Klimakrisen-Wahlempfehlung 7: Weil wir mit Klima-Kipp-Punkten kein Roulette spielen sollten
BLOG: RELATIV EINFACH

Willkommen bei Teil 7 meiner kleinen Serie “Klimakrisen-Wahlempfehlung” – einem persönlich geprägten Blick auf die Physik der Klimakrise, motiviert durch meine Sorgen darüber, dass weite Teile der deutschen Politik- und Medienlandschaft die Klimakrise nicht ernst genug nehmen. Die Serie ist im Endspurt – morgen ist Bundestagswahl!
Oszillatoren, überall Oszillatoren!
Es gibt einen Spruch, den vermutlich jede*r, der oder die Physik studiert, im Laufe des Studiums mindestens einmal hört: 80% des Faches sei die Physik des harmonischen Oszillators. Nun gut, die genaue Prozentzahl dürfte ein Fantasiewert sein, aber tatsächlich ist der harmonische Oszillator, anders gesagt: ein System, das umso stärker in Richtung eines Gleichgewichtszustands zurückgezogen wird, je weiter es sich von jenem Gleichgewichtszustand entfernt, in der Tat so etwas wie eine physikalische eierlegende Wollmilchsau.
In der Mechanik kommt der harmonische Oszillator bereits ziemlich zu Anfang vor, als Näherungsbeschreibung für Fadenpendel oder Federpendel. Beim Fadenpendel ist die Gleichgewichtslage jene, in der das Pendel senkrecht nach unten hängt, und die Rückstellkraft bei Auslenkung des Pendels ergibt sich aus der Gravitationskraft, die den Pendelkörper senkrecht nach unten zieht. Derjenige Anteil jener Kraft nämlich, der nicht durch die Spannung des Fadens ausgeglichen wird, welcher das Pendel hält, zieht den Pendelkörper in Richtung der Gleichgewichtslage zurück.
Schwingungen in der Potentialmulde
Die Situation lässt sich dabei über die potentielle Energie des Pendels beschreiben. Das ist jene Energie, die das Pendel alleine aufgrund seiner Lage besitzt. Beim Federpendel ist es die Energie, die investiert werden muss, um die Feder gegen ihren Widerstand von der Nullage aus zu strecken oder zu stauchen. Beim Fadenpendel ist es die Energie, die man aufwenden muss, um das Pendel beim Auslenken gegen die Schwerkraft anzuheben. In beiden Fällen ist die potentielle Energie in erster Näherung quadratisch in der Auslenkung, und die Potentialkurve ist entsprechend die einfachste denkbare Parabel, eine rein quadratische Kurve:

Die Kurve hat ein eindeutiges Minimum. Dort kann das System sich stabil in Ruhe befinden. Lenkt man das System vom Minimumswert aus etwas aus, kommt es zu Schwingungen rund um das Minimum herum. Man kann sich das veranschaulichen, indem man sich die Potentialkurve als Profil einer Murmelbahn vorstellt und eine Murmel bzw. einen Ball darauf entlang laufen lässt. (Das funktioniert, weil die potentielle Energie aufgrund der Gravitation in Erdnähe gerade zur Höhe über dem Erdboden proportional ist – deswegen folgt die potentielle Energie einer Kugel auf solch einer Murmelbahn-Kurve tatsächlich genau der eingezeichneten Kurve.) Hier ist das skizziert:
Für solch eine Situation dürften die meisten von uns durchaus eine recht gute Intuition besitzen: Wenn wir den Ball direkt an den tiefsten Punkt der Bahn legen, wird er sich von dort nicht wegbewegen. Legen wir ihn dagegen, wie in der Abbildung gezeigt, an die Steigung daneben, dann wird der Ball hinunterrollen. Was wir aus eigener Erfahrung ebenfalls wissen: Der Ball wird in jener Situation beim Herunterrollen nicht abrupt am tiefsten Punkt stoppen, sondern erst einmal darüber hinausrollen, dann wieder zurück bis auf ungefähr dieselbe Höhe, und so weiter. An dieser Stelle reproduziert unsere Alltagsvorstellung also durchaus den Umstand, dass ein Potential dieser Art bei etwas Auslenkung zu einer (weitgehend) periodischen Schwingung führt. Was im Alltag immer dabei sind, bei den einfachsten physikalischen Systemen aber vernachlässigt wird, sind Reibungseffekte. Unsere Alltags-Kugel wird bei jedem Hin-und-Her ein bisschen weniger hoch entlang der Potentialmulde nach oben rollen, und am Ende kommt sie am Tiefpunkt zur Ruhe. Das liegt daran, dass die Kugel durch Reibungseffekte fortlaufend etwas an Energie verloren (genauer: letztlich als Wärme an die Umgebung abgegeben) hat.
Potentialkurve mit Kipp-Punkt
Näherungsweise kann man eine Reihe von physikalische Systemen beschreiben, indem man angibt, welche Energie mit bestimmten ihrer Lagen, also allgemeiner: mit dem Wert einer wie auch immer gearteten Zustandsvariablen x verbunden ist. Und näherungsweise haben stabile Ruhelagen in jener Energielandschaft zumindest im Kleinen und in guter Näherung die Form einer kleinen quadratische-Kurve-Mulde. Das wiederum liegt daran, dass sich jede Kurve lokal mit Hilfe einer so genannten Taylor-Entwicklung durch ein Polynom annähern lässt. An einem Energie-Minimum gibt es keinen linearen Trend – denn dann wäre jener Punkt kein Minimum –, und der einfachste nicht-verschwindende Summand ist nunmal der quadratische Term. Quadratische-Kurve-Energieminima und die sich daraus ergebenden näherungsweise harmonischen Schwingungen sind deswegen in der Physik in der Tat sehr häufig, siehe meine Anekdote am Anfang.
Als nächstes kann man sich überlegen, wie im allgemeinen Fall jenseits solch eines lokalen Minimums, eines lokalen Gleichgewichtszustand aussehen könnte. Eine Möglichkeit ist hier skizziert:

Auch diesen Fall kann man mit der Murmelbahn-Intuition verstehen. Solange der Ball nicht allzuweit aus der Gleichgewichtslage G ausgelenkt wird, gibt es keinen grundlegenden Unterschied zur quadratischen Potentialkurve: es kommt zu einer Schwingung, und wenn Reibung im Spiel ist, kommt der Ball nach einiger Zeit am Punkt G zur Ruhe. Das ändert sich allerdings genau dann, wenn der Ball von links kommend den “Kipp-Punkt” K überquert. K ist ein Maximum, und das bedeutet: Sowohl links als auch rechts von K geht es weiter nach unten. Links von K wird unser Ball deswegen nach links beschleunigt, rechts von K aber nach rechts. Überquert der Ball von links kommend den Punkt K, geht es anschließend daher nicht mehr in Richtung G zurück, sondern zumindest in jenem Ausschnitt, den das Diagramm zeigt, immer weiter nach rechts.
Genauso gilt: Kleine Schwingungen rund um die Gleichgewichtslage G bleiben Schwingungen, bei denen der Ball immer wieder zu G zurückkehrt. Zumindest lokal um G herum ist das betrachtete System damit stabil. Wird der Ball dagegen zu größeren und größeren Schwingungen angeregt, ist es mit der Stabilität vorbei, nämlich genau dann, wenn das Ausschwingen nach rechts den Ball über K hinausführt.
Dass es im Falle des Klimas und bei der Definition allgemein gehörige Kontroversen um Kipp-Punkte gibt, hat Mai Thi Nguyen-Kim in diesem Video gewohnt souverän herausgearbeitet (sogar mit einem sehr ähnlichen Ball-Beispiel wie oben, wie ich gerade sehe):
Und auch das, was Nguyen-Kim gegen Ende des Videos sagt, kann ich nur unterschreiben. Verantwortungsvoller Umgang mit Kipp-Punkten ist es, vorsichtig zu sein. Besonders vorsichtig in Fällen wie jenen, um die es hier geht: Wo wir das, was eine Reihe der Kipp-Punkte verändern würden, auch mit noch so großer gesamtmenschlicher Anstrengung nicht rückgängig machen könnten. Denn wie schon gesagt: Wer Situationen in Kauf nimmt, deren negative Folgen weit jenseits dessen liegen, was er oder sie oder im schlimmsten Falle eben wir alle wieder in Ordnung bringen könnten, der handelt in gefährlicher Weise unverantwortlich. Ein konkretes Beispiel für einen mögliche Kipp-Punkt gibt es nebenan in der KlimaLounge bei Stefan Rahmstorf: die AMOC, also die Atlantic Meridional Overturning Circulation, die derzeit dafür sorgt, dass wir in Europa ein deutlich milderes Klima haben als bei vergleichbarer geografischer Breite in Kanada – und die sich offenbar abschwächt, und im schlimmsten Falle ganz verschwinden könnte.
Kipp-Punkte sind ein weiterer Risikofaktor, ein weiterer Grund, warum es wichtig ist, dass wir mit dem Klimawandel verantwortlich umgehen, sprich: unseren künstlichen CO2-Ausstoß so rasch wie möglich auf Null bringen. Entsprechend ende ich wieder auf demselben Refrain, nämlich dass ich nur jedem/jeder raten kann, das Thema Klimaschutz bei der morgigen Wahlentscheidung zur Bundestagswahl mit angemessenem Gewicht zu berücksichtigen. Ich sehe insbesondere angesichts der Zeitskalen jeden und jede von uns in der Verantwortung, so zu wählen, dass wir der Klimakrise so entschieden wie möglich begegnen. Sprich: Von der Wahl von Parteien, die die Klimakrise als Ganzes leugnen, aber auch von Parteien, die sich bei eigener Regierungsbeteiligung oder von den öffentlichen Aussagen her als Klimakrisen-Abwiegler und/oder Klimaschutz-Verzögerer hervorgetan haben, rate ich dringend ab. (Tipp: Es ist durchaus aufschlussreich, sich anzuschauen, welche prominenten Parteimitglieder sich wie über die Klimakrise äußern. Wenn jemand sich fast nur zum Thema äußert, um ein langsameres Tempo anzumahnen, nimmt der oder die die Klimakrise meiner Einschätzung nach nicht ernst genug.)
Themenübersicht
Ich habe mir für diese Serie die folgenden Themen überlegt, die ich in lockerer Folge bespreche:
- Physikalische Intuition statt magischer Erzählungen
- Energie-Größenordnungen
- Menschen-Temperaturen
- Hebelwirkungen für Strahlungsflüsse
- Physikalische Grundlagen: Treibhauseffekt ohne Simulationen
- Änderungsraten und Zustandsgrößen
- Erwärmung und Kipp-Punkte (dieser Beitrag hier)
- Risiken und der Umgang mit Unsicherheiten
Die Themenauswahl spiegelt wieder, was ich selbst für mein Verständnis der Klimakrise für entscheidend halte – und damit für den Umstand, dass ich die Klimakrise als extrem dringend einstufe. Dass die Themen physik-basiert sind, ergibt sich aus meinem persönlichen Hintergrund. Ich nähere mich dem Thema eben von der Physik her.
Damit die Diskussion in den Kommentaren nicht ins unübersichtlch-unkonstruktive abgleitet, die bei mir bei potenziell kontroversen Themen üblichen Regeln: keine Beleidigungen oder beleidigende Unterstellungen/Pauschalisierungen; bitte nur Beiträge mit direktem Bezug zum Inhalt des Blogbeitrags (kein allgemeines Forum); bitte respektieren Sie die Lesezeit der Mitlesenden und fassen Sie sich so kurz wie möglich; bitte keine Tatsachenbehauptungen ohne entsprechende Quelle bzw. entsprechendes Link. Beiträge, die sich nicht an die Regeln halten, schalte ich ggf. gar nicht erst frei.
Herr Pössel, ich hätte eine Frage zur Problematik “Kipppunkte”.
Bei 19:30 folgende sagt Mojib Latif dass die Sache mit den Klimakipppunkten sei “höchst umstritten in der Wissenschaft”.
http://www.youtube.com/watch?v=1NJz5f6V9S0&t=1189s
Mir als Laien scheint das mit den Kipppunkten sehr plausibel. Ich kann aber nur den Aussagen für die Öffentlichkeit folgen, z.B. von Stefan Rahmstorf und Johan Rockström, ich habe keinen Einblick in die interne, wissenschaftliche Diskussion. Was halten Sie von der Bewertung von Latif?
Ich finde es wenig hilfreich, wenn sich Klimatologen in der Öffentlichkeit so widersprüchlich zeigen, das erzeugt Misstrauen und Missverständnisse. Angesichts des Schadens durch einen z.B. AMOC-Kollaps sollte man die Wahrscheinlichkeit m.E. soweit wie möglich minimieren (wie Rahmstorf auch zu Recht anmerkt).
Dass Systeme im Prinzip Kipp-Punkte haben können ist soweit ich sehen kann unumstritten, und mögliche Kipp-Punkte beim Klima-Wandel wurden ja schon eine Reihe identifiziert. Unsicher und entsprechend in der Community umstritten ist, wo (z.B. bei welcher CO2-Konzentration) die Kipp-Punkte liegen. Deswegen stelle ich bei meiner Diskussion den Vorsichts-Aspekt in den Mittelpunkt. Entsprechend dem, was Latif neulich an anderer Stelle gesagt hat: “Es ist so, wie wenn Sie im dichten Nebel auf der Autobahn fahren und irgendwo vor Ihnen ein Stau liegt, von dem Sie das Ende nicht kennen. Dann rasen Sie doch auch nicht einfach drauf los, als g[ä]be es kein Morgen.” Ähnlich formuliert ja auch der Global Tipping Points Report 2023 seine Schlüssel-Botschaften im Konjunktiv und als Risiko.
@ Paul Stefan
@ Markus Pössel
Zitat: „Ich finde es wenig hilfreich, wenn sich Klimatologen in der Öffentlichkeit so widersprüchlich zeigen, das erzeugt Misstrauen und Missverständnisse.“
Genau das ist das Problem, das Herr Pössel und auch Herr Latif besten erkannt haben.
Die „Gleichschaltung“ erzeugt erst Misstrauen. Es gibt, besonders in komplexen Systemen, immer wieder besondere Effekte und Paradoxien die auf das reale Geschehen einwirken. Das sollte man nicht verschweigen, sondern ganz nüchtern und objektiv sehen.
Die Menschen können (müssen) durchaus mit der Realität leben.
Kippeffekte sind z.B. höchst bedeutend in der digitalen Elektronik, in meinem früheren Job. Fast immer kippen die Schaltungen „planmäßig“, leider nur „fast immer“. Sie “kippen“ mitunter sozusagen nicht, sondern gerate in einen instabilen „Zwischenzustand“. Die Ursachen sind in der Elektronik weitgehend bekannt und die Elektroniker bzw. die Anwender müssen damit leben, dass sich gelegentlich die „Elektronik aufhängt“.
Da gibt es die berühmte „Stecker heraus, bis 10 zählen, Stecker hinein und abwarten bis die Elektronik hochfährt“ Regel…. Meistens reicht das. Für andere Fälle haben die Techniker ebenfalls Lösungen entwickelt.
Es besteht die Gefahr, dass zuerst die hohen Kosten für die Abwendung der Klimagefahr die Gesellschaft ruinieren und später zusätzlich weitere hohe Kosten und Maßnahmen anfallen um mit den Hitzeproblemen und den Unwettern fertig zu werden…
Die Häuser müssen z.B. eng nebeneinander gebaut werden, man muss unter die Erde gehen und die „kühlere Nacht“ zum Tag machen…..
“Gleichschaltung” vs “so widersprüchlich”: Ich finde beide Begriffe sind übertrieben. Was an Erkenntnissen gesichert ist sollte man als gesichert präsentieren (wo irgend möglich mit Hintergrundinformationen, die erklären, wie/warum). Worüber sich noch kein Konsens herausgebildet hat oder was unsicher ist, sollte man als unsicher kommunizieren. Und das Gesamtbild sollte man dann richtig einordnen (sprich: was bedeuten die gesicherten und noch unsicheren Erkenntnisse im Hinblick auf z.B. politische Entscheidungen).
Zu den Kosten: Bei “die Menschheit muss in den Untergrund gehen” sind wir noch lange nicht. Bleiben wir doch bei dem, von dem wir wissen, dass es nötig ist. Da sind die Kosten insbesondere Investitionskosten – wir müssen sie tätigen, haben davon aber auch bleibende Werte (Infrastruktur). Und das Geld wird ja auch nicht im Wortsinne verbrannt – je mehr der benötigten Industrien/Services wir im Lande behalten, umso besser. Und wenn wir das ernst meinen mit den guten deutschen Ingenieuren, dann bekommen wir über den Export klimafreundlicher Technologien ggf. noch Geld ins Land.
Dieser hier verlinkte Artikel in “nature climate change”, verfasst von 10 Wissenschaftlern und mit dem Titel “Tipping points’ confuse and can distract from urgent climate action” wurde kürzlich veröffentlicht.
Folgener Satz im abstract fiel mir besonders auf:
“Multiple social scientific frameworks suggest that the deep uncertainty and perceived abstractness of climate tipping points render them ineffective for triggering action and setting governance goals.
Hm. Der Artikel bleibt ironischerweise selbst in weiten Teilen auf einer abstrakten Ebene mit eher vagen Aussagen. Ob man es nun Kipp-Punkt oder anders nennt: die Erkenntnis, dass stabile Systeme üblicherweise nur in einem begrenzten Regime stabil sind, und bei zu starker Auslenkung eine andere Dynamik einsetzen und das System grundlegend verändern kann, finde ich in diesem Zusammenhang durchaus wichtig. Dieser Umstand kommt mir bei dem Artikel nicht recht heraus. Zu dem, was ich in meiner Blogartikel-Reihe versucht habe, nämlich Querverbindungen zur grundlegenden Physik herauszuarbeiten, gehört diese Information dazu. In dem Kontext, in dem Kipp-Punkte auch in dem Mojib Latif-Zitat in meinem Teil 8 angesprochen werden, sollte ja auch klarwerden, dass die Unsicherheit bei den Kipp-Punkten als Grund zu besonderer Vorsicht angeführt werden kann – das ist ja auch das, was die Autor*innen des Artikels fordern. Ansonsten respektiere ich natürlich, dass systematische Kommunikation sich taktische Überlegungen zur Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit oder sogar Kontraproduktivität bestimmter Botschaften macht. So sehe ich meine eigene Rolle hier aber nicht (und dafür hat dieses Blog letztlich ja auch eine viel zu kleine Reichweite). Für mein Blog ist meine eigene Perspektive wichtig, und die ist halt wie in dem obigen Text umgesetzt.