Schubladen und der mündige Wissenschaftskonsument

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… aber nicht einfacher
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Nach meinem sentimentalen Traum zur Zukunft von Internet und Wissenschaft, hier eine spontane Fallstudie zu einem Aspekt, den ich dort nicht erwähnt hatte, und das ist schlicht der Vorteil, den die beachtliche Vielfalt der online zugänglichen Wissenschaftsberichterstattung mit sich bringt.

Ausgangspunkt ist eine jüngst im Open-Access-Fachjournal PLoS Medicine erschienene Studie. Es geht um die Wirksamkeit von Prozac und ähnlichen Medikamenten bei der Behandlung von Depressionen.  Die Studie, über die auch in Deutschland weithin berichtet wurde, ist ein schönes Testobjekt, weil sie gleich zwei Ergebnisse hat: ein offensichtliches und eines, das etwas weniger offensichtlich, aber, was das Funktionieren von Wissenschaft angeht, viel wichtiger und interessanter ist. Das offensichtliche Ergebnis der Studie ist, dass Antidepressiva außer bei der Behandlung schwerer Fälle insgesamt nicht besser abschneiden als Plazebos, und um es gleich zu sagen: Es soll hier nicht darum gehen, ob dieses Ergebnis der Studie legitim ist, oder wie es einzuschätzen sei. 

Von viel weiterreichendem Interesse ist nämlich, was diese Studie über die Veröffentlichungspraxis von Studien allgemein schließen lässt. Negativ fällt das Ergebnis zur Wirksamkeit nämlich nur dadurch aus, dass auch die unveröffentlichten Studienergebnisse zu diesen Medikamenten einbezogen wurden. Wie die Studienautoren da herankamen? Im Rahmen des Zulassungsverfahrens für die entsprechenden Medikamente bei der U.S. Food and Drug Administration (FDA) werden dieser Behörde auch unveröffentlichte Studienergebnisse eingereicht. In den USA gibt es ein recht robustes Gesetz namens Freedom of Information Act (FOIA), das es erlaubt, Behörden zur Herausgabe von Informationen zu veranlassen (oder die Herausgabe gar auf dem Rechtsweg zu erzwingen). Klar: militärische Geheimnisse sind tabu, und in die Privatsphäre der Beamten darf man damit auch nicht eindringen. Aber von diesen und einigen weiteren Ausnahmen abgesehen ist die Regelung erstaunlich weitgehend; in diesem Falle ermöglichte sie den Studienautoren, an die unveröffentlichten Daten zu gelangen.

Ein klares Beispiel also für den Schubladeneffekt: Wenn Studien, welche für die Wirksamkeit eines Medikaments sprechen (oder einen anderen von den Beteiligten für positiv erachteten Ausgang haben), bevorzugt veröffentlicht werden, während Studien, die keine Wirksamkeit zeigten, überproportional häufig “in der Schublade verschwinden” und nicht veröffentlicht werden, dann kommt, wer sich nur an veröfffentlichten Studien orientiert, zwangsläufig zu einem unrealistisch rosigen Eindruck von der Wirksamkeit des betreffenden Medikaments.

Nun ist bereits der Umstand, dass die Forscher in diesem Falle erst zum Freedom of Information Act greifen mussten, um die nötigen Daten zu erhalten, ziemlich bemerkenswert. Hinzu kommt, dass gerade im Januar ein Artikel im New England Journal of Medicine erschienen war, der ebenfalls 74 bei der FDA eingereichte Antidepressiva-Studien untersucht hatte.  Von den 38 Studien, die bezüglich der Medikamentenwirksamkeit laut FDA-Einschätzung positive Ergebnisse gezeigt hatten, wurden 37 veröffentlicht.  Von den 36 Studien, die laut FDA-Einschätzung negative oder fragwürdige Ergebnisse geliefert hatten, wurden 14 veröffentlicht – und in 11 dieser Veröffentlichungen liest es sich, als hätte die Studie ein positives Ergebnis erbracht. 22 der negativen/fragwürdigen Studien blieben in der Schublade und wurden nicht veröffentlicht.

Ein weiteres Argument für die wichtige Forderung nach einem zentralen, verpflichtenden Register für Wirksamkeitstudien – registriert werden sollte jede Studie dabei natürlich, bevor ihre Ergebnisse feststehen, am besten gleich mit der Auflage, die Ergebnisse auf alle Fälle in der einen oder anderen Form zu veröffentlichen (und sei es, das Internet macht’s möglich, auf den Webseiten der das Register verwaltenden Organisation).  

Soweit, so besorgniserregend.  Zurück auf die Metaebene: Woher ich das alles weiss?  Nicht direkt aus den Fachquellen – diese Ergebnisse liegen auch weit außerhalb meines eigenen Fachgebietes – sondern, wie für interessierte Laien dieser Tage wohl nicht untypisch, aus einem Ausflug durch diverse online verfügbare Zeitungsartikel, Blogbeiträge, inklusive einer Stippvisite zu den Originalartikeln (im Falle des New England Journal of Medicine ist allerdings nur der Abstract frei zugänglich).

Ohne Internet hätte ich sicher auch von dieser Studie gelesen. Allerdings hätte ich mit einiger Wahrscheinlichkeit das für mich Interessanteste verpasst. Vor Anbruch meines persönlichen Internet-Zeitalters las ich, zumindest, was aktuelle Informationen außerhalb meines eigenen Faches betraf, hauptsächlich die Zeit und ein Regionalblatt, das in punkto tägliche Wissenschaft im wesentlichen auf dpa-Meldungen zurückgriff.  In diesem Falle nun erwähnt die dpa-Meldung (hier von den Webseiten der Welt) zwar, es sei um “veröffentlichte und unveröffentlichte” Studien gegangen, und der Zeit-Artikel informiert mich in einem Nebensatz, unter den einbezogenen Studien seien “und das ist bemerkenswert – auch bislang unveröffentlichte Papiere aus den Schubladen der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA”.  An den Schubladeneffekt, sprich, an selektive Veröffentlichung denkt dabei nur, wer sich bereits mit dem Thema auskennt; thematisiert wird diese Problematik in keinem der beiden Beiträge. Was nun genau “bemerkenswert” ist bleibt unerwähnt, diesbezügliche Hintergrundinformationen: Fehlanzeige, und damit wäre dieser entscheidende Aspekt der betreffenden Forschung mit großer Wahrscheinlichkeit schlicht an mir vorübergegangen.

Nicht so in den Zeiten des Internet. Da begann meine Lesereise bei einem Mailinglisten-Hinweis auf einen Beitrag in Ben Goldacres Bad Science Blog; durch weiteres Googeln bin ich dann erst auf dpa-Meldung und Zeit-Artikel, dann aber unter anderem auf einen entsprechenden Artikel in der Welt gestoßen, in dem der Schubladeneffekt breiten Raum einnimmt, und von dem aus ich dann durch einen Leserkommentar (Web 2.0 lässt grüßen) noch auf einen Artikel im Spiegel stieß.

Und das ist eben das Schöne: Im Handumdrehen hatte ich eine Vielfalt von Texten, den Volltext der einen und den Abstract der anderen Originalarbeit auf dem Bildschirm. Und konnte damit als mündiger Wissenschafts-Berichterstattungs-Konsument den Autoren der verschiedenen Beiträge auf die Finger schauen. Dass etwa dem Zeit-Artikel der für mich interessanteste Aspekt der Geschichte schlicht durch die Finger geglitten war, spielte so keine Rolle – schließlich wurde anderswo ausführlich darauf eingegangen. 

Sicher ist die fast instantan zugängliche Vielfalt keine vollständige Antwort auf die große Frage, wie ich als Fachgebiets-Laie die Tragfähigkeit dessen feststellen kann, was mir die Experten und, als zweites Glied der Kette, die Vermittler (Journalisten, Sachbuchautoren, Blogger…) mitteilen. Aber sie ist ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung.

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

4 Kommentare

  1. Pharmaindustrie und Wirksamkeitsstudien

    Danke für den ausführlich recherchierten Beitrag. Er ging ja bereits durch etliche Feeds, aber hier ist die Informationstiefe am größten ;-))

    Leider sind -trotz Internet!- jahrelang Ärzte und Patienten getäuscht worden. Gerade Antidepressiva wurden von Hausärzten bereits bei leichten “Verstimmungen” wie Lutschbonbons verschrieben. Dabei sind die Nebenwirkungen nicht zu verachten.

    Angesichts dieser nun an die Öffentlichkeit geratenen Informationen, muss man sich fragen, wie viele Leichen noch immer im Keller liegen und welchen Behauptungen man überhaupt noch trauen kann. So wird an und mit Menschen aufs Geratewohl herumexperimentiert! Welche (körperlichen)Schäden und Folgekosten wohl dadurch produziert werden ?

  2. Was wirkt da, wenn etwas wirkt?

    Das sind ja interessante Einsichten… es scheint aber doch irgendetwas zu wirken und ich kann die Praktiker gut verstehen, die davor warnen, einfach alle Medikamente abzusetzen, weil je jetzt erwiesen ist, das Prozac nicht wirkt… die Frage ist aber, was da wirkt, wenn etwas wirkt? Durchaus denkbar ist der Effekt, dass allein die Tatsache, dass jemand “etwas” bekommt, und sei es eben nur ein Placebo, einen hilfreichen Effekt zeigt. Das schlichte Bedürfnis nach Fürsorge, die Erfahrung, da ist jemand, der kümmert sich um mich und versteht was von der Sache, ist als Wirkfaktor kaum berücksichtigt. Wenn man einem umfassenderen Modell der Krankheitsentstehung folgt und mehrere Ursachen und Aspekte berücksichtigt, sind monokausale Erklärungen und die Suche nach einem einzigen, zumal physiologischen Wirkstoff, immer fragwürdig. Im Grunde scheitert hier die Forschungsmethodologie an der Komplexität des Gegenstands – und wird der Vielfalt der Symptomatik im konkreten Einzelfall nur sehr schwer gerecht. Die Frage ist auch, ob generell zuviel von der Medizin erwartet wird – weil es eben so schön einfach ist, ein Medikament zu verschreiben und wesentlich schwieriger, sich mit der individuellen Situation der Betroffenen zu befassen.

  3. Placeboeffekte

    Da Placeboeffekte immer da sind, werden in medizinischen Studien die Placeboeffekte “herausgerechnet”. Die “Wirksamkeit” eines Medikamentes gilt erst dann als erwiesen, wenn es einen gewissen Prozentsatz über der “Wirksamkeit” des Placebos liegt. Je höher der Abstand, desto höher die Wirksamkeit – so wird angenommen. Oft stellt sich dann erst in Studien am “Menschen” heraus, wie viele Nebenwirkungen das Medikament “entwickelt” hat. Interessante Infos dazu gibt es in der Wissenswerkstatt von Marc Scheloske:
    Informationsverweigerung » Die Pharmakonzerne Merck und Schering-Plough halten Studienergebnisse zu Cholesterinpräparaten zurück | Werkstattnotiz LI
    Wenn Geschäftssinn und medizinische Verantwortung kollidieren » Eli-Lilly drängt auf Zulassung seines umstrittenen Medikaments “Zyprexa” für Kinder und Jugendliche

    Risiken, Nebenwirkungen, Todesfälle » Medikamenten- und Pharmaskandale des Jahres 2007 | Topliste 1-5

  4. Dank für Kommentare und weitere Links!

    Zu meinem Kernthema, eben der Schubladenpraxis bei wissenschaftlichen Studie: in der jüngsten Ausgabe von Science ist ein interessanter Artikel zu den Bemühungen, klinische Studien transparenter zu gestalten.

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