Klimawandel-Wahlempfehlung 6: weil es um eine Änderungsrate geht

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… aber nicht einfacher
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Willkommen bei Teil 6 meiner kleinen Serie “Klimakrisen-Wahlempfehlung” – einem persönlich geprägten Blick auf die Physik der Klimakrise, motiviert durch meine Sorgen darüber, dass weite Teile der deutschen Politik- und Medienlandschaft die Klimakrise nicht ernst genug nehmen. Die Serie ist im Endspurt – morgen ist Bundestagswahl!

Im heutigen Teil soll es um einen wichtigen Aspekt des Klimawandels gehen, der in der öffentlichen Diskussion und bei Überlegungen zu den Kosten z.B. der Energiewende gelegentlich verlorengeht. Es geht letztlich um den Unterschied zwischen einer Änderungsrate und einem veränderten Zustand. Ich finde an dieser Stelle das Bild der Badewanne hilfreich, hier bereits mit den (wenn auch auf Englisch) analog beschrifteten Größen:

Badewanne, die mit Wasser gefüllt wird und im ungünstigsten Falle überfließt.

Die Emissionsrate ist, wie das Wort bereits sagt, eine Rate, also ein Zuwachs oder eine Abnahme pro Zeiteinheit. Wir verfrachten derzeit kontinuierlich neues CO2, neues Methan und weitere Treibhausgase in die Atmosphäre, analog dazu, wie ein geöffneter Badewannen-Wasserhahn kontinuierlich mehr Wasser in die Wanne befördert.  Ähnlich wie eine herkömmliche Badewanne einen Überlauf besitzt, hat auch das Klimasystem Mechanismen, die zusätzliches CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernen können. Das Problem hierbei sind allerdings die Zeitskalen. Im Gegensatz zum Badewannen-Überlauf, der mit Bedacht so dimensioniert ist, dass ein Überlaufen verhindert wird, sprich: der mehr abführen kann als der Wasserhahn selbst auf höchster Stufe in die Wanne fließen lassen kann, liegt die natürliche Rate für den CO2-Ablauf deutlich niedriger als die Rate, mit der wir der Atmosphäre derzeit zusätzliches CO2 zuführen. Entsprechende Rekonstruktionen schätzen, dass es einige Jahrhunderte bis Jahrtausende dauert, bis die ersten 80% der zusätzlichen CO2-Menge in natürlicher Weise “abgeflossen” wären. (Für die ersten 10% sind die Zeitskalen offenbar deutlich schneller, immerhin.)

CO2-Schulden aufnehmen für zukünftige Generationen

Sprich: Mit dem “Wasserstand”, den wir heute herbeiführen, werden wir anschließend zumindest beim CO2 auf absehbare Zeit leben müssen. Da dieser “Wasserstand” nun aber bestimmt, wie hoch die mittlere Temperatur an der Erdoberfläche, vulgo Erderwärmung, zukünftig liegen wird, gilt: Wenn wir weitere Erwärmung stoppen wollen, müssen die zusätzlichen CO2-Emissionen auf Null sinken. Solange wir nicht auf Null sind, geht die Erwärmung weiter, mit allen negativen Folgen. Das ist selbst Vielen, die sich im Prinzip um die Klimakrise sorgen, nicht klar, wie diese Umfrage aus einer Vorlesung von Sebastian Seiffert (Uni Mainz) zeigt:

Umfrage in einer Vorlesung von Sebastian Seiffert, hier die Ergebnisfolie: Lediglich 60% antworten korrekterweise, dass wir unsere (anthropogenen) Emissionen auf Null senken müssen, wenn wir dauerhaft das Niveau von 1,5 Grad Celsius Erderwärmung halten wollen.

Bei jener Umfrage gaben nur knapp 60% der Studierenden die richtige Antwort, und das ist die richtige Antwort, wenn man irgendein festes Niveau an Erwärmung halten will: Dann müssen die menschlichen Treibhausgas-Emissionen auf Null. Und selbst wenn wir auf Null sind, bleiben uns die Folgen der bereits herbeigeführten Erwärmung lange erhalten.

Mit Änderungsraten richtig umgehen

Das hat mehrere Konsequenzen. Erstens ist es irreführend, zu sagen “Emissionen zu reduzieren ist zu teuer, wir sollten uns stattdessen mit der Erderwärmung arrangieren und in Anpassungsmaßnahmen investieren.” Solange wir die Emissionen nicht reduzieren, steigt die Erderwärmung immer weiter an. Es wäre also gar nicht mit den bereits jetzt nötigen Anpassungsmaßnahmen getan. Sondern es müsste mit der Anpassung immer weiter und weiter gehen. Ab einem bestimmten Grad an Erwärmung würden wir uns in Regionen befinden, von denen die besten derzeit verfügbaren Rechnungen sagen, dass eine Anpassung unsere technischen Möglichkeiten übersteigen würde, und in einer Situation, in der beträchtliche Teile der Erde so heiße Temperaturen aufweisen, dass Menschen dort nicht mehr ohne erheblichen technischen Aufwand überleben können – ich hatte im Teil 2 zu der Temperatur-Obergrenze für menschliches Überleben etwas dazu geschrieben. 

Im Gegensatz dazu sind Kosten, die wir jetzt z.B. für die Transformation hin zu einem CO2-emissionsfreien Energiesystem aufwenden, Investitionen, nämlich Ausgaben, die uns, sind sie einmal getätigt, in allen darauffolgenden Jahren Nutzen bringen. Je schneller die Transformation, umso geringer die Erderwärmung insgesamt, umso weniger hoch die regelmäßigen Folgekosten. Die verschiedenen Zeitskalen machen dabei einen gehörigen Unterschied. Wenn eine Investition von einmalig einer Million mir jährliche Folgekosten von 100.000 erspart, dann ist das auf 50 Jahre gerechnet – also durchaus etwas, das heutige Kinder hoffentlich direkt erleben werden – eine Einsparung von rund 5 Millionen (in der Realität allerdings durch Inflationseffekte etwas abgeschwächt).

“Kaufen ist billiger als mieten”

Insofern gilt, durchaus auch aus ökonomischen Gründen: Wir müssen jetzt wirklich alles irgend mögliche tun, um die CO2-Emissionen (und auch die weiteren Treibhausgas-Emissionen) auf Null zu bekommen. Bei der Badewanne wäre das für vermutlich alle von uns gesunder Menschenverstand:  Wenn die Wanne bereits (z.B. mit irgendwo tief im Rohr verstopftem Überlauf) am Überlaufen ist, dann drehen wir zu allererst den laufenden Wasserhahn zu. Was denn sonst?

Entsprechend ende ich wieder auf demselben Refrain, nämlich dass ich nur jedem/jeder raten kann, das Thema Klimaschutz bei der anstehenden Wahlentscheidung zur Bundestagswahl mit angemessenem Gewicht zu berücksichtigen. Ich sehe insbesondere angesichts der Zeitskalen jeden und jede von uns in der Verantwortung, so zu wählen, dass wir der Klimakrise so entschieden wie möglich begegnen. Sprich: Von der Wahl von Parteien, die die Klimakrise als Ganzes leugnen, aber auch von Parteien, die sich bei eigener Regierungsbeteiligung oder von den öffentlichen Aussagen her als Klimakrisen-Abwiegler und/oder Klimaschutz-Verzögerer hervorgetan haben, rate ich dringend ab. (Tipp: Es ist durchaus aufschlussreich, sich anzuschauen, welche prominenten Parteimitglieder sich wie über die Klimakrise äußern. Wenn jemand sich fast nur zum Thema äußert,  um ein langsameres Tempo anzumahnen, nimmt der oder die die Klimakrise meiner Einschätzung nach nicht ernst genug.)

Themenübersicht

Ich habe mir für diese Serie die folgenden Themen überlegt, die ich in lockerer Folge besprechen will:

Die Themenauswahl spiegelt wieder, was ich selbst für mein Verständnis der Klimakrise für entscheidend halte – und damit für den Umstand, dass ich die Klimakrise als extrem dringend einstufe. Dass die Themen physik-basiert sind, ergibt sich aus meinem persönlichen Hintergrund. Ich nähere mich dem Thema eben von der Physik her.

Damit die Diskussion in den Kommentaren nicht ins unübersichtlch-unkonstruktive abgleitet, die bei mir bei potenziell kontroversen Themen üblichen Regeln: keine Beleidigungen oder beleidigende Unterstellungen/Pauschalisierungen; bitte nur Beiträge mit direktem Bezug zum Inhalt des Blogbeitrags (kein allgemeines Forum); bitte respektieren Sie die Lesezeit der Mitlesenden und fassen Sie sich so kurz wie möglich; bitte keine Tatsachenbehauptungen ohne entsprechende Quelle bzw. entsprechendes Link. Beiträge, die sich nicht an die Regeln halten, schalte ich ggf. gar nicht erst frei.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

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