TTIP, Downloadzahlen und ein Fall für Captain Obvious

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… aber nicht einfacher
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Ich habe die Diskussion um das Freihandelsabkommen TTIP nur am Rande mitbekommen; was mich betrifft, kann ich daher nicht aus eigenem Wissen zwischen den beiden möglichen Szenarien unterscheiden – erhebliche Einschränkung unserer Freiheit zugunsten der Rechte großer Firmen einerseits oder viel Lärm um ein eigentlich harmloses oder sogar wohlstandsförderndes Abkommen.

Aber wenn ich jetzt Schlagzeilen lese wie online in der FAZ,

Kaum jemand liest die TTIP-Dokumente (16.4.2015)

oder den (offenbar direkt von der FAZ oder aus einem darauf basierenden AFP-Text übernommenen) Spiegel-Online-Beitrag

Freihandelsabkommen TTIP: Viel motzen, wenig lesen (17.4.2015)

dann kommen mir zwei Gedanken.

Erstens: Knapper und treffender als mit diesen beiden Überschriften kann man die Stilunterschiede zwischen FAZ und Spiegel (Online) vermutlich nicht charakterisieren.

Zweitens: Ich brauche ein Cape, und zwar eines mit einem großen aufgenähten “O”. Denn das, was jetzt folgt, ist für mein reguläres Ich eine eher  quälende Tätigkeit. Es ist ein Fall für Captain Obvious. (Jaja, ich weiß. Wir sind viele. Das ist doch offensichtlich, oder?)

Hallo, liebe FAZ. Ich bin’s, Captain Obvious. Schau’n wir doch mal, was ihr da so geschrieben habt.

Euer Argument bzw. das Argument der EU-Kommission:

Die EU-Kommission hat die (naja, eher wohl: einige) TTIP-Verhandlungstexte öffentlich gemacht. Und das löblicherweise nicht irgendwo im Keller hinter der Tür mit dem Schild “Vorsicht, Leopard!”, sondern im Internet. Viele Menschen können ins Internet gestellte Texte lesen.

Die TTIP-Verhandlungstexte (tatsächlich handelt es sich um eine Mischung, die von vereinfachten Zusammenfassungen bis zu sehr technischen Entwürfen reicht) sind aber im Durchschnitt zwischen dem 7. Januar und dem 8. April “gerade einmal aufgerundet 2300 Mal angeklickt” worden, also im Schnitt 25 Mal pro Tag. “Zum Vergleich:”, schreibt die FAZ in ihrer bescheidenen und hilfreichen Art, “Ein normaler Politik- oder Wirtschaftsartikel auf FAZ.NET wird am Tag zigtausend Mal angeklickt.

Was schließen wir daraus?

Wenn wir die FAZ sind: “Die Öffentlichkeit hat daran offenbar gar kein Interesse.” Das “daran” bezieht sich vom Kontext her wohl auf die ins Internet gestellten Dokumente.

Und “Die meisten Nutzer würfen offenbar nur einen kurzen Blick auf die Überblicksseite und beschäftigten sich dann nicht mehr weiter mit den Detailinformationen, heißt es aus der Kommission.”

Immerhin gibt es in dem FAZ-Text noch eine Mahnung zur Vorsicht: “Keine Aussage ist auf dieser Basis darüber möglich, wie lange sich die Nutzer auf der Internetseite mit den Verhandlungsdokumenten aufgehalten haben und wie intensiv sie sich mit den Dokumenten beschäftigt haben.”

Captain Obvious fällt dazu noch mehr ein.

Dieser spezielle Captain Obvious kennt sich zwar nicht im Wirtschaftsjournalismus aus, aber immerhin etwas bei der Vermittlung komplexer Wissenschaftsthemen.

Traurig, aber wahr: Die Originalartikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften sind zwar oft online verfügbar. Aber sie werden deutlich, aber wirklich: deutlich weniger angeklickt als ein normaler Wissenschaftsartikel auf FAZ.NET.

Captain Obvious sagt dazu: Wenn es um derart komplexe Dokumente geht, brauchen Menschen Vermittler. In der Wissenschaft sind das zum Teil die Wissenschaftler selbst, zum Teil die Wissenschaftskommunikatoren, und oft die Wissenschaftsjournalisten.

Gute Wissenschaftsjournalisten zum Beispiel nehmen sich dann den Originaltext vor, interviewen parallel dazu geeignete Experten, stellen durchaus auch kritische Fragen (ein Beispiel im Zusammenhang wäre “warum liefert die EU-Kommission eine derartig überzogene Interpretation der Downloadzahlen?”), nutzen das Hintergrundwissen, das sie haben, und heraus kommt ein Text, der die relevanten Informationen des Originalartikels verständlich präsentiert, kritische Hintergrundinformationen liefert, und dann genau deswegen von viel mehr Menschen gelesen wird als der Originalartikel.

Wenn man den betreffenden FAZ-Artikel liest, könnte man auf die Idee kommen, das laufe im Wirtschaftsjournalismus ganz anders. Aber es wäre in Bezug auf TTIP vielleicht mal eine gute Idee. Meint Captain Obvious.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

13 Kommentare

  1. Lieber Captain,

    im Falle TTIP / Freihandel waren die Wissensvermittler zwischen Realitiät und deutschem Verbraucher vor allem zwei Protagonisten: Zum einen Ilja Braun mit seinem Buch 2014: “Zweierlei Maß. Investitionsschutz ist international leicht durchsetzbar. Menschenrechte sind es nicht, Brüssel, Oktober 2014” das bei der Rosa Luxemburg Stiftung erschienen ist und in Kurzfassungen vorab in der Berliner Gazette und im Merkur erschienen war. Zum zweiten und vor allem CAMPACT, die Petitionsplattform aus dem niedersächsischen Walsrode. Diese verortet sich selbst als politisch links ein und hat sich von einer reinen Petitionsplattform zu einer aktiven Pressure-group gewandelt, die jährlich mehrere Kampagnen anschiebt. Mittels Zugriff auf mittlerweile weit über einer Million email-Adressen wird aus dem beschaulichen Städtchen zwischen Hannover und Bremen knallharte Interessenpolitik betrieben. Im Falle TTIP hat Campact ihre antiamerikanische, kapitalismus- und globalisierungskritische Sichtweise auf Freihandelsabkommen propagandistisch in Schrift und Bild aufbereitet und nach Testläufen schließlich an ihren Gesamt-Datenbestand versandt. Durch diesen großen (viralen) Hebel verbreitete sich diese alarmistische und angstgeprägte Sichtweise sehr schnell und Gewerkschaften und Kirchen blieb nicht viel übrig, als sich dran zu hängen. Es ist erschreckend, wie leicht sich Deutsche beeinflussen lassen statt selbst zu denken. Fazit: Die Kritik von FAZ und Spiegel ist berechtigt.

    • Die *konkrete* Kritik von FAZ und Spiegel mit dem direkten Schluss von Downloadzahlen auf Desinteresse, bzw. nur oberflächlichem Interesse ist ganz sicher nicht berechtigt. Die Downloadzahlen auf dem EU-Server wären ja vermutlich auch dann ziemlich niedrig, wenn TTIP-Gegner sich die Dokumente heruntergeladen und dann eine annotierte Version auf einem (besser besuchten) Server zugänglich gemacht hätten.

      Dazu, wieweit die TTIP-Kritik insgesamt berechtigt ist – die zwei Szenarien, die ich eingangs schildere – kann ich nichts sagen.

      Gibt es denn gute, verständlich aufbereitete Pro-TTIP-Quellen? Wissensvermittler der Pro-TTIP-Seite?

    • Es ist in der Tat erschreckend, wie leicht sich die Menschen beeinflussen lassen. Aber das gilt nicht nur bei TTIP, sondern auch bei fast allen anderen Dingen, mit denen man es im öffentlichen Leben zu tun bekommt. Speziell über politische Manipulation klären die Nachdenkseiten regelmässig auf.
      Und da Sie die Rosa Luxemburg Stiftung erwähnen, die haben kürzlich eine Publikation über den Widerstand gegen TTIP und Konsorten aus den USA präsentiert: Der Widerstand gegen die Freihandelsabkommen in den USA. Von Mike Dolan. Darin klärt er umfassend über den Wiederstand gegen TTIP und das transpazifische Gegenstück TPP auf. Ich bin mir jetzt gerad nicht sicher, aber ich meine, ich hab darin auch mal die Aussage gelesen, das viele US-Politiker so mancher Bestimmung aus TTIP & TPP nicht zustimmen würden, wenn sie als Einzelgesetz im Kongress/Senat behandelt würden. Nur finde ich die Stelle jetzt gerade nicht wieder. – Es könnte also auch eine andere Quelle sein, wo ich das her habe.

  2. Zustimmung. Das Offensichtliche nehmen gerade auch Journalisten nicht gern zur Kenntnis, weil sie dann einen Artikel weniger zu schreiben hätten.
    Damit kommen wir aber bereits zur Frage, die sich nun aufdrängt: Warum ist TTIP kaum ein Thema für die Journalisten, die Fachjournalisten wenigstens. Dazu zwei Vermutungen:
    1) Journalisten sehen selbst kein Leserinteresse am Thema und wollen deshalb weder Zeit ( die Zeit zum Recherchieren und Schreiben eben) noch Geld verschwenden
    2) TTIP wird von den Jornalisten als Sellvertreterthema gesehen und es lohnt sich für die Journis mehr über die Scharmüzel im Zusammenhang mit TTIP zu schreiben als über TTIP selbst

    Ich vermute, dass beides teilweise zutrifft und in der Berichterstattung über die Auseindersetzungen, Demos und Slogans, die im Zusammenhang mit TTIP passieren zeigt sich gerade, dass Medien oft Erregungszustände vermitteln wollen und nicht Information, ja dass sie oft Erregung auslösen, herauskitzeln und am Köcheln halten wollen und es gar nicht zentral um die vorgegebeneSache geht.
    Die Demonstranten, Politiker, Demagogen und Bedenkenträger, die dann zu Wort kommen sid dann das Personal,die Akteure des Stücks, das da aufgeführt wird. Von echtem Theaterpersonal unterscheidet sie nur, dass sie nicht bezahlt werden. Das ist auch nicht nötig, weil beide Seiten profitieren.

  3. Zum Thema TTIP hab ich kürzlich schon einen Link bei Thomas Grüter geschickt, den ich hier gerne noch mal wiederhole (diesmal mit der eigenen Überschrift):
    TTIP: Weiter Geheimniskrämerei statt Transparenz
    In dem Artikel geht es darum, das EU-Parlamentariern eine vollständige Einsicht verwehrt wird, bzw. das sie mit den gewonnenen Erkenntnissen nichts anfangen dürfen. Weitere Informationen bietet das unter dem Artikel verlinkte Dossier zu einer weiteren Sammlung von Artikeln, die inzwischen bei Telepolis dazu publiziert wurden.

    Und dann wäre da noch das Buch von Thilo Bode: “Die Freihandelslüge: Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet”. Gemäss einem Artikel bei den Nachdenkseiten haben einige Lobbyverbände, die für dieses Abkommen trommeln, wegen diesem Buch ein paar falsche Prognosen von ihren Webseiten genommen, bzw. korrigiert.

    • Einmal von der Intransparenz oder der Schleifung von lokalem Recht abgesehen: Wenn ein europäisches Land von TTIP als Freihandelsabkommen proftieren kann, dann ist es Deutschland, denn Deutschland ist stark exportorientert und hat ein starkes Unternehmertum, das seine Dienste auch gern in den USA anbieten würde – etwas was sie bei öffentlichen Aufträgen bis jetzt nicht kann.
      Ein Freihandelsabkommen verstärkt aber auch die Konkurrenz. Das dürfte Deutschland am wenigsten schaden, weil die deutschen Unternehmen bereits sehr kompetitiv sind. Doch in andern europäischen Ländern sieht es anders aus. Jedenfalls kann man sagen: Falls Deutschland Gründe findet, das Abkommen abzulehnen, dann gibt es noch weit mehr Gründe für die meisten anderen europäischen Länder das Abkommen abzulehnen.

      • In das Freihandelsabkommen NAFTA, das zwischen den USA, Kanada und Mexiko abgeschlossen wurde, setzte man ähnliche Hoffnungen. Statt des versprochenen Wachstums verloren Millionen Menschen ihren Job oder mussten Lohnsenkungen hinnehmen. Profitiert haben lediglich die großen Konzerne. Vielleicht sollte man sich auch mal die Argumente der Gegenseite durchlesen. Im Gegensatz zu der FAZ oder Spiegel-Online hat man sich dort nämlich deutlich mehr Mühe gegeben die Leserschaft zu erreichen:
        http://netzfrauen.org/2015/04/18/freihandelsabkommen-ceta-ttip-tisa-was-sie-wissen-sollten/#_Toc416360022

        • Ach so’n Mist! der Kommentar vom 21. April 2015 2:10; Permanlink: https://scilogs.spektrum.de/relativ-einfach/ttip-downloadzahlen-fall-captain-obvious/#comment-20785 sollte eigentlich hier hin.

          Nur war da angeblich das Captcha falsch, und ein neuladen der Seite bewirkt ja leider, dass neben der aktualisierung des Captchas auch die Eingabefelder gelöscht werden und die Kommentarfunktion insgesamt ans Ende rutscht…
          OT: Bei soviel JavaScript, wie heutzutage in Webseiten verwendet wird, frage ich mich, warum das noch so sein muss, also dass die Inhalte der Eingabefelder bei einem reload nicht erhalten bleiben. – Oder ist das Browserabhängig?

  4. Das TTIP-Abkommen unterliegt,ebenso wie die Verhandlungsprotokolle, einer Geheimhaltungspflicht.
    Die wirksamste Form de Geheimhaltung ist die Fehlinformation. Vor diesem Hintergrund macht es wenig Sinn, “offizielle” Verlautbarungen herunter zu laden

  5. “Weiter Geheimniskrämerei statt Transparenz”

    So ist es , was hier geschieht , ist völlig offensichtlich , das läuft nach dem Prinzip des Kleingedruckten , man wirft ein paar unverständliche Brocken hin und unterstellt dem Bürger dann Desinteresse.
    Anmaßend und billiig gleichermaßen , wie im Kindergarten , ” ätsch , erwischt , du bist schuld”

    Seriöse Politik würde längst die Details aufklären und vieles vielleicht auch ablehnen , gekaufte Politik hingegen betreibt Geheimniskrämerei.