Open Access (Gastbeitrag von Robert Helling)

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… aber nicht einfacher
RELATIV EINFACH

Die Open-Access-Debatte und die zum Teil doch recht verzerrten Beiträge der Debattierenden hatte ich hier in diesem Blog selbst schon thematisiert (Open Access mit Polemik statt Diskussion – gehört das bei euch ins Netz, liebe FAZ?). Aktuell stelle ich hier einen Gastbeitrag von Robert Helling ein, theoretischer Physiker an der LMU München, der meiner Einschätzung nach repräsentativ dafür sein dürfte, wie eine ganze Reihe von Naturwissenschaftlern zu diesem Thema und insbesondere zu der teils scharfen Kritik an der Open-Access-Initiative stehen. Robert bloggt auf atdotde.de (der Sinn dieses Namens erschließt sich, wenn man ihn als E-Mail-Domain versteht). Mich persönlich hat Robert in der Wissenschaft vom ersten bis fast zum letzten Tag meines Studiums begleitet – von der Arbeitsgruppe zum Übungszettel-Lösen in Theoretischer Mechanik an meinem ersten Studientag über unsere Diplomarbeiten bei Hermann Nicolai und Doktorarbeiten am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. Hier also Roberts Text, ein offener Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung, den Robert auch auf seinem Blog eingestellt hat:


Zum Meinungsbeitrag „Goldener Zugang“ von Norbert Frei in der SZ vom 12./13. November 2016:

Herr Frei sorgt sich in seinem Beitrag, dass der Wissenschaft unter der Überschrift OpenAccess von außen ein Kulturwandel aufgezwungen werden soll. Er fürchtet, dass ihn die Naturwissenschaftler zusammen mit der Politik zwingen, seine Erkenntnisse nicht mehr in papiernen Büchern darlegen zu können, sondern alles nur noch zerstückelt in kleine Artikel-Happen in teure digitale Archive  einzustellen, wo sie auf die Bitverrottung waren, da schon in kürzester Zeit das Fortschreiten von Hard- und Software dazu führen wird, dass die Datenformate unlesbar werden.

Als Gegenmodell führt er die Gutenberg-Bibel an, von der eine Mehrzahl der Exemplare die Jahrhunderte überdauert haben. Nun weiss ich nicht, wann Herr Frei das letzte Mal in seiner Gutenberg-Bibel geblättert hat, ich habe in meinem Leben nur ein einziges Mal vor einer gestanden: Diese lag in einer Vitrine der Bibliothek von Cambridge und war auf einer Seite aufgeschlagen, keine andere Seite war zugänglich. Dank praktischem OpenAccess ist es aber nicht nur den guten Christenmenschen möglich, eine Kopie zu Hause vorzuhalten. Viel mehr noch, die akademischen Theologen aus meinem Bekanntenkreis arbeiten selbstverständlich mit einer digitalen Version auf ihrem Laptop oder Smartphone, da diese dank Durchsuchbarkeit, Indizierung und Querverweisen in andere Werke für die Forschung viel zugänglicher ist.

Geschenkt, dass es bei der OpenAccess-Initiative eine Ausnahme für Monographien geben soll. Niemand will das Bücherschreiben verbieten. Es geht nur darum, dass, wer Drittmittel von der öffentlichen Hand erhalten will, nicht noch einmal die Hand dafür aufhalten soll, wenn sich dann die vor allem wissenschaftliche Öffentlichkeit über die Ergebnisse informieren will. Professorinnen und Professoren an deutschen Universitäten schreiben ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht zu ihrem Privatvergnügen, es ist Teil ihrer Dienstaufgaben. Warum wollen sie die Früchte ihres bereits entlohnten Schaffens dann noch ein weiteres Mal den öffentlichen Bibliotheken verkaufen?

Ich kann mich noch gut an meinen Stolz erinnern, als ich das erste Mal meinen Namen gedruckt auf Papier sah, der das Titelblatt meiner ersten Veröffentlichung zierte. Jenseits davon ist es für mich als Wissenschaftler vor allem wichtig, dass das, was ich da herausfinde, von anderen wahrgenommen und weitergetrieben wird. Und das erreiche ich am besten, wenn es so wenig Hürden wie möglich gibt, dieses zu tun.

Ich selber bin theoretischer Hochenergiephysiker, selbstredend gibt es sehr unterschiedliche Fächerkulturen. In meinem Fach ist es seit den frühen Neunzigerjahren üblich, alle seine Veröffentlichungen – vom einseitigen Kommentar zu einem anderen Paper bis zu einem Review von vielen hundert Seiten – in arXiv.org, einem nichtkommerziellen Preprintarchiv einzustellen, wo es von allen Fachkolleginnen und -kollegen ab dem nächsten Morgen gefunden und in Gänze gelesen werden kann, selbst viele hervorragend Lehrbücher gibt es inzwischen dort. Diese globale Verbreitung neben einfachem Zugang (ich habe schon seit mehreren Jahren keinen papiernen Fachartikel in unserer Bibliothek mehr in einem Zeitschriftenband mehr nachschlagen müssen, ich finde alles auf meinem Computer) hat so viele Vorteile, das man gerne auf mögliche Tantiemen verzichtet, zumal diese für Zeitschriftenartikel noch nie existiert haben und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verschwinden gering gegenüber einem W3-Gehalt ausfallen und als Stundenlohn berechnet jeden Supermarktregaleinräumer sofort die Arbeit niederlegen ließen. Wir Naturwissenschaftler sind auf einem guten Weg, uns von parasitären Fachverlagen zu emanzipieren, die es traditionell schafften, jährlich den Bibliotheken Milliardenumsätze für unsere Arbeit abzupressen, wobei sie das Schreiben der Artikel, die Begutachtung, den Textsatz und die Auswahl unbezahlt an von der Öffentlichkeit bezahlte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler delegiert haben und sie sich ausschliesslich ihre Gatekeeper Funktion bezahlen liessen.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

5 Kommentare

  1. Markus Pössel schrieb (13. November 2016):
    > Robert Helling [schrieb:]

    > digitale Archive […] selbstverständlich mit einer digitalen Version auf ihrem Laptop oder Smartphone, dank Durchsuchbarkeit, Indizierung und Querverweisen in andere Werke für die Forschung viel zugänglicher

    Nicht zu vernachlässigen ist, dass mit “Digitaltechnik” die Durchsuchbarkeit und Indexierung (Verschlagwortung/Verstichwortung) zur Erschließung von Inhalten nicht nur jeweils einzelner Dokumente, sondern des gesamten Bestandes (als Gesamt-Archiv) praktikabel wird;
    und deren Nutzung bei der Erstellung weiterer Inhalte erleichtert und wiederum um so selbstverständlicher praktiziert und gefordert werden kann.

    Dass zu einem vorliegenden Dokument also nicht nur explizit erkennbar ist: “was ist darin behandelt und zitert (und warum)”,
    sondern z.B. auch ohne Weiteres festzustellen und zu beachten ist: “wo wurde dieses Dokument wiederum zitiert (und in welcher Beziehung: (Peer-)Review, Bestätigung, Nutzung, Infragestellung, Widerlegung …)”.

    > Dank praktischem OpenAccess ist es […]

    Es bleibt aber deutlich zu unterscheiden:

    – die Möglichkeiten zur Erstellung und Erschließung von Inhalten durch deren “Digitalisierung” (wie oben angedeutet) einerseits,

    – und andererseits der freie Zugang zu diesen Möglichkeiten, nämlich den Gesamt-Bestand so zu nutzen (und natürlich insbesondere: ggf. auch selbst so mit Inhalten zu ergänzen); ohne finanzielle/paläografische/drucksachliche oder institutionelle Barrieren.

    • Zu unterscheiden ja, in der Praxis unabhängig sicher nicht. Abwesenheit von Open Access macht die Inhalte nun einmal auch [für diejenigen schwerer zugänglich], die sich z.B. eine möglichst umfangreiche Indexierung von Inhalten auf die Fahnen geschrieben haben. Da jeweils Arrangements treffen zu müssen macht solch ein Vorhaben komplizierter und ist demnach eine zusätzliche Hürde.

      • Markus Pössel schrieb (4. Dezember 2016 @ 12:47):
        > [Frank Wappler schrieb (4. Dezember 2016 @ 10:25):
        > > zu unterscheiden:
        > > – die Möglichkeiten zur Erstellung und Erschließung von Inhalten durch deren „Digitalisierung“ … einerseits,
        > > – und andererseits der freie Zugang zu diesen Möglichkeiten]
        > Zu unterscheiden ja, in der Praxis unabhängig sicher nicht.

        Unabhängig sicher nicht. Die Frage nach Zugang zu bestimmten Möglichkeiten stellt sich ja erst dann und deswegen ernsthaft, wenn und weil sie sich durch den technischen Fortschritt praktisch eröffnen.
        (In wie fern umgekehrt die praxistaugliche technische Realisierung bestimmter Möglichkeiten insbesondere deshalb vorangetrieben würde, um sie Barriere-frei zugänglich zu machen, sei dahingestellt.)

        > Abwesenheit von Open Access macht die Inhalte nun einmal auch denjenigen gegenüber, die sich z.B. eine möglichst umfangreiche Indexierung von Inhalten auf die Fahnen geschrieben haben.

        Abwesenheit … macht Inhalte … — zu was ??

        (Freier Zugang zu den Assistenten, wie sie u.a. von Lamport, Voevodsky oder Reddy für möglich gehalten werden, wäre auch noch zu arrangieren …)

      • Markus Pössel schrieb (4. Dezember 2016 @ 12:47):
        > [Frank Wappler schrieb (4. Dezember 2016 @ 10:25):
        > > zu unterscheiden:
        > > – die Möglichkeiten zur Erstellung und Erschließung von Inhalten durch deren „Digitalisierung“ … einerseits,
        > > – und andererseits der freie Zugang zu diesen Möglichkeiten]
        > Zu unterscheiden ja, in der Praxis unabhängig sicher nicht.

        Unabhängig sicher nicht. Die Frage nach Zugang zu bestimmten Möglichkeiten stellt sich ja erst dann und deswegen ernsthaft, wenn und weil sie sich durch den technischen Fortschritt praktisch eröffnen.
        (In wie fern umgekehrt die praxistaugliche technische Realisierung bestimmter Möglichkeiten insbesondere deshalb vorangetrieben würde, um sie Barriere-frei zugänglich zu machen, sei dahingestellt.)

        > Abwesenheit von Open Access macht die Inhalte nun einmal auch denjenigen gegenüber, die sich z.B. eine möglichst umfangreiche Indexierung von Inhalten auf die Fahnen geschrieben haben.

        Abwesenheit … macht Inhalte … — zu was ??

        (Freier Zugang zu den Assistenten, wie sie u.a. von Lamport, Voevodsky oder Reddy für möglich gehalten werden, wäre auch noch zu arrangieren …)

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