COPSY-Studie: Was belastet Kinder und Jugendliche in der Pandemie? Fehlender Präsenzunterricht offenbar eher weniger.

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… aber nicht einfacher
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Zu Anfang wieder der übliche Disclaimer: Auch in diesem Falle schreibe ich nicht als Fachmann, sondern als interessierter Beobachter, habe also meinen Wissenschaftsjournalisten-Hut auf, nicht meinen Wissenschaftlerhut. Wie immer bei Themen, bei denen das der Fall ist: Nehmen Sie meine Argumente direkt so, wie sie präsentiert werden – es steht keinerlei Experten-Autorität dahinter. Damit zur Sache, denn es geht um ein nach wie vor sehr kontroverses Thema: die Rolle von Schulen in der Pandemie, aber umgekehrt eben auch die Frage, wieweit wir Schüler*innen zwar vor Infektionen schützen, aber anderweitig belasten, wenn Schulen über kürzere oder längere Zeiträume geschlossen bleiben. Zur Frage der psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie ist nämlich letzte Woche eine sehr interessante Studie herausgekommen – mit anderen Worten: es gibt neue Daten, anhand derer man das Thema diskutieren kann, und das ist ja eigentlich immer ein guter Schritt.

Von BELLA zu COPSY

Die Studie, um die es geht, heißt COPSY, wird federführend von der Universität Hamburg betreut und hat als Koautoren außerdem insbesondere Wissenschaftler*innen des Robert-Koch-Instituts (inklusive Lothar Wieler). Der Studienname ist ein Akronym für “COVID19 and PSYchological Health“.

Die Studie kann man hier als Preprint herunterladen. Sie hat, das muss man als Caveat dazusagen, also noch kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen und ist noch nicht als begutachteter Fachartikel erschienen.

Die Studie baut auf die vorangehende BELLA-Studie auf, “BEhaviour and WeLLbeing of Children and Adolescents” (und ja, ich weiß, Astronom*innen machen leider auch immer einmal wieder derartige Verrenkungen, um zu einem griffigen Akronym zu kommen). BELLA selbst war eine longitudinale Studie, hat also die Entwicklung bestimmter Kenngrößen zu Verhalten und psychischem Wohlbefinden über einen bestimmten Zeitraum hinweg verfolgt, in diesem Falle mehr als 10 Jahre.

Insbesondere hat BELLA eine zusammengesetzte Kennzahl namens “Health-Related Quality of Life”, kurz HRQoL und übersetzt etwa “gesundheitsbezogene Lebensqualität” erhoben. Die ursprüngliche BELLA-Erhebung fand 2003 bis 2006 statt (2863 Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 17 Jahren), und daran schlossen sich weitere Erhebungsphasen an, in denen jeweils möglichst viele der ursprünglich Befragten wiederbefragt wurden und andererseits insbesondere in den Altersstufen, aus denen die ursprünglich Befragten dann “herausgewachsen” waren, neue Befragte hinzugenommen: in der ersten Nachuntersuchung für das Jahr 2004 bis 2007, in der zweiten (überlappend) für 2005 bis 2008, in der dritten 2009 bis 2012 und in der bisher letzten BELLA-Untersuchung 2014 bis 2017.

Das ist natürlich für eine Pandemie-Anschlussuntersuchung günstig. Die COPSY-Forscher*innen haben BELLA als Referenz genutzt, zu einem großen Teil dieselben Fragen und insbesondere auch dasselbe zusammenfassende Maß HRQoL. Weitere Überlappungen gab es mit der HBSC-Studie (“Health Behaviour in Schoolaged Children Study”) der WHO, die ebenfalls zum Vergleich herangezogen wurde.

Die 3 Wellen der COPSY-Studie

In der COPSY-Studie selbst gab es bislang drei Erhebungen: Eine systematische Erfassung namens Welle 1 (Mai bis Juni 2020), eine namens Welle 2 (Dezember 2020 bis Januar 2021) und dann noch die jetzt zumindest als Preprint erschienene (also noch nicht begutachtete) neue Publikation mit Vergleichsdaten aus dem, was dort Welle 3 heißt (September bis Oktober 2021). Die Einschätzung der Studienleiterin könnt ihr in dem Video auf dieser Seite sehen. Was hier mit “Welle 3” bezeichnet wird entspricht zugegebenermaßen nicht der Nomenklatur, die ich kenne, aber was soll’s: behandeln wir das hier als internen Begriff. Im folgenden ist mit “Welle 3” in diesem Blogbeitrag dann immer der COPSY-Erhebungszeitraum September bis Oktober 2021 gemeint.

Das spannende an den drei COPSY-Wellen ist natürlich, dass die drei Situationen sich unterscheiden. In der Welle-1-Situation waren Betreuungseinrichtungen, Schulen und Sporteinrichtungen weitgehend geschlossen – beziehungsweise bei den Schulen fand Distanzunterricht, aber kein Präsenzunterricht statt. (Genauer: am 13. März schlossen alle Schulen, ab 20. April kehrten erste Jahrgänge, insbesondere Abschlussklassen, in den Präsenzunterricht zurück; anschließend waren Klassen zum Teil im Wechsel in Präsenz und im Distanzunterricht. Eine Rückkehr in den Normalbetrieb ist erst für nach den Sommerferien vorgesehen. Siehe dazu diese Chronologie des Deutschlandfunks für das Jahr 2020.)

In Welle 2 waren die Schließungen noch umfangreicher. Auch wenn man über den Begriff im Vergleich zu dem, was in anderen Ländern unter diesem Namen lief, streiten kann: das war im deutschen “Lockdown”. (Genauer: ab Ende November gibt es zunehmend Wechselunterricht; ab 10. Dezember werden die Schulen wieder allgemein geschlossen – soweit wieder der Deutschlandfunk-Rückblick. Ursprünglich war die Wiederöffnung im Januar geplant; was stattdessen geschieht, hängt vom Bundesland und der Klassenstufe und Schulart ab: In Hamburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern  gehen nach verlängerten Weihnachtsferien am 11.1.21 erst nur die Abschlussklassen zurück in die Schule; in Bayern ab 22.2.21 Grundschulen und Abschlussklassen bei Inzidenzen unter 100SH ab 22.2.21 zusätzlich Grundschulen; NRW ab 22.2.21 Förderschulen, Grundschulen, Abschlussklassen; in Hamburg die Grundschulen erst nach den dortigen Frühjahrsferien am 15.3.21; Grundschulen in Rheinland-Pfalz am 22.2.21; ditto Thüringen mit seinen Grundschulen; ditto Berlin und Brandenburg; zum gleichen Datum im Saarland zumindest im Wechselunterricht.)

In COPSY-Welle 3 dagegen, also bei den Daten, die da jetzt dazukommen, waren Schulen und Freizeiteinrichtungen soweit ich sehen kann in allen Bundesländern im Präsenzmodus (wenn auch mit Schutzmaßnahmen wie Masken und häufigen Schnelltests).

Die Beschreibungen sind übrigens die der Autoren der Studie. Genauer: Zu Welle 1 schreiben sie “At that time, the
country was under a partial lockdown, with day care centers, schools, and leisure facilities mostly closed“, zu Welle 2 “Germany was under a nationwide lockdown” und zur COPSY-Welle 3 “after a summer with low infection rates and a loosening of restriction measures. At that time, schools and cultural/leisure institutions were mostly open, with preventive infection control measures still in place”.

Ich habe das, wie man an den obigen Links ersehen kann, versucht, etwas nachzuprüfen, und es scheint mir anhand der dortigen Meldungen eine sinnvolle Beschreibung zu sein: Welle 1 weitgehend mit Präsenz-Einschränkungen (Schließungen oder Wechselunterricht), Welle 2 noch weitergehend mit ausgesetztem Präsenzunterricht, Welle 3 die Schulgebäude offen, Unterricht mit Schutzmaßnahmen, aber in Präsenz.

Es gibt natürlich noch weitere Unterschiede außer dem Präsenzgrad. In Welle 3 war das Impfen schon monatelang in vollem Gange, im Zeitraum von Welle 2 lief gerade einmal die Impfkampagne für die besonders gefährdeten Menschen in Deutschland an. In Welle 3 dürften eine Reihe von Schüler*innen gerade die Sommerferien hinter sich gehabt haben, in denen für zahlreiche Menschen 2021 ja in der Tat ein Sommerurlaub möglich war. Auch das dürfte geholfen haben.

…und wie sind die Unterschiede?

Wie also waren in diesen Wellen die Unterschiede in der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen? Das hat die Studie anhand von Selbstauskünften der Kinder und Jugendlichen (also eine subjektive Einschätzung) sowie von Auskünften der Eltern (wiederum subjektiv) herauszufinden versucht. Die Antworten wurden dann unter anderem zur Kennzahl “Health-Related Quality of Life”, HRQoL, zusammengefasst – einer offenbar international üblichen, validierten Vorgehensweise (“ICHOM“). Für solche zusammenfassenden Kennzahlen gelten natürlich immer bestimmte Caveats (Mai-Thi Nguyen-Kim hat das in Kapitel 1 von “Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit” ja schön aufgedröselt). Aber ich akzeptiere das hier einmal als ein in der entsprechenden Community übliches Maß für psychisches Wohlbefinden.

Die COPSY-Ergebnisse sind interessant, kurzgefasst: Die Unterschiede zwischen den drei Pandemiesituationen einerseits und der vorpandemischen Situation andererseits ist groß. Aber die Verbesserung von Welle 3 im Vergleich zu 1 und 2 ist vergleichsweise gering (“slight”). Schauen wir uns mal näher an, was das heißt bzw. heißen kann.

Hier ist die entsprechende Abbildung aus dem Preprint:

Figure 2 der COPSY-Studie: niedrige, normale und hohe HRQoL für die vier untersuchten PhasenSich Sorgen über die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu machen bedeutet aus meiner Sicht vor allem, sich die linke Kategorie anzuschauen. Das sind die Jugendlichen bzw. Kinder, denen es schlecht oder schlechter geht, “Low HRQoL”.

Bei denen gab es im Vergleich vor und in der Pandemie einen riesigen Sprung. Eine mehr-als-Verdopplung. Im Vergleich dazu sind die Unterschiede innerhalb der Pandemie allerdings vergleichsweise gering. In der Annahme, dass die Intervalle die 95%-Vertrauensintervalle sind ist der Unterschied zwischen Welle 1 und Welle 3 (die eine mit weitgehenden Schulschließungen, die andere so gut wie ohne Schulschließungen) noch nicht einmal signifikant – die Intervalle überlappen sich.

Ich sehe nicht, wie man das anders lesen kann als so, dass die Schließungen von Schul- und Freizeiteinrichtungen eben nicht der wichtigste Faktor waren und sind, wenn es um die psychische Lage von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie geht. Bei der deutlich größeren Zahl derer, die Low HRQoL sind, also psychisch deutlich belastet, hat es diesen Daten nach im Gegenteil keinen Unterschied gemacht, ob die Schulen/Freizeiteinrichtungen offen oder geschlossen waren.

Selbst wenn wir annehmen, dass alle HRQoL-Unterschiede zwischen Wellen 1/2 und Welle 3 auf die Öffnung oder Schließung von Schulen/Freizeiteinr. zurückgehen (was deren Rolle sicher überschätzt, siehe Sommerferien, Impfzuversicht etc.), würde gelten: Der Unterschied zwischen vor-pandemisch und Welle 3 (19,8 Prozentpunkte) ist deutlich größer als die Unterschiede zwischen Welle 3 und Welle 1 (5,1 Prozentpunkte) und zwischen Welle 3 und Welle 2 (12,6 Prozentpunkte).

Weitere Indikatoren

Außer dem zusammenfassenden HRQoL schaut sich COPSY noch weitere Indikatoren an. Eine Reihe davon findet sich in Tabelle 2 der Studie. Die folgen demselben groben Muster: ein markanter Unterschied zwischen vor-pandemisch und der Pandemie, vergleichsweise kleine Unterschiede innerhalb der drei COPSY-Wellen.

Kinder und Jugendliche mit mental health problems

Vorpandemisch: 17,6%
Welle 1 30,4%
Welle 2 30,9%
Welle 3 29,1%

Unterschied vorpandemisch zu Welle 3 (Präsenzunterricht): 11,5 Prozentpunkte. Unterschied Welle 3 Welle 2 zu Welle 1: 1,8 Prozentpunkte. Bei den besonders harten psychischen Belastungen ist die Diskrepanz also noch viel deutlicher als beim allgemeinen HRQoL. 

Kinder und Jugendliche mit emotional problems

Vorpandemisch: 16,4%
Welle 1 20,9%
Welle 2 23,7%
Welle 3 24,6%

Hier haben wir dann doch eine Abweichung von dem allgemeineren Muster. Allerdings gleich in die andere Richtung: Die emotional problems sind in der Präsenzunterricht-Welle 3 sogar noch größer als im Lockdown.

Kinder und Jugendliche mit conduct problems

“Conduct problems” sind, entnehme ich dieser CDC-Seite, Verhaltensprobleme wie Trotz oder Aggressivität insbesondere auch gegenüber Erwachsenen.

Vorpandemisch: 13,1%
Welle 1 19,2%
Welle 2 19,0%
Welle 3 17,1%

Da ist das Muster wieder, ungefähr so ausgeprägt wie beim  Unterschiedlich vorpandemisch zu COPSY-Welle 3 sind 4 Prozentpunkte, der größte Unterschied zwischen Nicht-Präsenz (hier: Welle 1) und Präsenzphase (Welle 3) sind 2,1 Prozentpunkte.

Kinder und Jugendliche mit Hyperaktivität

Vorpandemisch: 12,8%
Welle 1 23,6%
Welle 2 20,4%
Welle 3 17,4%

Diesmal ist es anders. Vorpandemisch zu Welle 3 sind es 4,6 Prozentpunkte, zwischen Welle 1 und Welle 3 dagegen 6,2 Prozentpunkte. Hier könnte der mangelnde Präsenzunterricht (man denkt natürlich direkt an Sportunterricht) tatsächlich eine Rolle spielen. Was allerdings dann nicht den doch recht großen Unterschied zwischen Welle 1 und Welle 2 erklären würde, immerhin 3,2 Prozentpunkte.

Kinder und Jugendliche mit Peer-Problemen

Peer problems, bestätigt mir dieser Nature-Artikel, sind wie der Übersetzung nach zu erwarten Probleme von Kindern/Jugendlichen mit anderen Kindern/Jugendlichen, bis hin zu Bullying.

Vorpandemisch: 11,4%
Welle 1 21,7%
Welle 2 26,5%
Welle 3 23,5%

Nicht ganz das übliche Muster, aber nahe dran. Vorpandemisch im Vergleich zu Welle 3 sind es 12,1 Prozentpunkte, von Welle 2 zu Welle 3 lediglich 3 Prozentpunkte. Soweit, so gut, wieder ein riesiger Sprung von nicht-pandemisch zu pandemisch, der aber nur zu einem geringen Teil auf den Unterschied “Präsenzunterricht oder nicht” zurückzugehen scheint. Im Gegenteil gab es in Welle 1 sogar weniger Jugendliche mit solchen Problemen als in Welle 3. Wobei da natürlich auch andere Faktoren einen Einfluss haben dürften. In Welle 1 dachten ja vermutlich die meisten von uns noch, dass der Spuk hoffentlich einigermaßen schnell vorbeigeht.

Kinder und Jugendliche mit anxiety syndroms

Bei Angst bzw. Angstzustände ist die Lage wie folgt:

Vorpandemisch: 14,9%
Welle 1 24,1%
Welle 2 30,1%
Welle 3 26,8%

Das alte Muster: COPSY-Welle 3 im Vergleich zu vorpandemisch beachtliche 11,9 Prozentpunkte höher. Differenz zwischen Welle 3 und Welle 2 dagegen nur 3,3 Prozentpunkte. Und auch hier die Werte bei Welle 3 höher als bei Welle 1.

Psychosomatische Symptome

In supplementary Figure 1 sind dann noch die Vergleichswerte für eine Reihe psychosomatischer Symptome dargestellt:

Supplementary Figure 1 der COPSY-Studie: Psychosomatische Beschwerden im Vergleich zwischen den vier betrachteten PhasenKurz gesagt: Überall das Muster, dass die Unterschiede vorpandemisch vs. Welle 3 größer, teils deutlich größer sind als zwischen den Nicht-Präsenz-Wellen 1 und 2 einerseits und Welle 3 andererseits. Bei Kopfschmerzen und Bauchschmerzen ist Welle 3 sogar jeweils am schlimmsten. Nur bei Schlafproblemen und “feeling low” geht es von Welle 2 nach Welle 3 etwas zurück.

Risikogruppen

In Tabelle 3 geht es in der COPSY-Studien dann noch um eine Reihe von Risikofaktoren. Für die Frage, die mich hier interessiert, sind die aber, soweit ich sehen kann, nicht besonders aufschlussreich. Insbesondere überlappen sich in allen Fällen bis auf einen die 95%-Konfidenzintervalle, mit anderen Worten: die Unterschiede sind nicht signifikant. Der einzige Fall, wo das Welle-3-Interval zumindest das von Welle 2 nicht überlappt, ist die Frage, um wieweit es das Risiko erhöht, Angststörungen (“Generalized Anxiety”) zu bekommen, wenn es sich um Mädchen/junge Frauen handelt. Da ist das Risiko allerdings bei Welle 3 deutlich größer erhöht als bei Welle 2.

Was folgt daraus?

Bislang habe ich weitgehend nur referiert, was die Studie aussagt. Ab jetzt geht es um meine persönliche Einschätzung, was daraus folgt. Erstens ist der Unterschied zwischen den Phasen, wo Schulen und Freizeiteinrichtungen geschlossen waren (Welle 1 und 2) und der Erhebungsphase wo sie weitgehend offen waren (Welle 3) wie gesagt vergleichsweise gering, manchmal insbesondere zwischen Welle 1 und Welle 3 nicht mal signifikant. Manchmal ist sogar Welle 3 trotz Präsenzunterricht (oder wegen? das kann man ja nicht ausschließen) die Phase mit der höchsten Prozentzahl an betroffenen Kindern oder Jugendlichen.

Allgemein sind die Unterschiede zwischen Welle 3 (Präsenzunterricht) und Welle 1/2 (zum großen Teil bzw. über längere Zeit kein Präsenzunterricht) geringer als die Unterschiede von Welle 3 (Präsenzunterricht, aber natürlich mit Schutzmaßnahmen) zur vorpandemischen Lage.

Wer sich um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sorgt, darf das Problem also nicht auf Schulschließungen reduzieren – dabei würden dieser Studie nach nämlich offenbar wichtigere und einflussreichere Faktoren unter den Tisch fallen.

Wer mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen argumentiert, muss, um der Sache gerecht zu werden, vor allem schauen: Was sind da denn außer der Schließung von Einrichtungen für Faktoren, die zur Belastung von Kindern und Jugendlichen beitragen? Und sollte dann tunlichst mit deutlich mehr Nachdruck, als in der Debatte um Präsenzunterricht in die Öffentlichkeit gebracht wurde, dafür arbeiten, dass gegen jene Faktoren angegangen wird.

Möglichkeiten gibt es da ja viele: Falls die Angst vor eigener Infektion wichtig ist, wäre wichtig, Schüler*innen besser zu schützen. Falls gesundheitlich besonders gefährdete Schüler*innen, oder Schüler*innen mit der Sorge, jemanden in ihren Familien zu infizieren, einen nicht vernachlässigbaren Anteil der Gruppe mit Low HRQoL gehören, sollte dieses Problem vordringlich angegangen werden.

(Na gut, sollte es eigentlich in einer vernünftigen Gesellschaft sowieso, nicht 19/ nur als Reaktion auf eine entsprechende Studie – was sind wir denn für eine Gesellschaft, wenn wir die besonders Gefährdeten an der Stelle sich selbst überlassen?)

Was auf alle Fälle problematisch ist es, bei der Aussage “Kinder/Jugendliche sind psychisch besonders belastet” direkt und ausschließlich anzuschließen “…weil wir ihre Schulen und Freizeiteinrichtungen zumachen”. Dagegen sprechen die Daten dieser Studie soweit ich sehen kann sehr deutlich – Welle 3 im Vergleich mit Welle 1 und 2, und dann im Vergleich mit der vorpandemischen Lage. Denn im Gegenteil sind die Prozentpunkt-Unterschiede ja zwischen Phasen mit und ohne Präsenzunterricht in der Gesamtschau, bei mental health problems und einer Reihe anderer Kriterien nach deutlich, zum Teil sogar sehr viel kleiner als die Unterschiede von Präsenzunterricht-Phasen zur vorpandemischen Lage. Was immer Kinder und Jugendliche da besonders belastet, die Frage ob Präsenzunterricht oder nicht hat da offenbar netto nur einen im Vergleich zur Gesamtbelastung kleinen Beitrag.

… und was nun?

Jetzt sollten wir erst einmal herausfinden, welche Faktoren denn, wenn ja offenbar nicht die Schließungen, für die besondere Belastung der Kinder und Jugendlichen die größte Verantwortung tragen. Und dazu könnte man ja, ich weiß, verrückter Gedanke, mal anfangen, systematischer mit Kindern und Jugendlichen …zu reden?

Wie es der Zufall so will gibt es ja derzeit unter dem Hashtag #WirWerdenLautD (Nutzerkonto auf Twitter, Hashtag auf Twitter) die genau das von Schüler*innenseite fordern. Und andererseits, sorry: Bei welcher Bevölkerungsgruppe wäre es denn so einfach wie bei den Schüler*innen, von Seiten der Regierenden aus eine umfassende Umfrage durchzuführen und die Betroffenen selbst direkt zu fragen?

Die Schüler*innen kann man über die Schulen *alle* erreichen. Eine Schulstunde für die Umfrage zu investieren ist sicher gut investierte Zeit. Datenschutz sollte bei Anonymisierung auch kein Problem sein. Zumindest den Multiple-Choice-Teil der Umfrage sollte man vergleichsweise automatisch auswerten können. Oder man sammelt die meisten Daten gleich elektronisch. Insofern: Eine gute Entschuldigung, da nicht nachzufragen, sehe ich da nicht. Technisch ist es möglich, und vom inhaltlichen her sollte die jetzt als Preprint erschienene Studie ja eigentlich allen, denen es um das psychische Wohl von Kindern und Jugendlichen geht, einen Ruck verpassen: Hoppla, der Einfluss der Schulschließungen und Freizeiteinrichtungs-Schließungen ist offenbar vergleichsweise gering – aber woran liegt es dann?

Bevor wir das nicht wissen, kann die Politik da auch nicht effektiv gegensteuern. Insofern hoffe ich auf breite Diskussionen, auf eine Medien-Berichterstattung die das Thema jetzt, wo wir endlich systematische Daten haben, mindestens so prominent in die Öffentlichkeit bringt wie die bisherigen Diskussionen über Schulschließungen, und auf eine Wissenschaft, die dann hoffenbar zeitnah herausfindet, was man tun kann, um die Kinder und Jugendlichen wirksam zu entlasten – insbesondere die, bei denen die Pandemie zu starker psychischer Belastung (Low HRQoL bzw. mental health problems) geführt hat.

Und ja: die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie automatisch auf das Aussetzen von Präsenzunterricht zu schieben, das sollte man zumindest den Ergebnissen der COPSY-Studie auf alle Fälle auch nicht mehr machen.

Anmerkung zu Kommentaren

Gerade bei einem Thema wie diesem werden Diskussionen bisweilen unübersichtlich oder laufen ganz aus dem Ruder. Alle Kommentare in diesem Blog sind moderiert, und ich werde nur Kommentare freischalten, die sich direkt auf das Thema dieses Blogbeitrages eingehen und die keine Beleidigungen enthalten. Es gibt genügend allgemeine Foren, um über die Pandemie zu diskutieren; direkt hier bei diesem Blogbeitrag möchte ich die Diskussion auf das Beitragsthema einschränken.

Ein Dankeschön an Frank Rigert für den Hinweis auf mehrere Tippfehler!

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

5 Kommentare

  1. Mir ist nicht klar geworden, was Ihre Schwierigkeit mit den Wellen ist.
    In der verlinkten Studienbeschreibung wird von einer Befragung und 2 Folgebefragungen gesprochen, also 3 (Befragungs-)Wellen. Die sind natürlich nicht mit Covid-Wellen gleichnummeriert.

    • Genau diese nicht-Gleichnummerierung mit der herkömmlichen Covid-Wellen-Zählung finde ich potenziell verwirrend – bin auch von einem Leser direkt darauf angesprochen worden. Ist keine echte Schwierigkeit, nur etwas, worauf ich hinweise.

  2. Problematisch ist hier die Lage im Jahr. Welle 1 mit Schulschließungen lag über die Wonnemonate schlechthin, also da, wo es allen durchschnittlich deutlich besser geht, als im Dezember und Januar (Welle 2). Die Schlussfolgerung Schulschließung ist kein Problem ist da schwierig. Es gibt zu viele andere Einflussfaktoren! Und dass es den Schülern mit Maske (sogar in Sport) Dauertests und haltet Abstand auch nicht gut geht, ist auch selbstredend. Plus die Problematik nach hinten raus durch die Schulschließung. Den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde vorne und hinten in der Pandemie in Deutschland nicht gerecht. Nicht umsonst hat die FDP bei den jungen Wählern stark zugelegt.

    • Nicht nur die Lage im Jahr – am Anfang waren wir alle ja sehr viel optimistischer. Und ja, es gibt viele Einflussfaktoren. Deswegen ist es ja so problematisch, wenn sich ein Großteil der Diskussion nur um Distanz- versus Präsenzunterricht dreht. Das dürfte mit dazu beigetragen haben, dass die anderen Faktoren – und darauf, dass es die gibt, weist die Auswertung hier ja gerade hin – und damit vieles von dem, wie man Kinder und Jugendliche in der Pandemie besser hätte unterstützen können, vernachlässigt wurde. Wobei ich da durch die Regierungsmitverantwortung der FDP aktuell zugegebenermaßen keine große Änderung sehe. Da liegt weiterhin vieles im Argen.

  3. Danke! Trotz des benannten Problems der vielen Einflussfaktoren ein schöner, hilfreicher Artikel. Schöne Idee mit der direkten Befragung der Schüler. Aus der Forschungspraxis kenne ich ein wenig die Hürden, die dem entgegenstehen, gerade wenn es von oben kommt. Und von unten geht wahrscheinlich auch nicht, weil die Schüler es allein nicht hinbekommen und, sobald ihnen jemand sichtbar hilft, schon wieder misstrauisch würden.

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