Simon Newcomb: Fliegerei, Vorhersagen und Science Fiction anno 1900

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Der kanadisch-amerikanische Astronom Simon Newcomb ist heute außerhalb der Astronomie weitgehend unbekannt. Wo er doch einmal erwähnt wird, da in recht unvorteilhaftem Zusammenhang: Auf Seiten mit Titeln wie “Blamable Thesen und ausgesprochene Dummheiten”, “Über Ignoranten und Fälscher mit Doktorhüten”, “Historische Fehleinschätzungen” als Beispiel dafür, wie fantasielose “Experten” mit ihren Vorhersagen zu zukünftigen Technologien völlig daneben liegen können.

Was war passiert? Wenn man jenen Seiten glaubt, hatte Newcomb bewiesen, dass man mit Maschinen nicht fliegen kann – (“Mit Maschinen durch die Luft fliegen ist absolut unmöglich”) – nur einige Monate, bevor die Brüder Wright den ersten solchen Flug vorführten. Damit ist er natürlich zu einem Liebling all jener geworden, die sich an wissenschaftlichen Aussagen stört, X oder Y sei unmöglich.

In Wirklichkeit ist die Situation auf interessante Weise anders. Zunächst einmal sind Newcombs entsprechende Artikel gar nicht so möchtegern-apodiktisch, und schon gar nicht so unvernünftig, wie es sich in der verkürzten Version anhört. In Is the Airship coming? (McClure’s Magazine, September 1901) schreibt Newcomb auf die Frage, ob es Luftschiffe ohne revolutionäre neue Technik (dazu mehr weiter unten) überhaupt geben kann, als Einstieg ausdrücklich

If I should answer no, I should be at once charged with setting limits to the powers of invention, and have held before my eyes, as a warning example, the names of more than one philosopher who has declared things impossible which were afterward brought to pass. Instead of answering yes or no, I shall ask the reader to bear with me while I point out some general features of the progress of science and invention.

Anschließend kommt er eben nicht zu dem übereilten Schluss vieler, die ihn heute als Negativbeispiel hochhalten, nämlich dass aufgrund jener damaligen Irrtümer der nächste Warner, der etwas für unmöglich erklärt, garantiert daneben liegt. Sondern er versucht, sich dem Problem durch vernünftige Abschätzungen zu nähern.

Die sind dann ihrerseits eine interessante Mischung aus richtigen und aus heutiger Sicht falschen Annahmen.

Newcombs Argument, dass Flugmaschinen, die wie Zeppeline durch ihren eigenen Auftrieb fliegen, eine gewisse Minimalgröße aufweisen müssen, ist durchaus korrekt – und mit der Größe wächst in der Tat auch ihr Luftwiderstand. Dass solche Luftschiffe schnelle Eisenbahnen daher im Alltagsbetrieb nicht ersetzt haben, hat Newcomb durchaus korrekt vorhergesagt.

Seine weiteren Argumente – das wird in dem Artikel “The Outlook for the Flying Machine” (PDF eines Nachdrucks; The Independent, 22. Oktober 1903) auch noch deutlicher – beziehen sich auf die damals zur Verfügung stehende Form von Elektrizität sowie auf Dampf als Antriebskraft für eine Flugmaschine. Als einfaches Modell nimmt er eine schräg gestellte Ebene (also im Wortsinne eine “aero-plane”)

Bei einigen seiner Gegenargumente – klar, nachher ist man immer schlauer – hätte er auch mit damaligem Wissen auf bessere Antworten kommen können. Wahrscheinlich hätten bereits genauere Beobachtungen des Gleitflugs der Vögel ihn zu anderen Antworten auf die Frage, wie denn solch ein Flugzeug jemals werde landen können, geführt. Newcomb dagegen sieht nicht, wie man mit angestellten Flügeln jemals kontrolliert zum Erdboden gelangen könnte – und schlägt als komplizierte Lösung so etwas wie eine “horizontale Windmühle” vor, also aus heutiger Sicht Hubschrauberflügel.

Ein sehr allgemeines Argument Newcombs betrifft die Skalierung von Größen. Wenn man die Größe einer Flugmaschine vorgegebenen Designs verdopple, und zwar in allen Details, dann würde nun einmal das Gewicht der Maschine acht Mal so groß wie vorher, aber die tragende Fläche nur vier Mal so groß. Dieses Problem, meint Newcombe, könnte sich als unüberwindbar herausstellen (“a more fundamental [difficulty] which the writer feels may prove insurmountable”), denn es zeige nun einmal, wie schwer es sein würde, von der Größe selbst großer Vögel zu den deutlich größeren Ausmaßen zu gelangen, die nötig seien, wolle man einen Menschen an Bord der Flugmaschine mitnehmen.

In beiden Artikeln sind die Formulierungen der Unmöglichkeit durchaus gedämpft – das klare Nein wird, siehe obiges Blockzitat, vermieden; “könnte sich als unüberwindbar herausstellen” ist auch keine unumstößliche Aussage. Nur bei der von ihm angenommenen Möglichkeit der Skalierung nach oben scheint Newcombe allzu sehr von seinen Argumenten überzeugt zu sein. Und den Verbrennungsmotor als Alternative zu Dampf und Elektrizität hatte er offenbar auch nicht auf der Rechnung – ein guter Teil seiner Gegenargumente krankt genau daran.

Paradoxerweise scheint zumindest ein Teil von Newcombs Skepsis daher zu rühren, dass er selbst eine weitaus radikalere Lösung des Problems für möglich hielt. Zu jener Zeit beschäftigte die Frage des Äthers als Medium der Lichtausbreitung die Wissenschaft – und dieser Äther musste einige sonderbare Eigenschaften in sich vereinen: Zum einen musste er extrem starr sein, da diese Starrheit direkt mit der Geschwindigkeit der Ausbreitung der Ätherwellen zusammenhängt, und diese Geschwindigkeit, die Lichtgeschwindigkeit, ist nun einmal extrem groß. Zum anderen aber lässt der Äther normale Materie ungestört passieren. Anders als in Luft und Wasser werden Körper im Äther durch “Ätherreibung” nicht nennenswert gebremst.

Bei solcher Kombination von Eigenschaften ist es eine interessante Vorstellung, sich die Starrheit eventuell zunutze zu machen, um ein Flugfahrzeug entgegen der Gravitation “nach oben zu ziehen” – dazu müsste man zwar die extreme Durchlässigkeit des Äthers für Materie auf irgendeine Weise aufheben. Aber nachdem im Vergleich mit anderen Medien eigentlich gerade diese Durchlässigkeit das Ungewöhnliche ist, scheint ihre Aufhebung geradezu ein Schritt zurück in Richtung des Gewöhnliche.

Newcomb schrieb auf dieser Grundlage einen ganzen Science-Fiction-Roman: “His Wisdom The Defender”, zu deutsch etwa: “Seine Weisheit, der Verteidiger” (wobei “Seine Weisheit” als Ehrentitel gemeint ist, analog zu “Seine Heiligkeit” für den Papst). Der Roman ist im Internet Archive als gescannte Version zugänglich.

In Newcombs Geschichte erfindet ein Wissenschaftler eine Substanz, die genau das zu leisten vermag: Gegenstände auf Basis der Wechselwirkung mit dem Äther in die Luft zu heben und anzutreiben.

Die Geschichte ist aus heutiger Sicht recht abenteuerlich. Zum Teil vor allem abenteuerlich naiv, was die Grundidee angeht, dass der Professor seine Erfindung einsetzt, um erst Fabriken, eine Flotte von Luft-Schiffen und einen Geheim-Orden junger Männer aufzubauen und dann die Armeen und Kriegsmarinen der Welt zu entwaffnen, um die Erde in ein friedliches Goldenes Zeitalter zu führen. Das nimmt zum Teil eher die Techniken der Superschurken späterer Comics vorweg. Hier eine Illustration aus dem Buch, welche die Luftschiffe zeigt – im Wortsinne geschlossene Schiffskörper, die von dem darin liegenden Äther-Antrieb gehoben und fortbewegt werden:

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Interessanter ist, wo die technischen Spekulationen ins Ziel treffen und daneben liegen.

Dass Newcombe beim ersten Weltraumflug mit einem der neuen Schiffe den Kapitän die Dichte der Erdatmosphäre unterschätzen lässt, so dass es zu extremer Luftreibung kommt und das hölzerne Luftschiff äußerlich verkohlt, nimmt durchaus vorweg, mit welchen Schwierigkeiten modernere Raumfahrer beim Wiedereintritt in die Atmosphäre zu kämpfen haben. Und auch der Mini-Meteor, der das Luftschiff durchschlägt, ist schön beschrieben.

Bei anderen technischen Themen dagegen liegt Newcomb mehr oder weniger daneben. Die Kommunikation zwischen den Schiffen ist ein Problem – Marconis drahtloser Nachrichtenübertragung erreicht offenbar erst etwas später die Kombination aus Reichweite und Bekanntheit, um sie in eine Science-Fiction-Welt einzubauen. Stattdessen kommunizieren die Schiffe über extrem laute Schallsignale, elektrische Verbindungsdrähte, schnelle Botenflüge – oder, bei längeren Reisen, eben auch einmal gar nicht, genau wie bei seegängigen Schiffen jener Zeit schließlich auch üblich (letzterer Umstand spielt für einen Teil der Geschichte durchaus eine Rolle).

Vor allem kann sich Newcomb noch keine komplexen automatischen Steuerungssysteme vorstellen. Diejenigen seiner Luftschiffe, die mit vielen Manipulatorarmen ausgerüstet sind, haben an jedem der Arme einen Menschen sitzen, der den Arm (kraftverstärkt!) über Hebel steuert. Dass komplexere Manöver ausgiebig geübt werden müssen, damit alles klappt, ist damit unumgänglich. Mit solchen Armen werden später störrische Armeen entwaffnet – indem den Soldaten die Gewehre sanft aber bestimmt aus den Händen gerissen werden, die Soldaten gefangengesetzt und dann an ihre jeweiligen Heimatorte ausgeflogen werden.

Insgesamt sowohl in Newcombs Science-Fiction-Roman als auch in seinen Flugmaschinen-Artikeln eine interessante Mischung aus erfolgreichen und erfolglosen Vorhersagen – aber eben gerade nicht, weil Newcomb fantasielos und konservativ gewesen wäre, sondern obwohl er durchaus gewillt war, vom vorhandenen Wissen aus zu extrapolieren. Allerdings war ihm wichtig, nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Schwierigkeiten zu sehen, die sich aus dieser Extrapolation ergaben. Dass er damit falsch lag zeigt, wie vorsichtig man mit solchen Vorhersagen umgehen muss, ob sie nun die Möglichkeiten oder die Schwierigkeiten betreffen. Aber sowohl was die Möglichkeit, sich zu irren anging, als auch (zumindest in den meisten Fällen) in Bezug auf die Offenlegung der Annahmen, die hinter seinen Argumenten standen, hatte Newcomb eine auch aus heutiger Sicht durchaus vernünftigere Haltung als viele derer, die ihn in verkürzter Form als engstirningen, von der Wirklichkeit überholten Experten darstellen.

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

2 Kommentare

  1. Newcombs Äther-Lufschiffe lassen mich an Dinge wie den Warp-Antrieb oder das Beamen denken. Diese Inventionen werden durch ihre Abgehobenheit oder besser gesagt die fehlende Verankerung in dem was man wirklich kennt, weniger angreifbar und lassen der Phantasie damit mehr Raum.
    Wirklich angreifbar wird man eben erst, wenn man Zukunftstechnik nur unter Zuhilfename der bekannten physikalischen Gegebenheiten entwirft. Dann lassen sich schnell einmal Denkfehler, ein falsches Verständnis oder schlicht Unwissen feststellen.

    Newcombs negative Einschätzung der Möglichkeit Flugapparate genügend gross zu skalieren um sie für den Personentransport attraktiv zu machen erinnert mich an einen Abschätzung jüngeren Datums mit dem Titel Helium Hokum: Why Airships Will Never Be Part of Our Transportation Infrastructure von Joseph Dick , der in der Mai 2011-Ausgabe des Scientific Amercian erschien. Dazu bemüht er eine Arbeit von Theodore von Karman aus dem Jahr 1950, in dem dieser ein Mass für die Kosteneffizienz eines Fahrzeugs einführte, welches auf der Leistung des Gefährts (PS) dividiert durch sein Gewicht und seine Geschwindikeit beruht. Mit diesem Mass kommt er dann zum Schluss, dass Luftschiffe in Bezug auf die erreichte Geschwindigkeit pro Leistungseinheit ineffizient sind. Allerdings ist Joseph Dick mit diesem Artikel weniger Risiken eingegangen als Newcomb beschreibt er doch nur bereits bestens bekannte Technologien.

  2. Eigentlich kannte ich Newcomb bisher nur als Urvater der MOND-Theorie (allerdings wird seine Korrektur zum Gravitationsgesetz F = GMm/R^(2+q), q = 0.0000001612 nicht einmal in Wikipedia erwähnt)… Mit den Äther-Luftschiffen hat er mich aber auch beeindruckt. Dies ist gerade das Richtige für heutige Sci-Fiction-Serien… Echt, die Wurmlöcher sind schon langweilig 🙂

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