Covid-Rückblicke und Übersterblichkeit: Von Schweden lernen, aber was?

Übersterblichkeitskurven für Herbst 2020 bis Anfang 2021 für Deutschland und seine Nachbarländer. Die Kurven verlaufen nicht wirklich parallel.

Derzeit finden sich ja, mit der halbrunden Jubiläumszahl von fünf Jahren, wieder eine Reihe von Covid-Artikeln in den Medien. Dabei ist auch Schweden präsent, etwa in diesem SZ-Artikel (auf den ich wiederum auf Bsky über den Tweet eines NDR/WDR-Journalisten aufmerksam geworden bin, der ihn mit “Diese abwägende, evidenzbasierte Vernunft, für die der schwedische Chef-Epidemiologe Anders steht, hat meines Erachtens in der Corona-Zeit in DEU am meisten gefehlt” kommentierte). Für mich stellt sich dabei ein Gefühl der kognitiven Dissonanz ein, denn seit mich vor ein paar Wochen (?) jemand auf Bluesky auf die Auswertung zur Corona-Übersterblichkeit bei Our World in Data aufmerksam gemacht hatte, ist das erste, woran ich denke, wenn ich “Schweden” und “Covid” höre, diese Kurve hier:

Übersterblichkeits-Vergleichskurven für Schweden und Deutschland von Januar 2020 bis Frühjahr 2021. Schweden hat in der ersten Welle eine deutlich größere Übersterblichkeit als Deutschland. In der Winterwelle 2020/2021 sind die Kurven dagegen fast deckungsgleich.

Ergänzend zeigt eine entsprechende Kurve des Statistischen Bundesamts zumindest für Deutschland 2020, dass die Übersterblichkeit in der Tat mit der Sterbeursache Covid einhergeht:

Übersterblichkeit für Deutschland, unten ist parallel die Kurve der Covid-Toten gezeigt.

(Die späteren Kurven auf derselben Seite finde ich weniger hilfreich, weil sie als Bezugsgröße jeweils die vier Vorjahre nehmen – ich hätte lieber einen Vergleich mit der Vor-Covid-Zeit.)

Ich sehe nicht, wie man von der Vergleichskurve Schweden-Deutschland bei der Übersterblichkeit in vernünftiger Weise auf ein Narrativ wie “siehste, hätten wir es mal wie die Schweden gemacht, die hatten gar keinen Lockdown und haben rein auf Eigenverantwortung gesetzt, dann wären wir besser durch die Pandemie gekommen” kommt.

Richtig ist fraglos, dass Schweden bei der ersten Coronawelle fast komplett auf die Eigenverantwortung seiner Bürger*innen gesetzt hat, während Deutschland seine Gesellschaft bei der ersten Coronawelle weitgehend heruntergefahren hat – nicht mit einem echten Lockdown wie z.B. in Spanien, aber zweifellos mit weitgehenden Maßnahmen. Der markante Unterschied bei den Übersterblichkeiten in der obigen Kurve macht auf mich aber wirklich nicht den Eindruck, als wären Deutschland und Schweden in irgendeiner Weise ähnlich gut durch jene erste Welle gekommen.

Gegenläufige Entwicklungen

Allerdings blieb diese klare Trennung ja nicht erhalten. Ab dem Sommer 2020, sobald klar war, dass die akute Gefahr erst einmal gebannt war, wurden die Reaktionen in Deutschland ja deutlich zögerlicher. Selbst als die Zahlen im Herbst 2020 den Höchststand der ersten Welle weit hinter sich gelassen hatten, blieb die Reaktion deutlich hinter den Frühlings-Maßnahmen zurück. Ich erinnere mich noch an mindestens einen Termin, wo die Ministerpräsidentenkonferenz, die sich mit der Bundeskanzlerin jeweils darüber verständigen sollte, wie es weiterging, sogar einen Termin ausfallen ließ – als ob die Lage nicht dringlich gewesen wäre.

Parallel dazu ging der Trend in Schweden in die Gegenrichtung. Dort mehrten sich die kritischen Stimmen, und die Regierung setzte ja dann auch die Coronacommissionen ein, die sich kritisch anschauen sollte, was da gelaufen war. Im Dezember 2020 kam die Kommission zu dem Schluss, die Strategie, die älteren Menschen in Schweden zu schützen, sei gescheitert. Selbst der schwedische König, der sich eigentlich aus der Tagespolitik heraushält, meldete sich in jenem Monat kritisch zu Wort. Die Regierung war bereits im Vormonat, also im November 2020, von ihrem hands-off-Vorgehen abgerückt und hatte Beschränkungen für öffentliche Zusammentreffen beschlossen.

Am Ende kamen Deutschland und Schweden dann aus unterschiedlichen Richtungen bei ziemlich genau derselben Übersterblichkeit an, wie die obige Kurve zeigt. Ich habe aktuell keine Ahnung, warum die beiden Kurven so genau übereinstimmen wie oben zu sehen; zum Vergleich: die Übereinstimmung für die Winterwelle mit den direkten Nachbarländern von Deutschland ist deutlich weniger gut:

Übersterblichkeitskurven für Herbst 2020 bis Anfang 2021 für Deutschland und seine Nachbarländer. Die Kurven verlaufen nicht wirklich parallel.

(Dass die Kurven hier nicht alle parallel verlaufen, finde ich im Gegenteil gut – verliefen sie im Gleichschritt, wäre das ja ein starkes Anzeichen dafür, dass kein einzelnes Land selbstständig etwas gegen Covid unternehmen könnte.)

Fazit

Für mich sieht es so aus, als wäre die einfachste Deutung der obigen Kurven zur Übersterblichkeit: Deutschland ist mit seinen vergleichsweise strengen Maßnahmen in der ersten Welle deutlich besser durch jene erste Welle gekommen als Schweden. Entsprechend dann ja auch die Reaktionen: ein oh-doch-nicht-so-schlimm in Deutschland als Auftakt für die zögerliche Winterwellen-Reaktion, ein Erschrecken und Umlenken in Schweden.

Anschließend, nach Anfang 2021, wird die Lage deutlich komplizierter, mit dem Aufkommen der Impfung einerseits, den sich durchsetzenden Varianten andererseits. Aber für die Auftakt-Situation, und die sollte uns ja besonders beschäftigen im Hinblick darauf, wie wir es bei einer etwaigen nächsten Pandemie machen, finde ich recht deutlich: dort hätte besser Schweden von Deutschland gelernt als umgekehrt. Sorgen machen sollte uns eher das Zaudern, dass zu den Zehntausenden eigentlich vermeidbaren Winterwelle-Toten geführt hat. So an eine etwaige nächste Pandemie heranzugehen, wäre fatal. Aber genau in diese Richtung wirkt leider die jetzige, in Richtung des wir-hatten-zu-viele-Maßnahmen verzerrte Rückblicks-Berichterstattung zur Pandemie mit ihrer rosaroten Brille für den Blick auf Schweden.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

1 Kommentar

  1. Ein direkter Vergleich von Schweden mit Deutschland ist nur annähernd möglich, wenn überhaupt.
    Schweden hat nur zwei Großstädte mit mehr als 500 000 Einwohnern, Deutschland hat 15 Großstädte mit mehr als 500 000 Einwohner.
    Diese Unterscheidung ist wichtig, weil Schweden berücksichtigt die Einschränkung des Versammlungsrechtes auf größere Städte .
    Obwohl Schweden einen Urbanisierungsgrad von 88 % hat und Deutschland nur einen von 77 % war Deutschland gezwungen sofort einen lock down durchzuführen, weil eben auch der kurze Abstand der Großstädte das Risiko einer Ansteckung vergrößert. Dazu kommt der Kontakt Deutschlands mit seinen Nachbarländern ist um ein Mehrfaches höher als der von Schweden.
    Anmerkung: Wer fährt im Winter schon nach Schweden !
    Fazit: Der ähnliche Kurvenverlauf der Übersterblichkeit im Winter 2020 von Schweden mit Deutschland hat deswegen keinen Aussagewert ob lock down oder nicht lock down angemessener wären.
    Wir können deswegen nicht viel von Schweden lernen, höchstens dass man in dünn besiedelten Gegenden einen lock dow nicht so stark kontrollieren sollte.

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