Corona-Investigativjournalismus und die kleinste gemeinsame Text-Wirklichkeit

Screenshot Krisenstabs-Protokoll vom 12. Mai 2020

Den Grundgedanken hinter dem Buch Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit von Mai Thi Nguyen-Kim finde ich nach wie vor sehr spannend und aktuell. Wir können nicht konstruktiv miteinander streiten, und schon gar keine Kompromisse oder gemeinsamen Lösungen finden, wenn wir nicht zumindest einen gemeinsamen Bezugsrahmen haben, eben eine hinreichend umfangreiche Version einer kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit. Stellt sich der kleinste gemeinsame Nenner als beschränkter heraus als gedacht, kann das durchaus Grund zur Sorge sein. Und genau das ist es, was mir an den Beiträgen zum angeblichen Corona-Desinfektionsmittel-Skandal, über den ich gestern gebloggt hatte, aktuell in der Tat Sorgen macht. Da geht es im Kern um etwas ganz Einfaches, nämlich darum: was können wir aus einem (kurzen) Textabschnitt eines der Krisenstabs-Protokolle herauslesen und was nicht? Es geht nicht um komplexe Einschätzungen, um Interpretationen die viel Hintergrundwissen erfordern, sondern um Leseverständnis auf dem Sprachniveau B1. Etwa so wie die Multiple-Choice-Fragen zu diesem Übungstext hier.

Der Textblock, um den es geht, ist dieser hier (Screenshot Ergebnisprotokoll Covid-19-Krisenstab vom 12. Mai 2020):

“Das [Bundesministerium für Gesundheit] teilt mit, das[s] für die Bundesebene mehr Desinfektionsmittel (insgesamt ca. 6 Mio. Liter) bestellt worden seien, als Lagerungskapazitäten für die als Gefahrgut klassifizierte Flüssigkeit zur Verfügung stehe und schlägt vor, dass die Abnahmeverpflichtung des Bundes möglichst reduziert und beschafftes Desinfektionsmittel anderweitig veräußert werden sollte. Der vom [Bundesministerium für Gesundheit] vorgelegte Beschlussvorschlag wird vertagt. Es wird vereinbart, dass die Themen Gesamtmenge und Lageroptionen zeitnah geprüft werden.”

OK, vielleicht liegen Wörter wie “Lagerungskapazitäten” oder “Gefahrgut” doch jenseits des Sprachniveaus B1. Aber zumindest unter Leseverständnis-geübten Mitbürger*innen sollte man sich einig sein können, was in jenem Text steht und was nicht.

Heißt der Text, dass im Mai 2020 klar war, dass zu viel Desinfektionsmittel bestellt worden war? Nein, das heißt es ganz sicher nicht. Ob zu wenig, zu viel oder gerade die richtige Menge von Desinfektionsmittel bestellt worden ist, entscheidet sich in solch einer Situation nicht daran, ob der nötige Lagerplatz zur Verfügung steht, sondern daran, wozu das Desinfektionsmittel bestellt wurde und ob die Menge jenem Zweck entspricht.

Heißt der Text, dass man sich im Krisenstab im Mai 2020 sicher war, exakt die richtige Menge Desinfektionsmittel bestellt zu haben? Das sicher auch nicht, denn dann würde wer immer da aus Logistik-Perspektive für das Gesundheitsministerium spricht, nicht vorschlagen, die Ankaufrate zu reduzieren und Bestände zu veräußern. Auch wenn der Anlass für die Nachfrage (es wird mit der Lagerung schwierig, brauchen wir diese Menge wirklich?) aus einer anderen Ecke kam: Der Text zeigt, dass es unterschiedliche Einschätzungen zu dieser Frage gab. Deswegen wurde der entsprechende Beschluss ja dann vertagt, und die Prüfung der Themen Gesamtmenge und Lageroptionen veranlasst. Wäre man sich einig gewesen, hätte man den Beschluss (so oder so) gefasst.

Heißt der Text, dass geplant war, die Bestellmengen zu reduzieren? Das hängt davon ab. Der oder die BMG-Vertreter*in schlägt es vor. Andere Sitzungs-Teilnehmer*innen waren offenbar dagegen. Vom Krisenausschuss geplant war eine Reduktion als Ergebnis dieser Sitzung auf alle Fälle nicht, denn wie gesagt: man vertagte in dieser Frage den Beschluss.

Worin letztlich das Problem bestand, wird sich erst im Anschluss entschieden haben. War die Bestellmenge gerechtfertigt, bestand das Problem offenbar im fehlenden Lagerplatz. War die Bestellmenge zu groß, bestand das Problem nicht in der Größe der Lagerkapazitäten, sondern eben in der Größe der Bestellmenge. Zumindest die Krisenstab-Protokolle liefern an dieser Stelle keine Auflösung. Dort heißt es zwei Sitzungen später nur lapidar, unter “Verschiedenes”:

"[Das Gesundheitsministerium] berichtet, dass von der ursprünglich geplanten Beschlussfassung durch den Krisenstab zum Thema 'Beschaffung von Desinfektionsmitteln und allgemeine Information zum Fortgang der Beschaffung' abgesehen wird. Vielehr soll das Kabinett mit einem entsprechenden Beschlussvorschlag zur nationalen Reserve befasst werden."

“[Das Gesundheitsministerium] berichtet, dass von der ursprünglich geplanten Beschlussfassung durch den Krisenstab zum Thema ‘Beschaffung von Desinfektionsmitteln und allgemeine Information zum Fortgang der Beschaffung’ abgesehen wird. Vielehr soll das Kabinett mit einem entsprechenden Beschlussvorschlag zur nationalen Reserve befasst werden.”

Entsprechend finden sich in den weiteren Krisenstabs-Protokollen keine Informationen dazu, zu welchem Schluss man in Bezug auf Bestellmenge oder Lagermöglichkeiten gekommen ist. Die Innenministeriums-Antwort auf entsprechende Medien-Anfragen zeigt, dass bis September 2020 zumindest noch ein Drittel mehr an Desinfektionsmittel bestellt wurde, so dass man am Ende insgesamt 8 Millionen Liter beschafft hatte.

Zumindest solange keine weiteren Insider-Informationen ihren Weg an die Öffentlichkeit finden, haben wir also als Krisenstab-Exeget*innen nur jene knappen Textabschnitte zur Frage der Desinfektionsmittelbeschaffung. Das ist nicht viel. Und es ist, trotz einiger Behördendeutsch-Vokabeln, ja kein wirklich schwieriger Text. Über meine oben getätigten Aussagen dazu, was der Text heißt und was nicht, sollte, so hätte ich das zumindest erwartet, ein sehr breiter Konsens unter der leseverständigen hiesigen Bevölkerung herrschen. Umso beunruhigender finde ich, dass die kritische Berichterstattung von NDR/WDR einerseits und Süddeutscher Zeitung andererseits offenbar eine ganz andere Lesart hat. Eine Lesart, der zufolge die obigen Zeilen offenbar belegen, dass man damals schon wusste, dass zuviel bestellt wurde. Eine Lesart also, die bei der obigen Aussage die Zweideutigkeit “wir haben zuviel bestellt” vs. “wir haben die richtige Menge bestellt, aber offenbar zu wenig Lagerkapazität” leugnet und sagt: nein, es war ganz eindeutig zuviel. Es kann jenem Text nicht sein, dass das Problem nur bei der fehlenden Lagerkapazität lag.

Ohne jene (aus meiner Sicht absurde) Lesart kann man nämlich schlecht argumentieren, es habe sich um “maßlosen Einkauf” (NDR/WDR) gehandelt, um “exzessive Ausgaben für Desinfektionsmittel” (SZ). Sondern kann nicht ausschließen, dass die ungleich weniger skandalöse Schlagzeile “Bundesregierung musste sich im Frühjahr etwas mehr anstrengen als gedacht, um die angemessen eingekaufte Notreserve an Desinfektionsmittel fachgerecht zu lagern” der Wahrheit näher käme.

Dass die Lesart, die aus dem Textabschnitt rekonstruieren will, im Mai 2020 sei klar gewesen, dass man zuviel bestellt hatte, Anlass für kritische Berichterstattung in durchaus renommierten Medien ist (nämlich wie gesagt Tagesschau/NDR/WDR und Süddeutsche) finde ich beunruhigend. Offenbar haben wir noch nicht einmal bei einem so kurzen und relativ einfachen Textabschnitt eine gemeinsame Wirklichkeit, einen Konsens dazu, was in jenem Text steht und was eben nicht. Für die Aufarbeitung der Corona-Pandemie sind das beängstigende Aussichten. Gibt es selbst in einem so vergleichsweise einfachen Fall keine gemeinsame kleinste Text-Wirklichkeit, dann wird es die bei den komplexeren Einschätzungs-Fragen der Bewertung der Pandemie-Maßnahmen erst recht nicht geben.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

2 Kommentare

  1. Der kleinste gemeinsame Nenner der Wirklichkeit ist die physische Wirklichkeit – ein riesiges Kotelett, an dem wir mit unseren Weltbildern hängen und zerren wie Hunde. Ob und wohin das Kotelett sich bewegt, entscheiden weder Bernhardiner noch Chihuahua-Rudel alleine, sondern der Mittelwert – wenn die Mehrheit der Hundemeute-Kraft drum herum zufällig ungefähr in die gleiche Richtung zieht, kann sie die Kraft der anderen Hunde überwinden und sie mit dem Kotelett zu sich ziehen, doch so richtig kriegt keiner, was er will.

    Die Zeitachse spießt das Kotelett in der Mitte auf, wie eine Schiene, entlang der es in die Ewigkeit rast, und meistens drehen die Hunde das Kotelett nur drum herum oder lassen es hin und her pendeln, die Welt ist Teilchen-Welle, wie alles andere auch. Doch wenn plötzlich vor dem Kotelett ein riesiges Haifischmaul auftaucht, das die Wauzis samt Kotelett verschlingen will, wird das Gleichgewicht, das Kurs halten, selbst zum Extremismus – das Koordinatensystem klappt auf, y heißt Augen zu und durch den Haifisch durch, x, Kotelett loslassen und ins Trump-Land abfliegen, wo man nur noch sein eigenes Gebell genießen darf, bis Schwärme von Speedy Gonzales aus den brüchigen Kalkwänden kriechen, um in Hattos Hirn nach dem Speck zu suchen, der die Mäuse dahinter gefangen hielt.

    Und irgendwie müssen die Köter einen Kurs hinkriegen, der in einem Winkel zwischen beiden Extremen hinaus führt, ohne dass dabei das Kotelett allzu sehr zerfetzt wird oder allzu viele von ihnen drauf gehen. Als Kollektiv der Weltbilder kriegen sie’s schon irgendwie hin, schließlich ist jeder Hund so was wie die Sehzelle eines riesigen Auges, zusammen ergeben ihre primitiven Weltbilder ein Mosaik, mit dem das Ensemble den Braten besser riechen kann, als jeder einzelne von ihnen. Aber wir reden von einem System, das Adolf Hitler als Booster zur Kurskorrektur akzeptiert, wir sollten echt den Kotelett-Führerschein machen, bevor wir solche Mogelpackungen ans Steuer lassen.

    Was mich angeht, geht die Sache mit dem Desinfektionsmittel in der Statistik unter – sie gehört zum weißen Rauschen der Düsen. Ich messe den Hundekampf von Heute, in den wir alles stecken, weil’s um die Wurst geht, an den Hundekämpfen von Gestern, die wir nicht mehr verfälschen, weil sie uns egal sind. Und da gibt es Muster, die immer gleich bleiben, bei denen es zwar Ausnahmen gibt, doch keine, die ausreichen, um den Durchschnittswert zu verfälschen.

    Menschen sind immer korrupt und verlogen. Alle. Auch Sie und ich. Auch wenn sie es nicht wissen oder versuchen, es nicht zu sein. Die Gesellschaft teilt sich immer in König, Adel und Volk auf, das Muster kann verfeinert und variiert werden, doch es schimmert immer irgendwie durch. Der König kann eine Regierung sein, die davon profitiert, dass Firmen und Steuerzahler blühen, die sie ausplündern können, der Adel leitet spezialisierte Plantagen, Firmen, die davon profitieren, Staat und Volk auszuplündern, das Volk kümmert sich um sein Privatleben und profitiert davon, Adel und König auszuplündern. Es braucht also ein Gleichgewicht aus Geben und Nehmen, sonst hat ja keiner mehr was zum Plündern, das erzwingt von allen Beteiligten, dann doch aufeinander Rücksicht zu nehmen und ihren Job zu machen. Das Ganze funktioniert, solange der Kotelett-Happen, den sie Staat nennen, genug bietet, um sie alle satt zu machen. Ist es alle, geht das Haifischmaul auf: Dann hat das Piratenschiff Staat seinen Sinn und Zweck verloren, alle kämpfen um die Fetzen, verschlingen einander, die Schwächsten gehen zuerst drauf, und so frisst sich der Staat von Unten nach Oben auf, und der kleine Tichy muss weinen, was ihn natürlich nicht am Kannibalismus hindert.

    Ein gemeinsamer Nenner der Weltgeschichte ist, dass der Mensch eine bipolare Bakterie ist: Hunger = Bewegen, Satt = Stellung halten. Ob Sie sich geistig oder körperlich regen müssen, das Muster bleibt gleich, und alle Grauzonen werden dadurch erzeugt, dass Sie ein Kotelett sind, an dem viele bipolare Hunde zehren.

    Wenn es um Desinfektionsmittel und Zeitungen geht, habe ich Angst, dass beides von einer Hand im Gummihandschuh zusammengefügt wird, um über den Klositz zu wischen, auf dem wir leben. Eine Zeitung, die nicht die Lügen erzählt, die ihre Leser hören wollen, wird nicht verkauft. Eine Zeitung, die nicht die Lügen verkaufen will, die ihre Interview-Partner ihr erzählen, wird keine Interviews bekommen. Eine Zeitung, die zu dreist davon abweicht, was alle anderen Zeitungen schreiben, wird von ihnen zerfetzt, deswegen müssen sie sich alle so ungefähr an die Wahrheit halten, denn eine andere Eichgröße haben sie nicht. Und so wird alles, was sie mir über die Wahrheit erzählen, nur so ungefähr um sie kreisen, und ich kann daraus nur Trends herauslesen, aber keine klaren Fakten im Einzelfall. Präzision macht keinen Sinn, wenn meine Augen ein Bild zeigen, das Minus zwölf Dioptrien hat. Da hilft nur Statistik.

    • Halte ich, wie so viele literarisch daher kommende große Welterklärungs-Entwürfe für zu simpel und letztlich für falsch. Mit vorhersehbaren negativen Folgen, falls wir uns als Gesellschaft danach richten würden. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Da sind die signifikanten Unterschiede wichtig, die Sie mit “Menschen sind immer korrupt und verlogen” einebnen. Da sitzen in Zeitungen Menschen, die ihr (subjektiv) Bestes tun, dem Ideal von Journalismus nahezukommen. Wenn es dann trotzdem schiefgeht (wie in meinem Beispiel hier) sollten wir das kritisieren, nicht wie Sie hier mit einem alle-Zeitungen-erzählen-Lügen-ist-halt-so verharmlosen.

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