Shitstürme und Fake News in unsozialem Medium: Das BILD-kritische Buch von Mats Schönauer und Moritz Tschermak

Buch auf Holztisch: "Ohne Rücksicht auf Verluste – wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet"

Terry Pratchett schreibt in “Thief of Time” sinngemäß, wer etwas mehr von der Welt verstünde, dem sei klar, dass das Märchen “Des Kaisers neue Kleider” weit weniger wahrscheinlich sei als “Die Geschichte von dem Jungen, der wegen frechem Benehmens gegenüber dem Hochadel von seinem Vater verprügelt und anschließend eingesperrt wurde”. Nach ähnlichem, wenngleich glücklicherweise weniger direkt gewalttätigem Muster scheint Kritik an der BILD-Zeitung abzuperlen. Daran dürfte das neue Buch von Mats Schönauer und Moritz Tschermak, “Ohne Rücksicht auf Verluste: Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet”, erschienen am 11. Mai 2021 im Verlag Kiepenheuer und Witsch, vermutlich nichts Grundlegendes ändern – ebenso wenig wie damals Ende der 1970er Jahre Günter Wallraffs “Der Aufmacher”. Buch auf Holztisch: "Ohne Rücksicht auf Verluste – wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet"Wer sowieso schon nach dem Max-Goldt-Zitat von BILD als “Organ der Niedertracht” gehandelt hat, wird sich durch die von den Autoren zusammengetragenen und dokumentierten Beispiele bestätigt sehen. Und die meisten jener Journalist*innen und Verleger*innen, die für sich entschieden haben, dass BILD entweder tatsächlich irgendwie zum Journalismus dazugehört – da, am Oberkörper, war da nicht vielleicht doch ein Schimmern, das auf ganz feine Textilien hindeutet? – oder aber die für sich beschlossen haben, dass es sich schlicht nicht lohnt, da einen Streit vom Zaun zu brechen (“Choose your battles!”), dürfte auch diese neue Sammlung von Zweifelhaftem und Problematischem nicht umstimmen, so umfangreich sie auch sein mag.

Schönauer und Tschermak würden in der realistischeren Version des Märchens jedenfalls zu den Wiederholungstätern gehören, die mit ihren Nacktheits-Rufen nicht lockerlassen: Tschermak zeichnet für das BILDblog verantwortlich, an dem auch Schönauer redaktionell mitarbeitet. Dort finden Leser*innen entsprechende Richtigstellungen und kritische Analysen, wenn BILD beispielsweise scharfe Kritik öffentlich zum Lob für die Zeitung umbiegt, oder durch, nunja, unorthodoxen Umgang mit Statistik und Begriffsdefinitionen Ausländerfeindlichkeit fördert. Und natürlich, mit direktem Bezug zur Wissenschaftskommunikation: “Wie die BILD-Redaktion mit schmutzigen Tricks versucht, Christian Drosten zu zerlegen” vom Mai letzten Jahres.

Aber wer weiß? Vielleicht überzeugen die stetigen BILDblog-Beiträge oder die Analyse, die die beiden Autoren in ihrem Buch präsentieren, ja doch noch einige Menschen, die sich in welcher Weise auch immer mit BILD arrangiert haben.

Mir fiel bei der Lektüre vor allem auf, wie weitgehend BILD seit mittlerweile Jahrzehnten weite Teile dessen vorlebt, was in kritischer journalistischer Berichterstattung zu den Sozialen Medien allzu oft als Sammlung neuer, beunruhigender und für die Sozialen Medien charakteristischer Phänomene präsentiert wird: Shitstürme, Fake News, Clickbait & Co.

Ob sich nun “unglaublich[e] Belästigungen durch Massen von Migranten” bei vernünftiger Recherche in Luft auflösen (S. 116ff., vgl. “Ein Sex-Mob, den keiner gesehen hat”) oder die BILD-Berichterstattung dem realen Terroranschlag eines IS-Sympathisanten in Wien am 2. November 2020 noch nicht-existente U-Bahn-Linie-U3-Schießerei, Geiselnahme, Schüsse im Stadtpark und das in-die-Luft-sprengen eines Täters hinzufügt (S. 208ff.): Fake News. Und die Analogie zwischen digitalem Clickbait und den nicht-digitalen Kauf-mich-Überschriften auf jeder BILD-Titelseite, die sich auf Artikel im Inneren des Blattes beziehen, ist ja auch recht offensichtlich.

Dass BILD in einer Reihe von Fällen gezielt Shitstürme ausgelöst hat, war mir dagegen weitgehend neu. Dafür bietet das Buch drei interessante Beispiele. Eines ist das des damaligen taz-Redakteurs Arno Frank. Der hatte in einer taz-Kolumne beschrieben, wie er auf einer Reise im Himalaja-Gebirge eine vorab von einem Motorradfahrer angefahrene Hündin getötet hatte, um sie von ihrem Leiden zu erlösen. Sowohl die Angemessenheit von Franks Handeln als auch den Artikel selbst (Untertitel “Wer Köter keulen will, braucht eine richtige Keule. Vor allem, wenn er von Buddhisten umzingelt ist“) kann man kritisieren. Aber dass BILD in einem zugespitzten Artikel darüber nicht nur berichtete, sondern sowohl die E-Mail als auch die Telefonnummer von Frank mit abdruckte, ist eben die gezielte Anfachung eines Shitstorms. Der brachte der taz dann mehr als Tausend E-Mails und stundenlang klingelnde Telefone ein, inklusive so freundlicher Einlassungen wie “…und ich würde noch einen freudigen schlag gegen ihr unterkiefer vollziehen, so das dieser von ihrer schädelbasis getrennt würde” und “mit Blut einreiben und ihn mit meinen Tieren in einen engen Raum sperren” (S. 57ff.).

Ähnlich reagierte BILD auf die Aktion des Satiremagazins Titanic kurz vor der Vergabe der Fußball-WM 2006. Die Titanic hatte vermeintliche Bestechungs-Faxe verschickt, in denen zwei FIFA-Funktionären als Gegenleistung für eine WM-Vergabe an Deutschland unter anderem Schwarzwälder Schinken und Kuckucksuhren in Aussicht gestellt worden waren (S. 58f., vgl. Titanic-Coup: Schinken und Kuckucksuhren angeboten). BILD berichtete darüber als “Böses Spiel gegen Franz” (Beckenbauer) und forderte BILD-Leser auf, der Titanic-Redaktion über die im Artikel abgedruckte Telefon- und Faxnummer die Meinung zu sagen (S. 59). Die geballte BILD-Shitstorm-Macht bekam später auch der Vorsitzende einer Lokführergewerkschaft zu spüren, dessen Büro-Telefonnummer (“Geigen Sie dem Bahnsinnigen Ihre Meinung”; S. 59) BILD unter einem entsprechenden Artikel veröffentlicht hatte. Anlass war die Ankündigung eines Streiks.

Wer sich mit Shitstürmen, Fake News & Co. beschäftigt, sollte jedenfalls spätestens nach dieser Dokumentation nicht mehr an der journalistischen Vor- und Parallelgeschichte jener Phänomene vorbeikommen. Ich hatte jüngst an dieser Stelle an dem Buch “Die Shitstorm-Republik” von Nicole Diekmann ähnliche blinde Flecken gegenüber dem eigenen Metier kritisiert; die BILD-Beispiele zeigen recht deutlich, dass kein Artikel oder Buch zu solchen vermeintlichen Soziale-Medien-Phänomenen ohne den Verweis auf BILD vollständig ist.

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

2 Kommentare

  1. Die verlorene Eher der Katharina Blum…

    Glauben Sie, das diese prä-kloaka-maxima analog Variante von Fratzenbuch nicht
    immer inert gegen jede Art von Denken und Forschen aber such Nicht denken
    und anders forschen ist, weil man dort nicht denkt, sonder ein Muster der Verkaufsmerkantilisierungsmönströsität in die precorticyale Überzuckerung des gesunden Hausverstandes stellt, der im Sommer mit Rollkragenpullover ansteht um günstig das immer schon beste zu erwerben?

    In short : ich beobachte mich wie ich als m1-b-2 durch die blaue Türe gehe aber meine Gedanken sich gespiegelt im Raum Rot finden, wo ich auch schon war.

    Und als Bub dachte ich, das ich heute bereits Gerät mit warp-2 Richtung Centauri Prime erlebe.. Leider eher nein bei einer Rate von 30 % Hirntoten Zombies, ist es als denkender und Fühlender schwer, emphatisch zu belieben und nicht..

    LG MIKE 🙂

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