Hanns Ruder (1939-2015)

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… aber nicht einfacher
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Als ich gestern nachmittag durch die Tübinger Innenstadt gegangen bin, schien mir einiges seltsam vertraut, und das, obwohl ich gar nicht so oft in Tübingen gewesen bin. Allerdings erwartete ich fast, dass sich die Häusergipfel von mir weg biegen und die seitlichen Fassaden bogenförmig an mir vorbeirauschen. Denn das war vermutlich Hanns Ruders berühmteste Kreation: Der relativistische Simulator, komplett mit feststehendem Fahrrad, der einem zeigt, wie eine Fahrradfahrt durch Tübingen aussähe, wenn die Lichtgeschwindigkeit nur 30 km/h betrüge. Auf der Webseite Tempolimit Lichtgeschwindigkeit gibt es dazu entsprechende Bilder und Filme, aber es ist natürlich noch etwas ganz anderes, das selbst mit dem Fahrrad nachzumachen.

Ich habe versucht, zu rekonstruieren, wann ich Hanns das erste Mal getroffen habe – ich meine, es sei noch deutlich vor 2005 in meinem alten Institut gewesen, dem Albert-Einstein-Institut (Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik) in Potsdam. Aber das mag täuschen; mag sein, dass die Visualisierungen seiner Gruppe, vom Einstein-Fahrrad bis zur Touchscreen-Gravitationslinse mit Schwarzem Loch, mir bis Herbst 2005 einfach nur schon so oft begegnet waren, dass sich das in meiner Erinnerung mit einem persönlichen Treffen vermischt. Wenn letzteres der Fall ist, dann könnte das folgende Foto mein erster direkter Blick auf Hanns gewesen sein:

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Das ist am 26. September 2005 in Jena, in der Goethe-Gallerie (einem dortigen Einkaufszentrum). Hanns ist rechts unten am Tisch im Rollstuhl zu sehen, und die diversen Gerätschaften zeigen bereits, dass das kein gewöhnlicher Vortrag mit Powerpoint war. Stattdessen hatte Hanns Rechenpower mitgebracht, mit denen er seine relativistischen Reisen live und interaktiv vorführen konnte. Und die Vorträge waren alles andere als anspruchslos: Da kamen durchaus mal die Formeln der Lorentztransformation vor oder das Verständnis relativistischer Aberration. Und doch schaffte es Hanns, sein Publikum bei solchen Gelegenheiten mitzunehmen.

Sagte ich mitnehmen? Ich meinte “mitreißen”. Die sichtbare Begeisterung für das, was er da tat, war vermutlich eine der typischsten Eigenschaften von Hanns. So gut wie immer, wenn ich in den nachfolgenden Jahren mit ihm ins Gespräch kam – meist, weil wir uns auf der einen oder anderen Veranstaltung trafen – hatte er irgendetwas Interessantes zu erzählen, irgendeine Facette der Relativitätstheorien oder der Möglichkeit, sie verständlich zu erklären, die ihm jüngst gerade klar geworden war, und die er dann mit Begeisterung weitererzählte. Klingen “mit leuchtenden Augen” oder “mit kindlicher Freude” zu sehr nach Klischee? So etwas war es aber. Den entsprechenden Tonfall von Hanns habe ich jetzt noch im Ohr.

Ein Kollege von Hanns sprach gestern beim Nachruf während der Trauerfeier den Optimismus als zweite typische Eigenschaft von Hanns an. In Krisenmomenten, wenn man gerade nicht so von der Machbarkeit des eigenen Vorhabens überzeugt gewesen sei, hätte man nur zu Hanns ins Büro gehen müssen; anschließend wäre man dann selbst wieder optimistisch und überzeugt gewesen, das schon schaffen zu können.

Optimismus ist die eine Sache. Aber der praktische Nachweis liegt darin, Projekte nicht nur optimistisch für machbar zu halten, sondern auch durchzuziehen. Das war vermutlich die beeindruckendste Seite von Hanns. Manchmal kommt es mir so vor, als bestünde der Unterschied darin: Normale Menschen haben immer einmal wieder Ideen der Art “ah, interessant, das könnte klappen, das könnte man bei Gelegenheit mal verfolgen, wenn Zeit dafür ist”. Wenn Hanns eine solche Idee hatte, machte er sich ans Rechnen und Programmieren, begeisterte noch weitere Mitstreiter, gründete vielleicht sogar schnell noch eine Firma, und dann war die Idee umgesetzt.

Klingt übertrieben? Ist vielleicht ein wenig zugespitzt, aber nahe an der Wahrheit. Unscharfe Bilder? Könnte man da nicht die optischen Eigenschaften einer Linse modellieren und die Bilder zurückrechnen? Siehe die Software “piccure” der Ausgründung Intelligent Image Solutions. Anwendungen für wissenschaftliches Rechnen, Modellierungen in der Biomechanik, Farb-Hilfestellungen für Blinde – oder, in Firmennamen ausgedrückt: science+computing, 4pi Systeme GmbH, Color Physics GmbH und wie sie alle hießen. Das ganze Ausmaß von Hanns’ unternehmerischen Aktivitäten habe ich auch erst mitbekommen, als er letztes Jahr im großen Stil seinen 75. Geburtstag feierte und seine Mitstreiter Projekt auf Projekt Revue passieren ließen.

Und natürlich das in mehrerlei Hinsicht herausragendste Projekt der letzten Jahre. Hier ein (Werbe-)Film zum derzeit dritthöchsten Gebäude der Welt, dem großen Uhrenturm an der Kaaba in Mekka:

https://www.youtube.com/watch?v=gV0ym0AwDfM

Hinter den überdimensionierten Big-Ben-Uhren befindet sich eine astronomische Ausstellung, für die Ruder die wissenschaftliche Beratung übernahm und auch ganz handfest Ausstellungsstücke konzipierte und herstellen ließ – inklusive eines ultragenauen Mondmodells, das bis ins Detail die dreidimensionale Struktur unseres Trabanten nachbildet. Eine Situation, in der Geld ausnahmsweise einmal wirklich so gut wie keine Rolle spielt, macht in diese Richtung natürlich einiges möglich.

Hier ist noch ein weiteres Foto von Hanns, das ich gerade wiedergefunden habe. Da, links vorne im Bild, ist er am 16. Dezember 2011 bei der Eröffnung des Hauses der Astronomie und dokumentiert das Geschehen:

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In den letzten Jahren hatte ich mit Hanns vor allem wegen der geplanten Einstein-Wanderausstellung (“Einstein inside”) Kontakt, die im November in Berlin eröffnen soll, und außerdem über meine Kollegin Carolin Liefke, die zusammen mit Dominik Elsässer von der Universität Würzburg die Betreuung des von Hanns organisierten 60-cm-Teleskops ROTAT in Südfrankreich übernommen hatte, mit dem Schulgruppen per Internet astronomische Beobachtungen durchführen können.

Wer weiß, was Hanns in den kommenden Jahren noch alles an Projekten eingefallen (und dann eben auch umgesetzt worden wäre) – aber dazu wird es leider nicht mehr kommen. Am 17. Oktober 2015 ist Hanns Ruder nach längerer Krankheit (die ihn längere Zeit aber sehr wenig zu bremsen schien!) in Tübingen gestorben.

Wer dazu beitragen möchte, dass die von Hanns initiierten Projekte weitergehen: Die Familie bat in der Traueranzeige anstelle von Blumen um eine Spende an den Unibund Tübingen, IBAN: DE98 6415 0020 0000 1106 08, Verwendungzweck “Projekte Stiftung Astronomie Ruder 3444”.

 

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

1 Kommentar

  1. Danke für diesen schönen Nachruf, Markus!
    Ich habe Hanns Ruder nur bei drei Vorträgen erlebt und kannte ihn leider nicht näher.
    Es waren populärwissenschaftliche Vorträge, eine Reise durchs Sonnensystem, das Schwarze Loch in Tübingen, teils mit Beziehung zur Science Fiction. Seine Begeisterung für Astrophysik war herrlich ansteckend! Nein, “leuchtende Augen” sind hier keine Platitüde, sondern Fakt.
    Ich bin traurig – gern hätte ich ihn noch einmal erlebt.