Die Gaia-Revolution in der Astronomie

Heute um 12 Uhr mittags war es soweit: der erste richtige Datensatz des Astrometriesatelliten Gaia wurde veröffentlicht. Übrigens auch bei uns im Haus der Astronomie, mit einer feierlichen Zeremonie mit Knopfdruck, welche die Heidelberger Kopie der Datenbank am Astronomischen Rechen-Institut der Universität freischaltete.

Startschuss für Astronomen weltweit

Das Besondere daran: Da wurden keine neuen Resultate veröffentlicht, sondern ein riesiger, sofort allen Astronomen weltweit zugänglicher Datensatz, der bis in so gut wie alle Teilgebiete der Astronomie hineinreicht. Auch die Astronomen, die an der Aufbereitung der Daten beteiligt waren, durften noch keine Wissenschaft damit betreiben.

Insofern war die Gaia-Veröffentlichung wirklich ein Startschuss für astronomische Forschungsgruppen weltweit. Startschuss ist dabei der richtige Ausdruck: Weltweit hatten sich Forscher darauf vorbereitet, was sie im Moment der Datenfreigabe für Auswertungen starten wollten – durchaus im Wettrennen mit konkurrierenden Gruppen, denen die Gaia-Daten in jenem Moment natürlich auch zugänglich sein würden.

Mehrere Gruppen hatten sogar “Trainings-Datensets” zusammengestellt, also simuliert, wie die Gaia-Daten aussehen würden. Mit solchen “Mock catalogues” (hier von meinen Heidelberger Kollegen, hier auf Basis einer kosmologischen Simulation) konnten die gespannten Forscher schon einmal üben. Die meisten dürften nämlich tatsächlich schon vorbereitete Skripte im Computer gehabt haben, welche Auswertungen sie mit den Gaia-Daten vornehmen wollten.

An einigen Orten hatten die Forscher für den heutigen Termin Workshops angesetzt, wo man gemeinsam an den Gaia-Daten forschen würde:

Entsprechend war auch meine Twitter-Timeline, in der ich natürlich viele Astronominnen und Astronomen habe, die letzten Tage komplett auf Gaia geeicht. Gespannte Erwartung. Fotos von vorbereiteten Gaia-Kuchen, Gaia-Keksen, kaltgestelltem Champagner. Irgendein Witzbold hat das dann natürlich auch als Meme ausgedrückt. Gaia DR2 ist der heutige “Data Release 2”, für den viele Astronomen in Versuchung sind, ihre andere Forschung erst einmal zu vernachlässigen:

Einige Kollegen aus Heidelberg waren übrigens gar nicht zu unserer feierlichen Eröffnung gekommen. Mit der Begründung, sie würden stattdessen vor ihren Computern warten und dann gleich zu arbeiten anfangen.

Startschuss für Gaia

Dann war es so weit: Freigabe um 12 Uhr! Damit begann der große Run. Bald kamen die ersten Meldungen von überlasteten Servern und langsamen Ladezeiten.

Und warum das ganze? Das kann man am besten an einigen der Daten begründen, die bei den diversen Gaia-Veranstaltungen (z.B. auch auf der ILA in Berlin) gezeigt wurden. Gaia hat zunächst einmal während der letzten Jahre Sternpositionen von mehr als einer Milliarde Sternen (und auch anderer punktförmiger Quellen) mit nie gekannter Genauigkeit gemessen. Diese Positionen ändern sich über das Jahr hinweg ein wenig, weil die Erde um die Sonne umläuft und dabei die Sterne jeweils von einem etwas anderen Beobachtungsort aus sieht. Daraus, wie stark sich der Standortwechsel bemerkbar macht, kann man die Entfernung des Sterns ableiten – je näher uns ein Stern ist, umso stärker ändert er bei diesem Standortwechsel seine scheinbare Position am Himmel.

Abstandsbestimmungen sind in der Astronomie ganz zentral. Ohne den Abstand zu kennen, kann man ein nahes Objekt, das vergleichsweise wenig Licht aussendet, nicht von einem fernen, sehr leuchtstarken Objekt unterscheiden.

Zusätzlich hat Gaia für 1,38 Milliarden Quellen die Helligkeiten in verschiedenen Farbbändern vermessen und Sternspektren aufgenommen (auch wenn letztere noch nicht veröffentlicht sind). Eine Teilgruppe der Gaia-Daten-Aufbereitungs-Truppe, geleitet von meinem Kollegen Coryn Bailer-Jones am Max-Planck-Institut für Astronomie, hat daraus physikalische Größen für zahlreiche der beobachteten Sterne abgeleitet: für 161 Millionen Sterne die Temperatur, für 77 Millionen den Radius, und für 88 Millionen Sterne die Menge an Staub zwischen uns und jenem Stern, der das Sternenlicht etwas abschwächt.

Keine Aufnahme wie üblich!

Alleine die bildliche Darstellung der Gaia-Daten ist unerhört. Hier ein Beispiel: eine Himmelskarte auf Basis der Gaia-Daten.

Bild: ESA/Gaia/DPAC

Herrgott, könnte man auf den ersten Blick denken, eine Aufnahme unserer Milchstraße halt, in eine geeignete Projektion gebracht. Aber das ist keine übliche Aufnahme in dem Sinne, dass man das Licht wiedergibt, was ein Teleskop aufgenommen hat, bzw. verschiedene solche Aufnahmen zu einem Mosaik zusammensetzt. Hier haben die Astronomen zuerst Informationen – Position, Helligkeit, Farbe – für knapp 1.7 Milliarden Sterne (und andere punktförmige Objekte) genau bestimmt, und dann sozusagen aus den einzelnen Sternen eine Karte unserer Galaxie zusammengesetzt. Keine Aufnahme, sondern eher so etwas wie der simulierte Anblick von mehr als einer Milliarde einzeln vermessener Objekte.

Sterndiagramme

Gaias Daten betreffen alle Bereiche der Astronomie. Das haben eine Reihe von Bildern und Animationen heute bei den Gaia-Präsentationen eindrucksvoll gezeigt. Die hohe Präzision der Gaia-Daten macht vieles möglich, von dem die Astronomen bislang nur träumen konnten.

Ein Beispiel ist das sogenannte Hertzsprung-Russell-Diagramm, bei dem Temperatur und Leuchtkraft von Sternen in einem Diagramm aufgetragen sind. Verschiedene Sterntypen (z.B. rote Riesen oder weiße Zwerge, oder sogenannte Hauptreihensterne wie unsere Sonne) kann man anhand ihrer Stellung in diesem Diagramm unterscheiden.

Bei Gaia geht die Unterscheidung noch viel weiter. Da kann man sogar für variable Sterne, also Sterne, die ihre Helligkeit mit der Zeit verändern, zeigen, wie sich diese Veränderung im Hertzsprung-Russell-Diagramm auswirkt:

In anderen Bereichen des Diagramms treten Unterschiede hervor, die Astronomen zwar erwartet, aber nie so direkt hatten sichtbar machen können. Das gilt insbesondere für jenen Bereich des Diagramms, der Weiße Zwerge zeigt:

Weiße Zwerge im Gaia-HR-Diagramm. Bild: ESA/Gaia/DPAC

Der große rötliche Streifen ist, man sieht es insbesondere links der Bildmitte, in einen oberen und einen unteren Strang geteilt. Das dürfte gerade der Unterschied zwischen Weißen Zwergen sein, die noch viel Wasserstoff enthalten, und Helium-dominierten Weißen Zwergen. Wenn ich den Vortrag heute richtig erinnere, entspricht die unten links schwach sichtbare, im Bereich der dunklen Datenpunkte nach links abgehende Spore evt. sogar der Kohlenstoff-Variante der Weißen Zwerge.

Diese Daten sind für Astronomen, die Sterne oder einzelne Sterntypen erforschen, oder Sternhaufen, oder die Struktur unserer Milchstraße, eine wahre Fundgrube. Dieser Tweet hier zeigt eine schöne Reaktion einer Astronomin: Das entsprechende Diagram für einen Sternhaufen, früher bei sorgfältigem Vorgehen eine Arbeit von Jahren, kommt jetzt, plopp, einfach so aus dem Gaia-Datensatz:

Staubkarte

Ein weiterer Gaia-Schatz ist die Karte von Staub in unserer Milchstraße, ermittelt daraus, wie der Staub das Licht der vermessenen Sterne beeinflusst. Hier ist unsere Pressemitteilung dazu von heute mittag, und hier ist das Bild, mit einigen Regionen herausgehoben:

Zusätzlich gibt es noch eine 3D-Rekonstruktion der Staubverteilung. In solchen Staub-Gas-Wolken entstehen in unserer Milchstraße neue Sterne – und wer die Struktur und Geschichte unserer Heimatgalaxie rekonstruieren will, kommt an solch einer Karte nicht vorbei.

Auch für Astronomen, die sich nur für sehr viel fernere Objekte interessieren, ist eine solche Karte (und sind entsprechende Karten in anderen Wellenlängenbereichen, z.B. vom Planck-Satelliten) ein muss. Auch das Licht etwa ferner Galaxien wird ja durch den Staub in unserer Milchstraße abgeschwächt. Entsprechende Korrekturen muss man bei genauen Helligkeits- und/oder Farbmessungen an solchen Objekten berücksichtigen. Die zur Korrektur nötigen Daten liefern die Staubkaren.

Nach dem Auftakt?

Ein Startschuss ist per Definition ein Anfang. Wahrscheinlich sind schon morgen die ersten Vorabdrucke auf dem arXiv-Server abrufbar. Andere Untersuchungen werden länger dauern und erst nach Monaten oder nach einem noch längeren Zeitraum zu einer Veröffentlichung führen. Aber begonnen hat ein ungewöhnlich großer Teil der astronomischen Forschung der nächsten Wochen, Monate, Jahre, heute um 12 Uhr mittags mit der Veröffentlichung der Gaia-Daten. Wir dürfen gespannt sein. Für die Geschichte der astronomischen Forschung war heute Mittag ein historischer Moment. Nicht weil etwas fundamental Neues gefunden wurde (wie es bei den Gravitationswellen der Fall war), aber weil auf einen Schlag ein riesiger, wunderbarer Datensatz zugänglich wurde, der so gut wie alle Gebiete der Astronomie beeinflussen wird.

(Nebenbemerkung: an den größeren Medien scheint die Bedeutung von Gaia weitgehend vorbeigegangen zu sein. Auf die schnelle habe ich nur auf Spiegel Online einen entsprechenden Artikel gefunden, und auch da steht wenig zu den ungewöhnlich umfassenden Auswirkungen des Gaia-Data-Release auf die Astronomen weltweit. Hm.)

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

11 Kommentare

  1. Das verspricht schon, die Daten der bekannten Sterne nochmals deutlich zu verbessern, und auch, zusätzlich neue zu entdecken. Neugierige Frage: Kann Gaia auch “kalte” Braune Zwerge von Typ Y sehen? (Womöglich sogar bisher noch unentdeckte nur wenige Lichtjahre von der Erde entfernte?)

  2. Es ist unsinnig, anzunehmen, dass es in Sternen Kernfusionen gibt. Kernfusionen sind etwas Zerstörerisches, das der Mensch entwickelt hat. So etwas kommt in der Natur nicht vor. Im Übrigen entwickelt sich das Klima gemäß der Gaia-Hypothese. Mehr dazu auf meiner Internetseite (bitte auf meinen Nick-Namen klicken).

    • Kernfusionen sind nichts Zerstörerisches, sondern die Verschmelzung von Atomkernen.
      Vermutlich gehen Sie von den Kernfissionen aus, bei denen es sich um die Spaltung von Atomkernen handelt.
      Allerdings darf man auch einem Lagerfeuer nicht zu nahe kommen.

  3. Ja, auf arxiv sind die ersten Publikationen zur Gaia Data Release 2, beispielsweise Gaia
    Data Release 2 Properties and validation of the radial velocities
    mit folgendem Resultat bezüglich Genauigkeit der Messung der radialen Geschwindigkeit von Sternen (übersetzt von DeepL):
    Für helle Sterne mit GRVS in[4,8] mag liegt die Genauigkeit der Radialgeschwindigkeit im Bereich von 200-350 m/s, bei GRVS=11.75 mag, beträgt sie 1.4 bzw. 3.7 km/s für Teff=5000 und 6500 K.
    Gaia kann allerdings nicht mithalten mit erdbasierten Instrumenten für die Bestimmung der Radialgeschwindikeit. HAPRS und SOPHIE (eingesetzt um Exoplaneten anhand des Wobbelns der beobachteten Sterne zu entdecken) jedenfalls haben eine Genauigkeit von 1 m/s. Allerdings will Gaia ja nicht in erster Linie Exoplaneten entdecken, sondern vor allem die Position und Geschwindigkeit möglichst vieler Sterne bestimmen. Kennt man die 3D-Position und den Geschwindigkeitsvektor sehr vieler Milchstrassenssterne und hat man zudem gute Schätzungen der Massen der beobachteten Sterne, aber auch der Nebel und Gase in der Milchstrasse, dann kann man das Gravitationsfeld der Milchstrasse wohl kleinmasstäblich angeben und könnte dann recht genau sagen, wo die dunkle Materie stecken muss.
    Lassen wir uns doch überraschen.

    • Ergänzung: Wertvoller als die Geschwindigkeit der Sterne ist wohl ihre Beschleunigung. Doch die sollte Gaia ja auch bestimmen, denn es wurden pro Sterne mehrere Messungen in der Beobachtungszeit gemacht.

  4. Gaia Data Release 2 bietet sicher eine ideale Datenbasis für ein tolles Computerspiel – oder gar für mehrere. “Space Colonization”, “Galactic Empire”, “Foundation”, “Future Skies”, “Galactic Real Estates” und so ähnlich könnten sie heissen.

  5. “Gaia DR2 ist der heutige “Data Release 2”, für den viele Astronomen in Versuchung sind, ihre andere Forschung erst einmal zu vernachlässigen:”

    Ich weiß nicht, ob es geschickt ist den Wissenschaftler als Mann und die Forhscung als Frau darzustellen. Trifft der angesprochene Punkt nicht auf Wissenschafterinnen und Wissenschaftler zu?

  6. “In einem gewissen Sinne” (Stichwort Klischees) ein gar nicht so “vernachlässigbarer” Aspekt = die beiden Frauen als Männer und den Mann als Frau darstellen. Schließlich wird (in der Regel) auch ein Mann eifersüchtig (abgelenkt), wenn “seine” Frau sich für einen anderen Mann interessiert.

    Männlicherseits unbewusste [“evolutionär geprägte” ;)] Denkgewohnheiten. Noch anders (vereinfacht) ausgedrückt: Frauen als “Sexualobjekte” von Männern. Frauen sehen Männer nicht so – oder? Ist allerdings off-topic. Anderseits das Foto hier nun Mal auftaucht. Dass Gaia (i.S.v. Raumsonde) und research im deutschen weiblich sind, relativiert jedoch einiges ..

  7. Ich habe die Information wohl verpasst, aber wie wurden die Sterne, deren Daten jetzt veröffentlicht wurden, erkannt? Waren das die vorher bekannten Sterne, oder gab es einen automatischen Stern-Erkennungs-Algorithmus – da Regionen ja in der Zeit mehrfach beobachtet wurden – oder gab es doch eine Gruppe von Astronomen, die bei der Entdeckung neuer Sterne geholfen hat?