Neue Medien: Ein Wissenschafts-Kommunikations-Märchen

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… aber nicht einfacher
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Klar sind Blogs etwas Neues. Aber Wissenschaftler haben auch schon direkt kommuniziert, bevor es Blogs gab.

Dieses spezielle Märchen ärgert mich wirklich. Es wird immer wieder wiederholt, obwohl das, was da behauptet, einfach falsch ist. Zuletzt ausgerechnet auf dem Portal Wissenschaftskommunikation.de, wo Beatrice Lugger, die ich ansonsten sehr schätze, ausgerechnet in einem Beitrag über die Rolle der Wissenschaftler in der Wissenschaftskommunikation schreibt, durch die neuen Medien und die Vernetzung habe sich die Wissenschaftskommunikation geändert:

Gleichzeitig hat sich vor allem durch die Vernetzung der Welt vieles verändert.  So sind Wissenschaftler heute nicht mehr „nur“ Protagonisten und Experten in Beiträgen von Wissenschaftsjournalisten oder in den Institutsmagazinen und Youtube-Imagefilmen von Forschungseinrichtungen.

Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein! “Heute nicht mehr nur” heißt im Umkehrschluss, dass sie es früher waren, und das sich von gestern auf heute etwas geändert hat. Wodurch hat es sich verändert? Das steht ja auch direkt dabei: Durch die Vernetzung der Welt.

Aber das stimmt einfach nicht. Auch früher waren Wissenschaftler nicht nur Protagonisten und Experten in dem, was andere über sie geschrieben haben. Auch früher haben Wissenschaftler in vielfältiger Weise direkt mit der Öffentlichkeit kommuniziert.

Schluss mit der Märchenstunde.

Wer erfindet solche Märchen? Warum werden sie immer wieder unkritisch verbreitet? Was sagt es über Wissenschaftlichkeit und Zuverlässigkeit der Forschungen zur Wissenschaftskommunikation aus, wenn diese Märchen immer wieder verbreitet werden?

Stattdessen haben Wissenschaftler lange vor den Neuen Medien, lange bevor es in wissenschaftlichen Institutionen Menschen gab, die sich selbst Öffentlichkeitsarbeiter nannten, direkt mit der Öffentlichkeit kommuniziert.

Ausführlicher habe ich mich vor rund einem Monat in “Wissenschaftskommunikation kam immer schon (auch) direkt aus der Wissenschaft!” mit dem Thema auseinandergesetzt.

Kurz gefasst: Sachbücher, durchaus auch einflussreiche Sachbücher, gibt es schon lange. Hawkings eine Kurze Geschichte der Zeit, anyone? Bei Scientific American und Spektrum der Wissenschaft haben seit jeher Wissenschaftler selbst über ihre Forschung geschrieben.

Von der PR-Abteilung eingeladen

Auch bei den Dialog-Formaten geht das Märchen in dem erwähnten Beitrag auf wissenschaftskommunikation.de weiter:

Ein Blick in die Formate der Wissenschaftskommunikation etwa zeigt eine Reihe von Interaktionen: Worldcafé, Citizen Science, Lange Nacht der Museen oder Meet the Scientist können ohne Wissenschaftler eben nicht stattfinden. Zu diesen Dialogformaten werden Forscherinnen und Forscher meist von ihren jeweiligen instituts- oder universitätseigenen Presse- und Öffentlichkeitsabteilungen eingeladen und aufgefordert.

Ähm – nein? Solche Formate kommen oft genug von den Wissenschaftlern selbst. Ich würde mich nicht wundern, wenn es sogar so wäre, dass sie meist von den Wissenschaftlern selbst kommen. Dass es eben Studierende sind, die in München das Science Cafe machen. Und dass insbesondere Citizen Science in der Regel von den Forschern selbst kommt, nicht von der Presse- oder Öffentlichkeitsabteilung in die Wissenschaft hineingetragen wurde. Bei den astronomischen Citizen Science-Formaten wie Galaxy Zoo weiß ich das sicher, weil ich zum Teil mitbekommen habe, wie die Kollegen aus Oxford und anderswo das aufgebaut haben.

Hier wird wieder ein Narrativ aufgebaut, in dem die Wissenschaftler marginalisiert werden. In Wirklichkeit dürften Wissenschaftler die meisten dieser Formate mit aufgebaut und initiiert haben. Hier wird ihre Rolle darauf reduziert, dass sie “meist” passiv waren, von ihren Presse- und Öffentlichkeitsarbeitskollegen eingeladen und aufgefordert werden mussten. Dafür würde ich gerne Belege sehen!

Die Verteilung der Rollen

Sicher haben wir es mit verteilten Rollen zu tun: Journalisten, Öffentlichkeitsarbeiter und Wissenschaftler, alle haben etwas zur Wissenschaftskommunikation etwas beizutragen. Aber dann sollten bitte auch die Beiträge aller drei Gruppen fair dargestellt werden. Für die Wissenschaftsjournalisten heißt das sicherlich, sie nicht zu reinen Übersetzern der wissenschaftlichen Inhalte zu degradieren, sondern ihre Funktion für “die gesellschaftliche Einordnung und Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse, das Agenda Setting und Gate Keeping” anzuerkennen.

Und für die Wissenschaftler heißt es, ihre Rolle in der Wissenschaftskommunikation nicht kleinzureden. Sie in entsprechenden Texten nicht auf eine Gruppe zu reduzieren, die erst heute, im Zeitalter Neuer Medien, direkt mit der Öffentlichkeit kommuniziert und vorher nur gefiltert durch Journalisten und Öffentlichkeitsarbeiter zu Wort kam. Sie im Zusammenhang mit Dialogveranstaltung nicht nur als passive Teilnehmer zu erwähnen, die “meist […] eingeladen und aufgefordert” werden müssen, sondern anzuerkennen, dass eine ganze Reihe der entsprechenden Ideen direkt von den Wissenschaftlern kommen.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

5 Kommentare

  1. Dieses Märchen ordne ich ein in ein allgemeineres Phänomen, das von der Computerindustrie gefördert wird. Es betrifft die Behauptung: Wir alle müssen den Zwängen der Digitalisierung folgen. Inzwischen spricht man auch schon von “digitaler Bildung”. Auf Bundesebene wird eine “Digitalisierungsoffensive” für den Bildungssektor geplant. Das alles gefällt der Coputerindustrie, weil ihre Produkte sich daraufhin noch besser verkaufen.

  2. Markus Pössel schrieb (12. April 2017):
    > Wissenschaftler [haben] lange vor den Neuen Medien, lange bevor es in wissenschaftlichen Institutionen Menschen gab, die sich selbst Öffentlichkeitsarbeiter nannten, direkt mit der Öffentlichkeit kommuniziert.

    > Kurz gefasst: Sachbücher, durchaus auch einflussreiche Sachbücher, gibt es schon lange.

    Natürlich haben Wissenschaftler schon vor langer Zeit (angefangen vielleicht mit Euklid) die Sachen, über die sie wissen erworben hatten, in Bücher oder mit anderen informativen und überlieferbaren Mitteln dargestellt und mitzuteilen versucht.

    Aber es ärgert mich (zunehmend), wenn das Schlagwort “Wissenschaftskommunikation” auf diese unidirektionale (“einseitige”) Art des Signalisierens von Wissens bezogen und aufgefasst wird,
    und nicht auch, oder sogar vor allem, auf alle Arten von gegenseitiger wissenschaftlicher Korrespondenz.

    Und gerade diese wurde und wird ja durch die Entwicklungen der “modernen elektronische Kommunikation” geprägt.

  3. Markus Pössel schrieb (12. April 2017):
    > Wissenschaftler [haben] lange vor den Neuen Medien, lange bevor es in wissenschaftlichen Institutionen Menschen gab, die sich selbst Öffentlichkeitsarbeiter nannten, direkt mit der Öffentlichkeit kommuniziert.

    > Kurz gefasst: Sachbücher, durchaus auch einflussreiche Sachbücher, gibt es schon lange.

    Natürlich haben Wissenschaftler schon vor langer Zeit (angefangen vielleicht mit Euklid) die Sachen, über die sie Wissen erworben hatten, in Büchern oder mit anderen informativen und überlieferbaren Mitteln dargestellt und mitzuteilen versucht.

    Aber es ärgert mich (zunehmend), wenn das Schlagwort “Wissenschaftskommunikation” auf diese unidirektionale (“einseitige”) Art des Signalisierens von Wissens bezogen und aufgefasst wird,
    und nicht auch, oder sogar vor allem, auf alle Arten von gegenseitiger wissenschaftlicher Korrespondenz.

    Und gerade diese wurde und wird ja durch die Entwicklungen der “modernen elektronischen bzw. digitalen Kommunikation” geprägt.

  4. Lieber Markus,
    zum einen habe ich, wie Du weißt, in o.g. Punkt die aktuelle Berichterstattung gemeint und dies inzwischen (dank Deines Hinweises) auch im Artikel genannt.
    Zum anderen habe ich in diesem Beitrag in den Kernaussagen nicht darauf avisiert, alle Möglichkeiten und Aktivitäten, in denen Wissenschaftler von Anbeginn an kommunizieren aufzulisten. Auch soll diese keine Liste aller neuen und alten Formen wie Citizen Science, Science Slams etc. werden – dafür gibt es im Text extra den Link zur sich im weiteren Aufbau befindlichen Formate-Datenbank http://www.wissenschaftskommunikation.de/formate/ , die im Übrigen sicher noch um die Klassiker “Vortrag” oder “Sachbuch” oder “Kommentar”…. ergänzt wird. Die Datenbank befindet sich noch im Aufbau.
    Ich habe nicht behauptet, dass Wissenschaftler sich in solchen Formaten nur bewegen, weil die ÖAs das wollen. Das sagt das kleine Wort “meist” – “Zu diesen Dialogformaten werden Forscherinnen und Forscher meist von ihren jeweiligen instituts- oder universitätseigenen Presse- und Öffentlichkeitsabteilungen eingeladen und aufgefordert”. Und dieser Satz steht auch nur in Bezug auf die vorher genannten Formate („zu DIESEN Dialogformaten“), bei denen es in der Tat meist die Idee der ÖAs ist, eine solche Veranstaltung auf die Beine zu stellen und die dann Wissenschaftler suchen, die mitmachen.
    Ich habe in diesem Sinne kein Märchen erzählt, und auch in keiner Weise ausgeschlossen, dass es viele viele weitere Formate und Formen gibt und schon immer gab, mittels derer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommunizieren.

    In dieser Thematik liegt nicht der Fokus des Artikels. Der Fokus liegt insbesondere bei den Verschiebungen, die es in diesem Bereich gibt. Diese Verschiebungen kommen durchaus erst seit wenigen Jahrzehnten vermehrt zustande.
    Etwa in Folge der PUSH-Bewegung – die zu einer Erweiterung der vielen Dialogformate sowie einer deutlich stärker betriebenen Wissenschaftskommunikation von Seiten der Institute und Hochschulen geführt hat.
    Und eine Verschiebung etwa in Folge der Digitalisierung. Die nicht zu leugnen ist. Wir diskutieren hier auch gerade digital.

    Dass ich selbstverständlich die Wissenschaftler wirklich nicht auf irgendwelche Dinge reduziere, sollte klar sein. Anscheinend habe ich aber ohne es zu ahnen, etwas weggelassen, dass Dir sehr wichtig ist. Mir auch. Nur ich muss dies nicht in jedem Beitrag immer wieder schreiben.
    http://science.sciencemag.org/content/342/6154/49/tab-article-info

    In diesem Sinne – nix für ungut.

    • Liebe Beatrice,
      ich bin halt ganz nach deinem Text gegangen. Der schließt in seinem Titel, seinem Untertitel und seiner Einleitung das Thema ganz weit auf – ohne Einschränkung, sondern den dortigen Aussagen nach erst einmal mit dem Anspruch zu beschreiben, wie Wissenschaftler ganz allgemein kommunizieren.

      Und an dieser allgemeinen Stelle kommt das Neue ins Spiel, bzw. die Frage, was an der Kommunikation neu ist. Und es fällt dazu gleich der Satz “Dazu nutzen sie eigentlich nur die heutigen vielfältigen medialen Möglichkeiten”. Das ist nach Aufspannen des allgemeinen Anspruchs schon eine ziemliche Einschränkung.

      Natürlich musst du nicht alle Formate und Möglichkeiten auflisten. (Obwohl ich mich in der Tat gewundert hatte, welche zum Teil recht speziellen Formate in der jetzigen Version eurer Liste aufgeführt werden und welche allgemeinen Formate fehlen – dazu später gerne noch mehr Input.) Aber die Schilderunge mit solch einem Satz dermaßen einzuschränken, ist schon eine recht explizite Aussage. Und die wird dem Thema und dem was Wissenschaftler in der Vergangenheit gemacht haben schlicht nicht gerecht.

      Dass es “bei DIESEN Dialogformaten”, auf die ich mich im obigen Text übrigens ja durchaus auch direkt beziehe, “meist die Idee der ÖAs ist, eine solche Veranstaltung auf die Beine zu stellen und die dann Wissenschaftler suchen, die mitmachen”, bezweifle ich. Wo sind die Belege? Wie oben geschrieben: bei Citizen Science und bei meiner Google-Stichprobe nach Science Cafes ist es anders.

      Wenn dein Fokus auf den Verschiebungen liegt, ist das schön und gut, aber das kann und sollte man dann doch z.B. im Titel und im Untertitel ausdrücken!

      Dass die Einschränkung auf “aktuelle Berichterstattung” die Aussage nicht wesentlich wahrer macht, hatte ich ja inzwischen auch unter deinem Text kommentiert. Die Zeitskalen der Wissenschaft sind nun einmal so, dass auch ein Text in den letzten Heften von Spektrum der Wissenschaft aktuelle Berichterstattung ist, samt Beschreibung neuer Erkenntnisse und Einordnung. Und das gab es, wie gesagt, vor den neuen Medien schon.

      Insofern: Ich glaube dir gerne, dass du den Fokus auf die Veränderungen legen wolltest, dass du bei der Wissenschaftskommunikation nichts kleinreden wolltest etc. – aber wenn ich nicht nach deinen Meta-Aussagen sondern konkret nach deinem Text gehe, dann liest sich dein Text auch mit deinen Kommentaren im Hinterkopf anders. Und zwar in einer Weise (Titel, Untertitel, Anspruch, Formulierungen) bei der ich als durchaus ja auch nicht textunerfahrener Mensch zu dem Schluss komme: das dürfte den meisten Lesern ähnlich gehen.