Sexuelle Belästigung in der Astronomie

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… aber nicht einfacher
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Ich hatte vor ein paar Monaten an dieser Stelle zum Thema sexuelle Belästigungen in der Astronomie über den Fall Geoff Marcy berichtet: Sexuelle Belästigung in der Wissenschaft (10.10.2015), Updates zu Geoff Marcy (15.10.) und Jenseits von Geoff Marcy (24.10.).

Der Fall Geoff Marcy hat in der astronomischen Community zu intensiven Diskussionen geführt. Dass Geoff Marcy offenbar jahrzehntelang immer wieder damit davonkam, dass er angeblich von nichts gewusst und sich an wenig erinnert hatte (der Studentin auf der Party gegen seinen Willen einen Drink gekauft, sie auf ihr Hotelzimmer begleitet um sicherzustellen, dass sie sicher nach Hause kommt, eine andere Studentin nur zufällig berührt und alles nur aus Besorgnis und gutem Willen heraus, nie mit sexuellen Hintergedanken) wirft natürlich die Frage auf, wie man mit solchen Anschuldigungen richtig umgeht. Irgendwo gibt es da, alles andere wäre sehr deprimierend, eine bessere Balance zwischen Schutz vor Belästigungen, Schutz der betroffenen Privatsphären, angemessenem Umgang mit Anschuldigungen und Ernstnehmen von Bedenken als das, was da im Fall Marcy praktiziert wurde.

(Inzwischen gibt es auch ein Verteidigungs-Statement von Marcy, zu dem man aber auf alle Fälle ergänzend den von der Universität Berkeley inzwischen freigegebenen und auf Marcys Webseite herunterladbaren Report lesen sollte.)

Ich selbst hatte mit Marcy nie direkt etwas zu tun – für mich war das ein Name, einer der bekanntesten US-Exoplanetenforscher. Diese bequeme Distanz ging in den letzten Wochen und Monaten verloren. Auf Facebook oder Twitter war recht schnell klar geworden, dass das Problem nicht einfach anderswo zu verorten ist. Astronominnen, die ich kannte, einige online, andere direkt persönlich, schilderten eigene Fälle sexueller Belästigung. Vor einer Woche erfuhr ich, dass ein Astrophysiker, mit dem ich bereits zu tun hatte (der nämlich kompetent und kritisch ein Kapitel meines Buches “Das Einstein-Fenster” gegengelesen hatte) offenbar von seiner US-Universität wegen verübter Belästigungen für ein Jahr suspendiert wurde. Und ein Kollege aus dem Bereich astronomische Bildungsforschung, Timothy Slater, der bei einer Veranstaltung, bei deren Organisation ich involviert war, eine prominente Rolle spielte, wurde heute im US-Repräsentantenhaus von einer Abgeordneten als Beispiel für sexuelle Belästigung in der Wissenschaft angeführt – mit einer Reihe von Details, bei denen man sich wirklich nur an den Kopf fassen kann (die in der Ansprache allerdings, soweit ich sehen kann, nicht alle ganz korrekt wiedergegeben werden; wer entsprechend unempfindlich ist, findet die entsprechenden Angaben in diesem Bericht der Universität Arizona von 2004). Bei der Ansprache der Abgeordneten ging es um die Ankündigung eines Gesetzesentwurfs dazu, dass zumindest die betroffenen Universitäten entsprechende Informationen über die Untersuchungen von Missbrauchsfällen in Zukunft unter sich austauschen dürfen sollen.

Ich merke, dass ich zu den wichtigsten Fragen – nämlich wie effektiver, gerechter, angemessener Umgang mit solchen Vorwürfen, deren Untersuchung und Klärung aussehen sollte – auch keine guten Antworten habe, und die Community bislang offenbar auch (noch) nicht. Ich bin gespannt auf die weitere Diskussion. Was die ersten Reaktionen angeht, ist diese Reihe von Tweets von Julianne Dalcanton auf alle Fälle lesenswert – und ich vermute: einigermaßen repräsentativ.


Nachträgliche weitere Links (werde ich vermutlich noch etwas weiter updaten):

Mashable-Beitrag zum Fall Tim Slater

Buzzfeed-Beitrag zum Fall Christian Ott

Statement auf den CAPER-Webseiten (Gruppe von Tim Slater) zu den Anschuldigungen

Slaters Beschreibung der Vorwürfe im allgemeineren Kontext letzten Oktober

Kommentar zu Sexismus auf der AAS-Konferenz im Januar

Blogpost von Sean Carroll zum Thema

Blogpost zum Thema Abuse von Pamela Gay

Ars Technica zum Thema

Washington Post

Wired-Interview mit Jackie Speier

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

4 Kommentare

  1. Ich frage mich, ob man Fälle, die nach ausländischen Gesetzen einen Straftatbestand darstellen überhaupt in dieser Art diskutieren kann. Es wird dabei nämlich häufig vergessen, dass nach deutschem Recht sexuelle Belästigung kein Straftatbestand ist. Ich wohne direkt an der österreichischen Grenze und war erstaunt über die vielen höhnischen Bemerkungen mit denen die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln dort kommentiert wurden. Im Gegensatz zu Deutschland, wo lediglich sexuelle Nötigung strafbar ist, ist in Österreich nämlich bereits “sexuelle Belästigung” ein Straftatbestand.
    Siehe dazu auch: http://www.anwalt.de/rechtstipps/sexuelle-beleidigung-und-sexuelle-belaestigung_043555.html

    Anders sieht es theoretisch bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz aus, hier gibt es die Gleichstellungsgesetze der Länder sowie Beschwerdestellen und Gleichstellungsbeauftragte. Auf der Homepage der “Bundeszentrale für politische Bildung” heißt es jedoch: “Zwar ist der Bereich der Bildung in Paragraf 2 Absatz 1 Nr. 7 AGG explizit erwähnt, aber es handelt sich bei näherem Hinsehen um eine Mogelpackung.”
    http://www.bpb.de/apuz/178676/sexuelle-belaestigung-recht-und-rechtsprechung?p=all

    • Der Rechtsweg ist sicherlich das eine; dazu muss aber noch kommen, wie die entsprechenden Communities für sich mit dem Problem umgehen. Da sieht der BPB-Artikel ja offenbar auch Probleme bei den Hochschulen.

  2. Die übergriffigen Astronomen wurden von den Behörden/Universitäten offenbar ähnlich behandelt wie übergriffige Priester früher von der Kirche behandelt wurden: Verwarnung, Versetzung, kurzfristige Suspendierung und Wiedereinstellung. Doch behoben war das Problem nicht. Es sind Wiederholungstäter, die es ebensowenig lassen können wie Raucher das Rauchen nicht lassen können. Da ist guter Rat teuer. Eine denkbare Lösung wäre alle Personen, die mit so einer Person zu tun haben, vorzuwarnen. Im Endeffekt ist solch ein Verhalten meist nicht kompatibel mit einer Berufsausübung.

    • Ich hoffe nicht, dass das alles automatisch Wiederholungstäter sind. Warnungen machen in der Astronomie unter der Hand durchaus die Runde, haben aber natürlich den Nachteil: Wer keine persönlichen Kontakte hat, bekommt solche Warnungen nicht mit. In punkto wen wann informieren eine gute Lösung zu finden gehört zu den schwierigeren Aufgaben bei dem ganzen Thema.