwas grundlegend falsch.

Das ist aus meiner Sicht mit die schwierigste Balance in der Wissenschaftsvermittlung: Die Sachverhalte zum einen möglichst einfach darzustellen, aber eben doch so, dass sie einen Anschluss ermöglichen.

Der erste Teil steht bei DeWitt ganz im Vordergrund. Aber coole Stories zu erfinden ist eben nur die eine Seite der Medaille. An DeWitts Vortrag zeigt leider nichts, dass er sich der anderen Seite überhaupt bewusst wäre.

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

16 Kommentare

  1. genau

    “Und damit ist es dann nämlich auf einmal nicht mehr genug, wenn die coole Analogie, die man sich zurechtgelegt hat, bei genau den Eigenschaften, die man erklären will, funktioniert, darüber hinaus aber versagt.”
    Meine Meinung: aus WortGlauberei machen unvorwissende Leser/innen dann missionarische WortKlauberei :-), die unweigerlich in die Endlosschleife führt, weil “meine Meinung”, hat er ja so “bestätigt”.

  2. Karlsruher Physikkurs

    In dem Zusammenhang würde mich natürlich die Meinung des Autors zur aktuellen Diskussion über den Karlsruher Physikkurs interessieren. Da scheint es ja um das selbe Problem zu gehen

  3. Es ist glaube ich schon viel gewonnen, wenn man einfach dazu sagt, wenn man eine Näherung verwendet, die nicht exakt ist (macht man ja in der Wissenschaft auch so; da muss man auch immer dazu sagen, unter welchen Bedingungen die Näherung funktioniert und wann nicht). Wenn ich z.B. etwas mit dem Bohrschen Atommodell erklären, sag ich auch immer dazu, dass das eigentlich schon längst überholt ist – es aber trotzdem für das konkrete Problem ein gutes Beispiel ist, um sich irgendetwas vorzustellen.

  4. @Herr Senf

    Selbst Wortklauberei in einem populärwissenschaftlichen Text ist aber eigentlich ein gutes Zeichen. Für sich genommen ist es ja ein Zeichen dafür, dass sich der- oder diejenige wirklich ernsthaft mit dem Text auseinandersetzt. Allerdings kommt dabei, wenn man die Analogien zu ernst nimmt, ab einem gewissen Punkt tatsächlich frustrierender Murks heraus. Das ist dann ein Zeichen dafür, dass der- oder diejenige anfangen sollte, sich jenseits der Populärwissenschaft mal richtig mit dem Thema zu beschäftigen.

  5. @tk

    Ich weiss noch nicht genug zum Karlsruher Physikkurs, um mich dazu direkt zu Wort zu melden (würde mich aber nicht wundern, wenn ich dazu auch mal einen Blogbeitrag schreibe); was die DPG-Kollegen geschrieben haben, kann ich aber durchaus nachvollziehen. Und insbesondere die Anschlussfähigkeit scheint mir ein ernstes Problem zu sein – ich nehme an, das haben Sie in Ihrem Kommentar auch gemeint.

  6. @Florian

    Volle Zustimmung – das ist ein wichtiger erster Schritt. Und ich glaube, es wird oft unterschätzt wie wichtig. Du hast in deinem Blogbeitrag das “falsch” bei der falschen newtonschen Theorie in Anführungsstriche gesetzt – das Wissen darum, was daran falsch ist und was nicht, und allgemein um physikalische Modelle und ihre Geltungsbereiche, ist soweit ich sehen kann viel zu wenig verbreitet. Dass es unter solchen Umständen zu Problemen im Umgang mit Vereinfachungs-Modellen kommt, ist kein Zufall…

  7. Schichten

    Hi,

    ist es nicht so, dass komplexe Sachverhalte immer in Schichten darstellbar sind oder vorliegen oder vorzuliegen scheinen und dass sich der Erläuternde immer eine Schicht aussucht, diese auch nur zu Verweiszwecken verlässt und ansonsten nicht um Präzision untere Schichten meinend bemüht ist?

    MFG
    Dr. W

  8. @Dr. Webbaer

    Ja und nein, meine ich. Richtig ist sicher, dass man der Zielgruppe entsprechend ein gewisses Erklärniveau wählt und damit bestimmte Details in ganz natürlicher Weise unter den Tisch fallen lässt. Das halte ich auch für recht unproblematisch.

    Aber die Vereinfachung, die DeWitt hier anmahnt, geht noch weiter. Selbst unter den vielen Details, die auf dem Erklärniveau zugänglich sind, muss man noch eine Auswahl treffen. Nicht, weil sie nicht zum Niveau passen, sondern um die Geschichte, die man erzählt, nicht zu überfrachten.

  9. @Markus

    Es war jetzt nicht ein ‘Erklärniveau’ gemeint, sondern die Schicht in der die Erläuterung stattfindet.

    Es scheint dem Schreiber dieser Zeilen möglich auch im Bereich der Physiklehre derart einzugrenzen.
    Es darf eigentlich keine ‘Tyrannei der Präzision’ geben, weil der wie oben beschriebene Erläuternde ja nicht unpräzise wird, sondern “nach unten hin” auslassend.

    Aber vielleicht stimmt das ja auch nicht die Physiklehre betreffend, no prob.
    Was es aber sicher gibt, ist das “Hineingrätschen” anderer, die Betrachtungen bestimmter Schichten als ungünstig betrachten, keineswegs nur aus Missgunst, sondern weil sie die Wahl der Schichten nicht mittragen.

    MFG + weiterhin viel Erfolg!
    Dr. W

  10. @Dr. Webbaer

    Wenn es nicht um Erklärniveaus ging, ist mir nicht klar, was mit Schicht gemeint war.

    Nach Erklärniveaus kann ich mir in der Tat eine Schichtung vorstellen – ganz unten das, was man mit einfachen Worten sagen kann, darüber Prosa inklusive Fachbegriffe, darüber zumindest in der Physik einfache Formeln und dann zunehmend detailliertere und Vorwissen voraussetzende Erklärniveaus.

    Was meinen Sie stattdessen mit Schichten?

  11. Schichten

    Hi,

    im Bereich des Software-Engineerings sehr üblich, vgl. -> http://de.wikipedia.org/wiki/Layer , dieses “Denken in Schichten”. Sehr bekannt bspw. das OSI(ISO)-Modell.

    Auch sehr hilfreich bei der Analyse und Modellierung gesellschaftlich-politischer Sachverhalte und das Kaufmännische, Geschäftsmodelle und so, betreffend.

    Der Schreiber dieser Zeilen ging bisher davon aus, dass es auch in der Physiklehre oder Biologie üblich ist Sachverhalte bzw. Theoretisierungen sozusagen in Schichten zu legen.

    MFG
    Dr. W

  12. Tyrannei der Ausweichler

    Markus Pössel schrieb (02. März 2013, 23:15):
    > Die Sachverhalte zum einen möglichst einfach darzustellen, aber eben doch so, dass sie einen Anschluss ermöglichen.

    Eine recht gelungene Formulierung, sofern sich dabei versteht, dass zum “Anschließen” mindestens zwei “Enden” gehören.

    Markus Pössel schrieb (03.03.2013, 11:25):
    > […] das Wissen […] allgemein um physikalische Modelle und ihre Geltungsbereiche, ist soweit ich sehen kann viel zu wenig verbreitet.

    Stimmt; aber das beschäftigt sich eben nur die eine Seite der Medaille. Ob denn das Wissen um die andere schon verbreitet(er) ist?; insbesondere, welche nachvollziehbaren Begriffe zur Verfügung stünden, um “Geltungsbereiche” zu definieren …

  13. Geschichten sind genau das Problem

    Eine Geschichte ist halt eine Geschichte. Der Wirklichkeit eine narrative Struktur zu verpassen, bedeutet immer eine Verzerrung, das scheint vielen Autoren nicht hinreichend klar zu sein. Zumal sich ja immer mehr Geschichten gar nicht mehr auf die Wirklichkeit beziehen, sondern der Einfachheit halber auf Geschichten, die andere Leute vorher über das Thema erzählt haben.

    Außerdem ist es schlicht ne Einstellungsfrage. Wissenschaft ist kein Ponyhof, daran wird auch die beste Geschichte nichts ändern. Es gibt kein erzählerisches Zaubermittel, mit dem man Erkenntnis ohne jede geistige Anstrengung in Gehirne schütten kann.

  14. TED-Talk erwähnt RNA, Karsruhe problem.

    Im TED-Talk wird meiner Ansicht nach nicht etwas grundlegend falsches vermittelt. De Wytt erwähnt sogar kurz, dass er die RNA-Viren nicht erwähnt, was ihm sicher viel Kritik einbringen werde.

    Ganz anders sieht es aber beim Karlsruher Physikkurs aus – mindestens wenn man den Darstellungen des DPG glaubt: Dort werden Konzepte wie der Impulsstrom oder magnetische Ladungen eingeführt, deren Zusammenhang mit den etablierten Begriffen schwierig herzustellen ist oder die gar zu Fehlschlüssen führen.
    Der Kommentator Bjoern schreibt auf scienceblogs treffend:
    ” Die definieren da eigene Begriffe, die sonst nirgends vorkommen (womit den Schülern das Verständnis nicht nur der Uni, sondern auch anderer Bücher erschwert wird); und sie verwenden Analogien, die anschaulich sein sollen, aber in Wirklichkeit etwas anschauliches nur abstrakter machen usw. usf.”

    Fazit: Man muss in der Didaktik klar zwischen Auslassungen/Vereinfachungen unterscheiden und der Sicht, dem Zugang zu einem Thema.
    Auslassungen und Vereinfachungen scheinen mir “verkraftbar” und es kann sogar sinnvoll sein, bewusst kein Abstraktum zu wählen, dass alle denkbaren Fälle umfasst.
    Problematisch sind aber ganz andere, nicht etablierte und nicht tragfähige Zugänge. Vor allem dann, wenn sie zu falschen Schlüssen führen können.

  15. Evolutionäre Erkenntnistheorie

    Das Grundproblem scheint mir zu sein, dass alle (empirischen) Wissenschaften zunehmend in Bereiche vorstoßen, die sich mit unseren evolvierten Intuitionen kaum mehr erfassen lassen. Spezialisten lernen dann mühsam, hinter diese Intuitionen zu steigen – womit sich aber auch ein Graben nicht nur zu Nichtwissenschaftlern, sondern auch zu Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen ergibt. Da sind Versuche in Brückenbau m.E. aller Ehren wert!

    “Geschichten erzählen” kann aber m.E. nur da helfen, wo eben deutlich gemacht wird, dass es sich um eine narrative Vereinfachung für einen bestimmten Zweck handelt. Gerade als Religionswissenschaftler sehe ich schon das Problem, dass aus wissenschaftlich unscharfen Erzählungen schnell (und von den Betroffenen meist unbemerkt) pseudo-wissenschaftliche Mythen werden können, die dann nicht mehr wissenschaftlich valide sind, sondern ganz andere Funktionen (z.B. Sinn- und Gemeinschaftsstiftung) erfüllen. Abschreckende Beispiele sind der Sozialdarwinismus, Versuche, Unsterblichkeit via Physik zu “beweisen” oder umgekehrt “soziale Physik” zu betreiben und ähnliches.

    Gerade “weil” uns Narrative sehr ansprechen, sollten auch die Untiefen ihrer “Verwendung” bewusst sein. Dann, und erst dann, kann man sie pädagogisch einsetzen, ohne “Kollateralschäden” zu fabrizieren.

  16. Unpräzise nicht das gleiche wie falsch

    Wenn ihnen jemand sagt es sei seiner Hand nach 100 m zum Bahnhof und dabei sind es nur 50 m so ist das nicht gleich einzustufen, wie wenn ihnen jemand sagt, es sei 50 m zum Bahnhof und er zeigt in die falsche Richtung. Zwar ist der numerische Fehler in beiden Fällen der Gleiche (50 m daneben), doch der Richtungsfehler ist als viel schwerwiegender einzustufen als der Distanzfehler.

    Die Qualität solcher Falschangaben (wie in diesem Beispiel) kann man nur einstufen, wenn man weiss wie Menschen denken. Auch in der Didaktik sind Ungenauigkeiten und Fehler umso schwerwiegender je mehr sie in die gedankliche, konzeptionelle Irre führen. Allen denkenden Menschen sind gewisse Denkmechanismen gemeinsam, wie sie mit Ungenauigkeiten und wie sie mit Spezialisierung gegenüber Generalisierung umgehen. Verallgemeinerung/Generalisierung ist ein alltäglicher Vorgang, der unser Denken durchdringt. Wer etwas über die Geschichte des Dollars hört wird von allein auch an die Geschichte des Euros oder Yens denken. Wenn der Vortragende aber in die Geschichte des Dollars auch gerade noch die Geschichte des Euros und Yens einfliessen lässt besteht die Gefahr der Überforderung des Zuhörers. Zuviele Details oder eine zu starke primäre Verallgemeinerung lähmen zudem das eigene Denken, erhält der Zuhörer doch den Eindruck, das ganze sei von den Wissenden schon so genau durchdacht, dass sich eigenes Denken nicht mehr lohne.

    Das oben genannte Kriterium Anschlussfähigkeit ist sehr wichtig. Als didaktisches Ziel scheint mir Entwicklungsfähigkeit aber noch wichtiger. Gedanken und Geschichten, die nicht einfach mit Fakten enden, sondern die weiterführen, die entwickelbar sind, sind viel wertvoller als präzis dargestellte dead ends. Entwicklungsfähig können auch unpräzis formulierte Konzepte sein – vorausgesetzt sie sind nicht offensichtlich falsch.

    Gefährlich sind dagegen Konzepte, die sich entwicklungsfähig geben und die zum Denken anregen, die aber zu falschen Schlüssen führen. Beim Karlsruher Physikkurs scheint mir ein solcher Fall vorzuliegen.

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