Desinfektionsmittel-Beschaffung: Corona-Journalismus im Skandal-Rausch
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“Patzer in der Pandemie” titelt die Süddeutsche Zeitung (11. Juli), und Tagesschau.de wird noch spezifischer: “Im Kaufrausch” habe sich die Bundesregierung offenbar bei der Desinfektionsmittel-Beschaffung befunden. Aber wenn man näher hinschaut, dann geht es zumindest bei diesem Teilaspekt der Berichterstattung weniger um Unzulänglichkeiten der damaligen Bundesregierung sondern – naja, um was? Am wahrscheinlichsten scheint mir derzeit: Eine Mischung aus dem Präventionsparadoxon und fehlender Kompetenz im Umgang mit Zahlen auf Seiten der Investigativ-Journaist*innen, die da berichten.
In Kürze (tl;dr): Die entsprechenden Berichte begründen überhaupt nicht, was an den Desinfektionsmittel-Käufen eigentlich der Skandal sein sollte. Es werden Mengenangaben (8 Millionen Liter) so in den Raum gestellt, als ergäbe sich allein daraus bereits, dass es sich um exzessive Käufe gehandelt habe. Dabei entspricht jene Menge ziemlich genau dem Bedarf des deutschen Gesundheitssystems für ein halbes Jahr – also genau dem, was eine Notfallreserve leisten sollte. Dass die Notfallreserve letztlich nicht gebraucht wurde, bedeutet ja nicht, dass die Vorsichtsmaßnahme unnötig oder unvernünftig war. Der einzige potenzielle Skandal den ich sehe betrifft die Frage, wie solch lückenhafte Argumentation überhaupt durch die Qualitätskontrollen der betreffenden journalistisch arbeitenden Medien gekommen ist.
Investigativ-Journalismus zu Desinfektionsmitteln
Aber der Reihe nach. Da die Desinfektionsmittel-Behauptung anders als man der Überschrift nach vermuten könnte nur einen kleinen Teil des Tagesschau-Textes ausmacht, gebe ich sie hier im Ganzen wieder:
“Der Bundesrechnungshof hatte dem damaligen Gesundheitsminister Spahn schon mehrfach attestiert, in einen regelrechten Kaufrausch bei Corona-Masken verfallen zu sein. Für Desinfektionsmittel war das bisher nicht bekannt. Doch in den Protokollen des Krisenstabs findet sich bereits am 12. Mai 2020 die Meldung, ‘dass für die Bundesebene mehr Desinfektionsmittel (insgesamt ca. 6 Mio. Liter) bestellt worden seien, als Lagerungskapazitäten zur Verfügung stehen’. Die Abnahmeverpflichtung des Bundes solle deshalb ‘möglichst reduziert werden’.
Ob das gelang, will das Gesundheitsministerium nicht mitteilen. Man solle sich mit Fragen zu Desinfektionsmitteln ans Innenministerium wenden, schreibt Lauterbachs Sprecher Hanno Kautz. Das Innenministerium teilt mit, dass man bis in den September 2020 insgesamt 7,9 Millionen Liter Desinfektionsmittel zum Preis von 50,2 Millionen Euro gekauft habe.
Im Frühjahr 2022 habe die Regierung dann beschlossen, die restlichen 6,7 Millionen Liter an ein Versorgungsunternehmen zu verkaufen – für 725.000 Euro, womit ‘eine sehr kostspielige Gefahrgutentsorgung vermieden werden konnte’, wie das Innenministerium auf Anfrage von NDR, WDR und SZ mitte[i]lte.”
Im SZ-Artikel finden sich keine darüber hinausgehenden Informationen, außer einem zusätzlichen Hinweis, dass es sich bei Desinfektionsmittel um “Gefahrgut” handle. “Millionengrab Desinfektionsmittel” ist der Abschnitt dort überschrieben, und in einem vorangehenden Abschnitt ist von “exzessive[n] Ausgaben für Desinfektionsmittel” die Rede.
Und das ist es auch schon. Das ist die Grundlage des Skandals, der es bei der Tagesschau in die Schlagzeile geschafft und bei der Süddeutschen zum “Millionengrab” gebracht hat.
Das kleine Einmaleins des Umgangs mit Zahlenangaben
Ich weiß ja nicht, ob so etwas an Journalismusschulen gelehrt wird. Aber ob eine Zahl besonders groß oder besonders klein oder im Gegenteil gar nicht überraschend groß oder klein ist, hängt vom Kontext ab. Ausgaben sind nicht automatisch exzessiv, wenn sie in den Millionenbereich gehen. Sondern jene Millionen müssen zu irgendetwas in Relation gesetzt werden. Die Zahl alleine ist schlicht nicht aussagekräftig. Wer vor einer Angabe wie 6 Millionen Litern sitzt wie das Kaninchen vor der Schlange und alleine schon durch die Vorstellung einer so großen Menge wie gelähmt ist (bzw. an der Stelle dann jedenfalls nicht weiterdenkt), betreibt keinen irgendwie gearteten Journalismus.
Insofern sitze ich kopfschüttelnd vor den oben zitierten Absätzen und frage mich: Wo ist denn nun die Begründung, die Anschaffungen seien “exzessiv” gewesen, hätten einem “Kaufrausch” entsprochen? Und wie kann es sein, dass Investigativ-Journalist*innen vor solch einem Text sitzen, zustimmend nicken und sagen: Ja, das ist ein Skandal, das sollten wir entsprechend scharf formuliert (“Kaufrausch”, “Millionengrab”) veröffentlichen? Ich verstehe es einfach nicht.
Die Leute, die diesen Absatz und sein Pendant im SZ-Artikel zu verantworten haben, sind ja nun gerade nicht die Praktikant*innen, die am ersten Arbeitstag etwas schreiben sollen und damit hoffnungslos überfordert sind. Markus Grill ist Chefreporter des Investigativressorts von WDR und NDR, und auch wenn ein Geschichte-und-Germanistik-Studium Menschen zugegebenermaßen nicht auf quantitative Analysen vorbereitet, sollte das doch eigentlich zu den journalistischen Grundfähigkeiten gehören. Bei Jana Heck liegt nach eigenen Angaben der “Fokus auf Wirtschaft, Wissenschaft und investigativen Recherchen”, und langjährige Erfahrungen bei den Quarks-Sendungen sollten für sachgemäßen Umgang mit dem Quantitativen ja auch gute Ausgangsbedingungen schaffen. Christina Berndt (als Erstautorin der SZ-Version) war Wissenschaftsjournalistin des Jahres 2021. Klaus Ott ist u.a. Dozent in Sachen Recherche an der Deutschen Journalistenschule. Das sind alles andere als Leichtgewichte. Ich verstehe nicht, wie solchen ausgewiesenen Profis so etwas wie die obigen Absätze einfach so durchrutschen können.
Eine Chronik von Vorsorge-Anschaffungen und Engpass-Vermeidung
Machen wir also mal eine Minimal-Recherche. Nicht mit Nachfragen und dem Einholen von Experten-Einschätzungen, also den tiefergehenden Methoden, wie sie den Profis zur Verfügung stehen aber in diesem Falle rätselhafter Weise nicht angewandt wurden, sondern mit dem Recherche-Tool der kleinen Leute: der Internet-Suche.
Erste Frage: Was war denn damals überhaupt die Situation? Die gute Nachricht: Dank “Frag den Staat”, deren Freigabe-Erwirkung für die Kristenstabs-Protokolle die aktuelle Berichterstattung überhaupt erst ermöglicht hat (danke!) ist das Basismaterial frei im Internet verfügbar. Lesen wir da (genauer gesagt hier) also erst einmal quer und schauen, was es für relevante Informationen gibt. Die “Beschaffung, Bevorratung und Verteilung von Schutzausstattung und medizinischen Gegenmitteln” ist da vom ersten Sitzungsprotokoll (S. 3 im PDF) an Thema. Man geht daran, die vorhandenen Bestände zu sichten, bespricht mögliche Exportbeschränkungen, ermittelt entsprechende Bedarfe. Selbst Nahrungsmittelbevorratung wird geprüft (S. 7 im PDF) – aus heutiger Sicht war das sicher nicht nötig, aber dass der Krisenstab angesichts der komplett unvorhersehbaren Entwicklungen erst einmal auf Nummer Sicher geht, ist ja sicher nicht falsch. Der Schwerpunkt der Vorbereitungen liegt auf Schutzausstattung. Am 5.3. ist erstmal auch von antiviralen Medikamenten die Rede. Man bekräftigt “Kauf vor Beschlagnahme”, aber Beschlagnahme-Möglichkeiten werden rechtlich geprüft. Man bereitet sicherheitshalber Liegenschaften vor, falls größere Mengen von Menschen in Quarantäne geschickt werden müssen.
Parallel, genauer am 9.3.2020, berichtet die Süddeutsche über enormen Kundenandrang bei einer bundesweiten Desinfektionsmittel-Verkaufsaktion bei Aldi. In den ersten Folgen des Corona-Virus-Update mit Christian Drosten schwenken die Empfehlungen langsam von keine-Panik-derzeit-muss-niemand-sein-Verhalten-ändern um zur Diskussion der Absage von Großveranstaltungen oder der Möglichkeit von Home Office für Arbeitnehmer*innen, die einer Risikogruppe angehören. In Folge 9 (nicht genau datiert, zwischen 7.3. und 9.3.2020) tauchen in einer der Fragen der Journalistin Anja Martini “viele Meldungen, dass es in Krankenhäusern an Desinfektionsmittel fehlt” auf, aber Drosten bleibt in seiner Antwort allgemein: wir müssten jetzt gut schauen, wie wir unsere Ressourcen einsetzen.
Das Protokoll vom 12.3. (PDF S. 25) enthält interessante quantitative Informationen, für wen man da eigentlich vorausplant und bevorratet. Konkret mit Bezug auf Schutzausrüstungen: “85% für die Sicherung der Versorgung im deutschen Gesundheitssystem (ambulant und stationär) einschließlich Alten- und Pflegebereich (ambulant und stationär). 15% für die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Staates. Inwieweit dabei auch kritische Infrastrukturen außerhalb der Staatsverwaltung unterstützt werden können, wird im Einzelfall entschieden.”
Das Protokoll vom 26.3. (PDF S. 35) bekräftigt die 85:15-Aufteilung für “alle Materialien, die der Bund einkauft”. Auf derselben Seite tauchen erstmals Desinfektionsmittel auf, allerdings konkret im Zusammenhang mit einer BMWI-Liste von Firmen, die bereit sind, ihre Produktion pandemiebedingt umzustellen. Allgemein wird über einen Pandemievorrat analog zu dem nachgedacht, was aktuell in Frankreich geschieht.
Am 1. April 2020 geht der Marburger Bund Baden-Württemberg mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit: “Corona-Krise: Engpass bei Medikamenten und Desinfektionsmittel in Kliniken.“
In den Krisenprotokollen spielen Desinfektionsmittel nach wie vor eine Nebenrolle, aber offenbar läuft deren Beschaffung im Rahmen der größeren Schutzausrüstungs-Beschaffungsmaßnahmen nebenher mit. Im Protokoll vom 7. April 2020 findet sich jedenfalls u.a. die Angabe (S. 52 im PDF), dass die Desinfektionsmittel-Beschaffung in der Verantwortung des Beschaffungsamts des Innenministeriums liege. Am 23. April wird das Thema Flächendesinfektion außerhalb des Gesundheitsbereiches auf die Tagesordnung gesetzt. Das RKI wird mit der Aussage zitiert, Oberflächen seien dem aktuellen Erkenntnisstand nach kein Hauptübertragungsweg. Das Innenministerium – das ja offenbar, siehe Beschaffungsamt-Aussage oben, die Zuständigkeit für Desinfektionsmittel übertragen bekommen hat – bittet, noch einmal beim RKI nachzufragen; in Asien würde in diese Richtung ja durchaus etwas unternommen.
Im Protokoll des 12. Mai 2020 findet sich dann die jetzt skandalisierte Passage (PDF S. 93f.): Das Gesundheitsministerium teilt mit, man werde die Beschaffungen bei persönlicher Schutzausrüstung jetzt herunterfahren, da die aktuell vorhandenen Mengen bis Spätherbst 2020 reichen würden. Dann:
“BMG teilt mit, das[s] für die Bundesebene mehr Desinfektionsmittel (insgesamt ca. 6 Mio. Liter) bestellt worden seien, als Lagerungskapazitäten für die als Gefahrgut klassifizierte Flüssigkeit zur Verfügung stehe und schlägt vor, dass die Abnahmeverpflichtung des Bundes möglichst reduziert und beschafftes Desinfektionsmittel anderweitig veräußert werden solle. Der vom BMG vorgelegte Beschlussvorschlag wird vertagt. Es wird vereinbart, dass die Themen Gesamtmenge und Lageroptionen zeitnah geprüft werden.”
Dass sich die 6 Millionen Liter auf die Gesamt-Bundesanschaffungen beziehen, wird spätestens durch die oben zitierte Medien-Anfrage klar. Bei insgesamt beschafften 8 Millionen Litern können 6 Millionen Liter ja rein mathematisch nicht den bloß 15% entsprechn, die tatsächlich für das Funktionieren des Staates vorgehalten werden sollen.
Zwei Sitzungen später, am 26. Mai 2020, kommt das Thema kurz wieder auf die Tagesordnung (PDF S. 104). Unter “TOP 4: Verschiedenes” berichtet das BMG, “dass von der ursprünglich geplanten Beschlussfassung durch den Krisenstab zum Thema ‘Beschaffung von Desinfektionsmitteln und allgemeine Information zum Fortgang der Beschaffung’ abgesehen wird. Vielmehr soll da Kabinett mit einem entsprechenden Beschlussvorschlag zur nationalen Reserve befasst werden.”
Und das war es dann zum Thema Desinfektionsmitteln in den ersten 50 Krisenstabs-Protokollen. In den Protokollen 50 bis 100, auch bei “Frag den Staat” verfügbar (danke!) kommt der Begriff “Desinfektion” laut Text-Suchfunktion dann gar nicht mehr vor.
Das ist also die Ausgangslage. Man hatte zwischendurch Lagerprobleme, und es wurde aus diesem Anlass gefragt, ob die beschafften Mengen so wirklich nötig seien. Zumindest das ergibt ja nun wirklich noch keinen Skandal. Aber woher kommt der Skandal dann? Zeit, dass wir uns die Mengenangaben ansehen.
Wie viel sind 6 Millionen Liter (oder 8 Millionen Liter) Desinfektionsmittel?
Also: Sind 6 Millionen Liter Desinfektionsmittel, oder die bis Ende September 2020 beschafften knapp 8 Millionen Liter viel oder wenig? Und was ist dafür die richtige Bezugsgröße?
Aus den Protokollen geht ja hervor, dass es sich dabei zumindest weitgehend um eine nationale Reserve handeln sollte, und dass der Löwenanteil (85%) dafür gedacht war, im Fall der Fälle das Gesundheitssystems inklusive des Pflegesystems aufrecht zu erhalten.
Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass es sich um Hände-Desinfektionsmittel handelte (obwohl ja zumindest im Gesundheitswesen vermutlich auch Flächendesinfektion ein Faktor wäre).
Dieser Hygiene-Experte hier bei der TUM sagt aus, für eine Hände-Desinfektion wären rund drei Milliliter nötig. Allerdings auch, dass pro Intensivpatient*in und Tag durchaus 100 Hände-Desinfektionen pro Tag (!) nötig sein könnten. 8 Millionen Liter sind danach auf alle Fälle knapp 2,7 Milliarden Desinfektionsvorgänge. Oh Gott, Milliarden! Das klingt ja nach noch mehr!!1! Desinfektionsrausch! Skandal! </sarkasmus>
Einer Destatis-Pressemitteilung nach hatten wir zu jener Zeit rund 27000 Intensivbetten in Deutschland. Bei 30 Tagen pro Monat und sagen wir mal ganz konservativ nur 50 Hände-Desinfektionen pro Patient*in und Tag sind wir dann bei 40 Millionen Desinfektions-Vorgängen pro Monat. Normale Krankenausbetten gab es derselben Pressemitteilung nach knapp 460.000. Dort dürften dann deutlich weniger Desinfektions-Vorgänge pro Patient*in pro Tag nötig sein, aber bei 3 Mal Essen gebracht bekommen und sicher ja auch medizinischen Maßnahmen gehen wir einmal ganz konservativ von 5 Vorgängen pro Patient*in und Tag aus. Das sind weitere 69 Millionen Desinfektions-Vorgänge pro Monat. Ambulante Betreuung ist ja ausdrücklich auch mit eingerichtet. Gar nicht so einfach, die Zahlen zu finden, denn die meisten Aussagen dazu betreffen Arztbesuche pro Person (in einer bestimmten Altersgruppe) pro Jahr. Aber hier ist von 54 Millionen ambulanten Arztbesuchen 2020 die Rede. Bei wiederum sehr konservativ geschätzten 2 Desinfektionsvorgängen pro Besuch (einmal Arzt oder Ärztin, einmal Patient*in) wären das weitere 9 Millionen Desinfektions-Vorgänge pro Monat. In einer echten pandemischen Worst-Case-Situation vermutlich deutlich mehr, aber ich rechne ja hier bewusst sehr konservativ.
Dann kommt noch der Pflegebereich hinzu. Aktuell (und das wird sich ja vermutlich in den letzten Jahren nicht drastisch geändert haben) sind das 918.000 Pflegeplätze. Hinzu kommen 4,17 Millionen Pflegebedürftige, die zu Hause, also ambulant versorgt werden. Selbst mit ultrakonservativen 2 Hände-Desinfektionen pro Tag pro Pflegebedürftiger/em wären wir in diesem Falle bei stattlichen 305 Millionen Hände-Desinfektions-Vorgängen pro Monat.
Insgesamt sind wir mit den genannten Gruppen demnach bei 423 Millionen Hände-Desinfektions-Vorgängen im Monat. Die gesamte 8-Millionen-Liter-Reserve reicht allein für diese Zielgruppen, nämlich das deutsche Gesundheitssystem, also gerade einmal für ein halbes Jahr (genauer 6,4 Monate). Das ist in unsicheren Pandemie-Zeiten sicherlich kein übermäßig langer Zeitplan für das Vorhalten einer Notfall-Reserve. Es ist im übrigen auch der Zeitraum, auf den hin der Krisenstab von Anfang an bei seinen Bedarfsplanungen zu Schutzausrüstungen hin abgestellt hatte (PDF der Protokolle 1-50, S. 8).
Und das sind ja wohlgemerkt nur die Zahlen des Normalbetriebs. Falls es im Verlaufe der Pandemie zu extrem hohen Infektionszahlen gekommen wäre, die Arztbesuche nach sich gezogen hätten, wäre der Bedarf natürlich noch deutlich größer geworden.
…oder war es zu teuer?
Oder waren die Preise das Problem? Das war bei den Masken ja durchaus der Fall. Ich komme als Einzelperson natürlich nicht so einfach an Großhandels-Preise heran. Bei METRO kostet das Desinfektions-Reinigungsmittel (ich weiß, etwas anderes, aber im Zweifelsfalle ja eher billiger als für Hände) etwas mehr als 8 Euro pro Liter, ohne Mehrwertsteuer. 8 Millionen Liter wären dann 64 Millionen Euro, aber bei so großer Abnahmemenge kann man natürlich einen Mengenrabatt erwarten. Bei Amazon liegt das billigste Angebot, das ich auf die Schnelle gefunden habe, bei knapp 5 Euro pro Liter. Das wären dann 40 Millionen Euro. Tatsächlich hat der Bund ja, siehe oben, 50 Millionen Euro bezahlt. Ist das viel? Wenig? Mengenrabatt sollte einen Nachlass bewirken. So schnell große Mengen anschaffen wollen, dass ggf. die Produktion von Fabriken extra weiter hochgefahren werden muss, verursacht dagegen höhere Kosten. Ich weiß es echt nicht. Wäre mal an der Zeit, dass jemand das sauber recherchiert. Vielleicht ja ein*e Investigativ-Journalist*in, für die das doch eigentlich zu den Standard-Aufgaben gehören müsst. Oh wait!
Wo also ist der Skandal?
Insgesamt sehe ich auch nach meinen weiteren Amateur-Recherchen nicht, wo da bei den Desinfektionsmitteln nach den aktuell verfügbaren Informationen ein Skandal gewesen sein soll. Die Menge von 8 Millionen Litern entspricht recht gut dem Bedarf des deutschen Gesundheitssystems für ein halbes Jahr. Das ist für eine Notfallreserve in Pandemiezeiten also ganz ausdrücklich nicht “exzessiv” viel, und kein Indikator für einen “Kaufrausch”. Dass zwischendurch ein Lagerproblem auftrat, dass dann ja aber offenbar gelöst wurde: so what? Ist das nicht genau so, wie man es erwarten würde in einer Ausnahmesituation – und ist das Finden einer geeigneten Lösung nicht genau das, was man sich von den Zuständigen erhofft? Und dass die Menge dann am Ende doch nicht gebraucht wurde – einmal mehr, so what? Eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme wird nicht dadurch sinnlos, dass sich nachträglich (!) herausstellt, sie wäre gar nicht nötig gewesen. Man stelle sich nur umgekehrt vor, was es zu Recht an Kritik gehagelt hätte, wenn die Regierung auf die offensichtliche Gefahr eines Engpasses (siehe der Brandbrief des Marburger Bundes) nicht reagiert hätte und es genau dort im Verlaufe der Pandemie schiefgegangen wäre.
Insofern ist der einzige potenzielle Skandal, den ich hier bislang sehen kann, dass professionelle Investigativ-Journalist*innen einen Skandal herbeibeschwören (“Millionengrab”, “Kaufrausch”) ohne dafür in irgendeiner Weise ausreichende Belege zu haben. Wie kann so etwas passieren? Was steckt dort dahinter? Dass Zahlen erst dann interpretierbar ist, wenn man ihnen einen Kontext gibt, sollten die Betroffenen wissen. Was Vorsichtsmaßnahmen sind auch. Wenn so die kommende Aufarbeitung der Corona-Pandemie aussieht, dann gute Nacht.
Danke an Frau T. für eine angeregte Diskussion auf Bluesky, die Teile dieses Blogtexts vorbereitet hat und aus der einige der hier verwendeten Links (u.a. der zur Marburger-Bund-Mitteilung) stammen.
Da wird noch manche Zahl zu validieren und einzuordnen sein:
Quelle: https://dserver.bundestag.de/btd/19/218/1921893.pdf
Das Komma muss hier britisch als Punkt gelesen werden, sonst wäre es etwas wenig. Allerdings sind innerhalb kürzester Zeit daraus Millionen Liter geworden, was wiederum etwas viel ist:
Quelle: https://dserver.bundestag.de/btd/19/234/1923472.pdf
Danke für die weiteren Informationen! Der Faktor 1000 von der ersten zur zweiten Antwort ist ja wirklich sehr merkwürdig. Entsprechend meiner eigenen Abschätzung des Gesundheitssystems-Gesamtbedarfs dürfte die kleinere Zahl von 667247 die richtige sein.
Es sind die gleichen 667, nur mit unterschiedlich vielen Nullen dran. Was Nichts doch ausmachen kann 😉
Es ist mir klar, dass das dieselbe Zahl sein soll. Die Frage war ja nur: welche Zahl ist der Tippfehler und welche ist echt.
Produktionsmengen in Deutschland 2020: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Grafiken/Industrie-Verarbeitendes-Gewerbe/2020/_Interaktiv/20201118-desinfektionsmittel.html
Auch eine interessante Zahl; was mir dabei fehlt ist, was dort alles mitgezählt wird. Vermutlich nicht nur Händedesinfektionsmittel wie jene, um die es im Kontext “persönliche Schutzausrüstung” vermutlich ging, sondern auch Flächendesinfektionsmittel zur Reinigung.
@ Markus Pössel:
Ja, die Statistik erfasst unterschiedliche Desinfektionsmittel: https://www.klassifikationsserver.de/klassService/thyme/variant/gp2019a?lang=DE
Die Grafik mit den Produktionsmengen war nur als Hinweis zur Unplausibilität der viel zu hohen Zahl aus der zweiten BT-Drucksache gedacht.
Jenseits der Frage danach, wie viel Material vom Bund und/oder den Ländern wirklich bestellt wurde: Der Streit spiegelt auch das insgesamt ungeklärte Verhältnis zwischen Handeln auf der Basis verlässlicher Daten/Evidenz und Handeln auf der Basis des Vorsorgeprinzips wider. Das erschwert auch Bestimmungen des “Bedarfs”. Da hat die Süddeutsche, was Sie zu Recht monieren, vielleicht im Investigativrausch zu schnell einen Kaufrausch diagnostiziert.
Ich bin gespannt, was bei den Maskenkäufen durch die jetzt vom BMG ernannte Sonderbeauftragte, Frau Sudhof, festgestellt wird.
Die Beschaffung von Desinfektionsmitteln ist eher ein Nebenthema. Mich würde viel eher eine Einordung des folgenden Satzes aus den RKI-Protokollen interessieren:
“COVID-19 sollte nicht mit Influenza verglichen werden, bei
normaler Influenzawelle versterben mehr Leute”
Das wurde während der Corona-Krise ja genau anderes herum erzählt. Es sei eine “Verharmlosung” von “Verschwörungstheoretikern” Covid mit der Grippe zu vergleich hieß es damals.
Geben Sie dazu bitte den Kontext an? Insbesondere wann die Aussage getätigt wurde ist ja nicht unwichtig. Wie umfangreich Covid-19 insbesondere als Gefäßkrankheit den Körper kaputt macht, hat man ja erst im Laufe der Zeit herausgefunden. Und sorgfältiger Umgang mit den Begriffen ist bei der Gesundheitskommunikation ja auch wichtig: In der Alltagssprace sind “Grippe” und “grippaler Infekt” weitgehend synonym; allein das birgt Verharmlosungsgefahr.
Das stammt wohl aus einer Sitzung am 19.03.2021. Von einer Gefäßkrankheit ist in den Protokollen übrigens überhaupt nicht die Rede.
Ich erinnere mich an eine Meldung, in der beklagt wurde, dass Apotheken wegen der 2017 geänderten Biozid-Verordnung nicht selber Desinfektionsmittel mischen dürften und deshalb gegenüber früher von den Kapazitäten der Industrie abhängig wären.
Also Entwarnung für M + S + A: Nicht ein CDU-geführtes Ministerium ist schuld, sondern die Grünen und die EU.
Link
Allerdings reden wir ja hier im Kontext von persönlicher Schutzausrüstung über Händedesinfektion, nicht Flächendesinfektion. Die waren zumindest dem von Ihnen verlinkten Artikel nach (war als Link unvollständig, daher habe ich “Link” ergänzt) nicht betroffen.
Ich denke die heutige QC kontrolliert nur dass eine Mindestanzahl an Click-Baits in Überschrift und Text vorhanden ist und überschritten wird.
Nein, das ganz sicher nicht. Solche Schwarzmalerei hilft uns in dieser Situation ebenso wenig wie es die rosarote Brille, durch die alles picobello in Ordnung aussieht, tut.
@ Petra Müller:
Zu diesem Satz siehe z.B. die Kommentierung beim BR: https://www.br.de/nachrichten/wissen/rki-protokolle-wie-saetze-aus-dem-zusammenhang-gerissen-werden-ein-faktenfuchs,U87sXeW
Davon abgesehen, starben an kein keiner Influenzawelle der letzten Jahrzehnte in Deutschland mehr Menschen.
Das RKI berechnet für die Influenza seit gut 20 Jahren die Exzessmortalität. Die höchste Zahl in diesem Zeitraum hat es für die Saison 2017/2018 mit 25.100 statistischen Toten errechnet, bei 1.674 laborbestätigten Fällen. Jetzt können Sie einmal schauen, wie viele laborbestätigte (!) Coronasterbefälle es Mitte März 2021, zum Zeitpunkt der von Ihnen zitierten Protokollnotiz, gegeben hatte. Eine einfache Grafik dazu gibt es z.B. hier: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1102667/umfrage/erkrankungs-und-todesfaelle-aufgrund-des-coronavirus-in-deutschland/
Und schaut man weltweit, gab es ebenfalls seit Jahrzehnten keine Influenzawelle mit einem messbaren Rückgang der Lebenserwartung in vielen Ländern.
@Joseph Kuhn
Zitat: “laborbestätigte (!) Coronasterbefälle”
Ich sage nur “an und mit Corona gestorben”. Jeder Verstorbene, der zum Zeitpunkt des Todes Covid hatte, wurde als Coronasterbefall gewertet, egal ob Corona für den Tod verantwortlich war oder nicht. Im RKI hat man wohl nur die echten “an Corona gestorben” – Fälle betrachtet.
Vom RKI stammt im Gegenteil die “an oder mit Corona”-Definition. Nur dass die, obwohl Querdenker-Misinformations-Pusher das offenbar gerne falsch darstellen, von vornherein nie diejenigen Menschen einschloss, die zwar zum Zeitpunkt ihres Todes Corona hatten, bei denen Corona aber nicht relevant für das Versterben war.
@Joseph Kuhn
Zitat aus Ihrem verlinkten BR-Artikel:
“Wodarg behauptet, dass Sars-Cov-2 nicht neu sei und die Folgen der Infektion nicht schlimmer seien als die jeder anderen Grippe-Saison. Doch das ist falsch”
Wie den Protokollen zu entnehmen ist, hatte Wodarg doch recht. Gelogen haben “Experten” wie Lauterbach mit seiner “nebenwirkungsfreien” Impfung oder dem Schutz vor Ansteckung, den es nie gegeben hat aber mit dem Grundgesetzeinschränkungen gerechtfertigt wurden (G-Regeln, Demo-Verbote usw.).
Sorry, aber Gish-Galopp in den Kommentaren wird es hier nicht geben. Wenn Sie hier öffentliche Personen der Lüge bezichtigen wollen, müssen Sie das schon mindestens (!) mit entsprechenden Zitaten belegen, und für den Lügen-Vorwurf gehört dann noch der Nachweis der bewussten Falschaussage dazu. Von der Sache her: Keine Ahnung, woher Sie Ihre (Mis-)Informationen beziehen, aber in den Medien waren die Nebenwirkungen und der begrenzte Ansteckungs-Schutz damals ein nicht seltenes Thema.
@ Petra Müller:
Die beiden Sätze widersprechen sich. Entweder wurden alle mit Corona gezählt oder nur die “echten”.
Die Fakten: Wenn Sie beim RKI in den FAQ bei der Frage “Wie viele Todesfälle gab es in der Pandemie?” nachschauen, finden Sie keine kurze und übersichtliche Erläuterung, wie das RKI gezählt hat. Die Todesursachenstatistik hat eine etwas andere Vorgehensweise, aber auch hier wird nach Möglichkeit das sog. “Grundleiden” bestimmt (entspricht “an”).
Nein. Er hatte in fast allem, was er zu Corona gesagt hat, nicht recht, von der Gefährlichkeit des Virus bis hin zu kecken Behauptungen, bei Atemwegsinfektionen gäbe es nie eine zweite Welle. Inzwischen sympathisiert Wodarg mit HIV-Leugnern, wer weiß, wo er am Ende landet. Zum Unterschied bei den Sterbefällen im Vergleich zu Influenza habe ich oben schon etwas gesagt. Das muss reichen, ich bin ein Mensch und kein Papagei.
Die Äußerung von Lauterbach bei Anne Will im Februar 2022, die Coronaimpfung sei “mehr oder weniger nebenwirkungsfrei”, will ich nicht verteidigen. Nur lässt sich daraus nicht pars pro toto ableiten, Experten hätten gelogen. Aber das wissen Sie ja selbst, nicht wahr?