Theorien, Modelle, Experimente 1/3: Vom Phänomen zum Modell

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… aber nicht einfacher
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Bei meiner Beschreibung der klassischen Mechanik, aber auch bereits der Grundlagen der Bestimmung von Orten im Raum im Rahmen meiner Artikelserie “Einstein verstehen” (klassische Mechanik in Teil IV und Teil V, Raum in Teil I) hatte ich mich mit Ebenen beschäftigen müssen, die in der Physik meist stillschweigend im Hintergrund mitlaufen: mit der Unterscheidung von Theorie, Modellen und Experimenten. Diese Unterscheidung wird oft nicht explizit getroffen – und beim Versuch des systematischen Verständnisses z.B. der Speziellen Relativitätstheorie kann sich dieser Umstand rächen. Ergänzend zu den Ausführungen bei “Einstein verstehen” möchte ich die Zusammenhänge zwischen den drei Begriffen in dieser kurzen Serie von Beiträgen noch einmal herausarbeiten. Mir geht es dabei vor allem um die Physik, aber vieles von dem, was ich hier beschreibe, gilt für die Wissenschaft ganz allgemein. Hier im ersten Teil geht es vor allem um Modelle.

Ich habe mein Wissen über Modelle dabei beim Schreiben dieses Blogbeitrags mithilfe des Eintrags Models in Science (Roman Frigg und Stephan Hartmann, Version vom Herbst 2012) in der (meiner Meinung nach exzellenten) Stanford Encyclopedia of Philosophy (Principal Editor: Edward N. Zalta) aufgefrischt und erweitert.

Am Anfang der Physik stehen, wie in anderen Wissenschaften auch, die Einzelbeobachtungen. Die entsprechen Aussagen über die Phänomene, also all dem an (wissenschaftlich) interessanten Eigenschaften der Welt, das hinreichend wenig flüchtig ist, dass wir es wahrnehmen und beschreiben können.

Vom Phänomen zum Modell

Ein Modell ist eine Darstellung oder Abbildung von Phänomenen – also etwas, das (bei guten Modellen: wichtige) Eigenschaften mit den Phänomenen teilt. Um ein Modell zu definieren, muss man zum einen die Struktur und/oder Eigenschaft des Modells selbst festlegen, zum anderen Korrespondenzregeln nennen, die angeben, in welcher Weise sich Phänomen und Modell entsprechen sollen.

Konkrete Beispiele hatten wir in “Einstein verstehen” kennengelernt. In Teil I hatten wir den Euklidischen Raum als Modell dafür eingeführt, welche Abstände voneinander und Orientierungen relativ zueinander physikalische Objekte haben können. Dazu hatten wir zum einen die auf einem Axiomensystem basierende mathematische Struktur “euklidischer Raum” hergenommen und zum anderen benannt, wie deren Elemente (Geraden, Punkte mit bestimmtem Abstand voneinander) durch Messvorschriften mit Messungen in der Wirklichkeit verknüpft sind.

Im Schulunterricht und in Vorlesungen, werden die Messvorschriften oft gar nicht direkt als solche benannt. Der Raum, der uns umgibt, ist der Euklidische Raum, die Ecke eines Lineals ist ein Geradenabschnitt, und so weiter; wie man Messungen vornimmt, wird auf die handwerklichen Aspekte reduziert. Solch eine vereinfachte Haltung – und solch ein vereinfachter Sprachgebrauch – sind in der Regel völlig unproblematisch, wie es ja überhaupt für viele Dinge unproblematisch ist, wenn man nicht tiefer darüber nachdenkt (und für eine ganze Reihe weil man nicht tiefer darüber nachdenkt).

Aber manchmal rächt sich der saloppe Umgang mit den Meta-Grundbegriffen der Wissenschaft. Im Falle der Gleichzeitigkeit etwa: Da stand die Erkenntnis, dass Gleichzeitigkeit etwas ist, von dem man definieren muss, wie es überhaupt bestimmt wird (siehe Einstein verstehen Teil III) am Anfang einer Entwicklung zu ganz neuen Ideen von Raum und Zeit, nämlich der Speziellen Relativitätstheorie (zu der sich Einstein verstehen gerade vorarbeitet).

Dass es so etwas wie mathematische Modelle gibt, erweist sich als überaus nützlich. Innerhalb der mathematischen Strukturen, die wir da als Modelle von Teilaspekten der Wirklichkeit betrachten, können wir nämlich Rechnungen ausführen, und diese Möglichkeit ist die Grundlage jeglicher quantitativer Wissenschaft.

Nichtmathematische Modelle

Mathematische Modelle spielen eine zentrale Rolle in der Physik, aber unsere Definition umfasst auch Modelle, die dem Alltagssinn des Wortes näher kommen. Berühmt ist das Modell von Watson und Crick zur räumlichen Struktur der menschlichen Erbsubstanz, der DNS.

HMS_Sussex_model_port_broadside_hr Modelle ganz konkret: SchiffsmodellAnschauliche Beispiele für Modelle gibt es auch (bzw. gerade?) außerhalb der Wissenschaft. Einige historische Schiffsmodelle dienten unter anderem als Vorlage bei der Konstruktion der eigentlichen Schiffe (siehe das Beispiel rechts; Bild: Benutzer DvG auf Wikimedia Commons unter CC-BY-SA 2.5). Die Zuordnungsvorschrift besagt dabei, dass die relativen Maße und relative Lage der Teile des Modells denen des Originals entsprechen sollen, wobei Maße mit einem gemeinsamen Maßstabsfaktor umgerechnet werden.

Bilder und Gemälde selbst sind ein weiteres Beispiel für Modelle. Die Zuordnungsvorschrift machen wir uns bei realistischen Abbildungen meistens nicht extra bewusst; sie lautet in etwa “Das, was deine Augen sehen, wenn du vor dem Bild stehst und das Bild betrachtest, würden deine Augen (im wesentlichen) auch sehen, wenn du vor der Vorbild-Szene gestanden hättest”.

Lepsi_amenhotep_I Abstraktere Modelle: Ägyptische KunstManchmal ist die Zuordnungsvorschrift weniger direkt. In der altägyptischen Kunst beispielsweise erscheinen uns Darstellungen von menschlichen Figuren unseren Sehgewohnheiten nach oft seltsam verdreht, etwa die Darstellung des Pharaos Amenhotep I. links (aus den Denkmaelern von Lepsius; Datei von Wikimedia Commons). Dabei hat die Zuordnungsvorschrift durchaus einige Vorteile: Jede Körperpartie ist dabei in derjenigen Perspektive wiedergegeben, in der eine zweidimensionale Darstellung ihre Eigenschaften am besten wiedergibt: Das Gesicht im Profil, der Oberkörper mit den Armen von vorne, Beine und Füße von der Seite, Szepter und Krone jeweils so, dass ihr Aussehen am besten erkennbar wird.

Modelle gibt es nicht ohne Vereinfachungen. Der “Models in Science”-Artikel differenziert dabei zwischen Aristotelianischen Idealisierungen (bestimmte Eigenschaften des Phänomens werden weggelassen) und Galileischen Idealisierungen (vgl. McMullin 1985; bewusste Verzerrungen, wie sie für viele mathematische Modelle nötig sind – etwa die Ersetzung eines Planeten mit all seinen Unregelmäßigkeiten durch eine homogene perfekte Kugel) – wobei sich die beiden Begriffe nicht gegenseitig ausschließen.

Ein wichtiger Aspekt der Physik ist, dass man über die Güte physikalischer Idealisierungen quantitativ reden kann. Inwieweit beispielsweise die Form und die Massenverteilung eines Planeten von einer homogenen Kugel abweicht, lässt sich angeben – und man kann im Rahmen der Newton’schen Mechanik z.B. abschätzen, mit welchen Abweichungen man rechnen muss, wenn man versucht, das Verhalten eines solchen Planeten anhand des Kugelmodells über einen gegebenen Zeitraum vorherzusagen. So bleiben die Idealisierungen nicht irgendwo im vage-unklaren, sondern man kann direkt überprüfen, welche Einschränkungen man durch eine bestimmte Idealisierung inkauf nimmt.

Im nächsten Teil dieser kurzen Blogserie wende ich mich den Naturgesetzen zu – also den zentralen Bausteinen der Wissenschaft, mit Anspruch auf deutlich allgemeinere Gültigkeit als ein einfaches Modell.

Weiter mit Teil 2

 

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

1 Kommentar

  1. Schöner Beitrag — ich bin noch nicht durch Teil 2-3 durch, doch hier schon mal ein Kommentar.

    In der Hirnforschung und Medizin allgemein sind mir vier Modelle untergekommen: das nichtmathematische Tiermodell ist dort sicher das bekannteste. Aber es gibt auch mathematische Modelle. An beide denkt man wahrscheinlich recht schnell. Weniger bekannt sind Menschmodelle (human model) und Modelle aus der unbelebten Natur.

    Ein Mensch”modell” ergibt nur einen Sinn, wenn man in einer künstlichen Situation einen z.B. physiologischen bzw. pathologischen Prozess beobachtet. So wird eine Migräneattacke z.B. mit Nitroglycerin (sic) ausgelöst, die in ihren Verlauf eine natürliche (spontan) entstandenen Attacke abbilden soll. Attacken die mit Nitroglycerin ausgelöst sind, kann man aber leichter unter Laborbedingungen studieren, z.B. Daten erfassen mit Bildgebung.

    Karl Friedrich Bonhöfer hat 1953 unbelebte Modelle als „Modelle der Nervenerregung“ — so der Titel seiner Veröffentlichung — beschrieben. Dies ist ein treffendes Beispiel dafür, das zum einen die Struktur und Eigenschaft des Modells selbst festlegen muss, zum anderen die Korrespondenzregeln nennen muss. Als Modell galt ihm u.a. das Abbrennen einer Lunte. Ohne klare Korrespondenzregeln kommt einem das eher als nette aber nutzlose Analogie vor.

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