BICEP2-Update: Wie steht’s mit Inflation und Gravitationswellen?
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Über die Bekanntgabe des BICEP2-Teams vom Montag, dessen Bedeutung für Inflationsmodelle, Kosmologie, Gravitationswellen und Quantengravitation hatte ich in diesem Beitrag hier bereits ausführlich geschrieben; wer ihn noch nicht gelesen hat, möge dies bitte an dieser Stelle tun, da ich einiges, was ich dort erklärt hatte, hier voraussetze.
Seit Montag laufen, kaum verwunderlich ob der grundlegenden Bedeutung der Ergebnisse – wenn sie denn richtig sind – einige interessante Diskussionen. Das, was ich dazu schreiben möchte, hat zwei Aspekte. Zum einen ist da die naheliegende Frage, was da unter den Wissenschaftlern diskutiert wird, wie sie die neuen Ergebnisse einschätzen und welche Vorbehalte sie haben. Zum anderen stellt sich die Frage, was die Art und Weise, wie diese Ergebnisse öffentlich gemacht wurden, für den Wissenschaftsbetrieb bedeutet. Da ich gemerkt habe, dass der erste Teil doch weiter in die Tiefe geht, der zweite dagegen durchaus allgemeiner von Interesse sein könnte, habe ich die Texte getrennt. Hier geht’s um den Inhalt der Diskussion, in dem anderen (späteren) Beitrag dagegen um die Meta-Aspekte.
Zum Vorgehen in diesem Teil: Ich bin nicht Experte genug, um all das, was ich hier schildere, direkt selbst aus den BICEP2-Fachartikeln herausziehen zu können; es handelt sich um eine abwägende Zusammenfassung aus Diskussionsbeiträgen, die ich dann jeweils verlinke.
Buppel und Fluktuationsüberschuss bei kleineren Skalen
Ich hatte in meiner Beschreibung der BICEP2-Ergebnisse bereits erzählt, dass bei den Fluktuationen die Größenskala sehr wichtig ist. Ein gutes Bild ist dabei das eines Ozeans. Dort können Wellen entlangschwappen, deren Wellenkämme, sagen wir, 10 Meter auseinanderliegen – das wären Oberflächenfluktuationen auf einer Größenskala von 10 Metern. Aber wenn wir uns die ansteigende Flanke einer solchen Welle anschauen, könnten wir sehen, dass sie nicht ganz glatt ist, sondern dass dort, sagen wir, kleine Unregelmäßigkeiten, kleine Mini-Wellen auftreten, bei denen zwischen den Wellenkämmen nur jeweils 50 Zentimeter liegen. Insgesamt hätten wir dann Fluktuationen auf zwei Größenskalen: 10 Meter und 50 Zentimeter.
In einem Diagramm “Wieviel Fluktuationen bei welchen Größenskalen?” würde das etwa so aussehen:
Dass die blaue Kurve nur bei Werten um 0.5 Meter (=50 cm) und 10 Meter von Null abweicht, entspricht der Aussage, dass nur Fluktuationen bei ungefähr diesen beiden Größenskalen auftreten. Und die Höhe der Maxima zeigt: Die großen 10-Meter-Wellen sind dominant, die kleineren Schwankungen sind deutlich weniger stark.
Genau diese Art von Grafik wird benutzt, um die Ergebnisse der BICEP2-Messungen darzustellen, denn auch dort geht es darum, wie stark die Fluktuationen bei unterschiedlichen Größenskalen sind – dazu nämlich machen die verschiedenen kosmologischen Modelle, ohne und mit Inflation unter Beteiligung von frühen Gravitationswellen, ganz unterschiedliche Aussagen.
Ein wichtiger Unterschied zu meiner vereinfachten grafischen Darstellung: Auf unserem Ozean messen wir Größenskalen in Metern. An der Himmelskugel misst man Größenskalen in Grad – wenn zwei Maxima der Temperatur der kosmischen Hintergrundstrahlung von uns aus gesehen um 2 Grad auseinanderliegen (sprich: die Beobachtungsrichtung zum ersten und die Beobachtungsrichtung zum zweiten Maximum im Winkel von 2 Grad zueinander stehen), dann sprechen wir von einer Größenskala der entsprechenden Fluktuation von 2 Grad.
Eine kleine weitere Komplikation: In den Grafiken steht dann allerdings nicht “2 Grad”, sondern “l=90”. Die l-Zahl (“klein ell”), das sogenannte Multipolmoment, ist definiert als 180 Grad durch die Winkel-Größenordnung. Große l-Werte entsprechen kleinen Winkel-Größenskalen. Zwei Grad entsprechen Ell gleich 180/2 = 90.
Die zentrale Grafik von BICEP2 ist diese hier (Abb. 2 in diesem Artikel, aus dem ich auch die nachfolgenden BICEP2-Grafiken entnehme):
Man kann sie grob wie folgt lesen: Auf der x-Achse sind die verschieden großen Größenskalen aufgetragen, wie gesagt als l-Wert: Links die großräumigen Fluktuationen am Himmel, nach rechts hin die immer kleineren. In y-Richtung ist ein Maß für die Stärke dieser Fluktuationen (Einheit Mikrokelvin-Quadrat) aufgetragen.
Wichtig ist an dieser Grafik nicht so sehr die genaue Bedeutung der aufgetragenen Werte, sondern wie sie auf die Kurven fallen (oder eben auch nicht). Das ist ja, visuell betrachtet, experimentelle Wissenschaft: Fallen die Messwerte (die Punkte) auf die von meinem Modell vorhergesagte Kurve oder nicht?
Die durchgezogene rote Kurve ist die Vorhersage des normalen kosmologischen Standardmodells ohne inflationsgetriebene Gravitationswellen. Dass die Kurve bei ansteigendem l (also von links nach rechts) ansteigt, liegt an Gravitationslinseneffekten: Der Gravitationseinfluss dazwischenliegender Massen verzerrt die Hintergrundstrahlung ein bisschen und führt dabei auch zu Fluktuationen der hier untersuchten Art.
Die untere gestrichelte Kurve ist die Vorhersage eines Inflationsmodells mit der von BICEP2 jetzt behaupteten Stärke des Gravitationswellen-Einflusses (r=0.2). Aber auch bei solchen ursprünglichen Fluktuationen kommen dann nachträglich, wenn das Licht durch den Weltraum zu uns läuft, zusätzlich die Gravitationslinseneffekte ins Spiel; bei Beobachtungen würde man deswegen, wenn das betreffende Inflationsmodell richtig ist, die abweichende obere gestrichelte rote Kurve (Inflations-Polarisation plus Gravitationslinseneinfluss) erwarten.
In schwarz sind die (zusammengefassten) Messwerte für die Stärke des hier betrachteten Typs von Fluktuation (“BB-Moden”) aus den BICEP2-Messungen gezeigt. Die blauen Punkte sind ein Test: da haben die Wissenschaftler dieselben neun Werte einmal für die ersten anderthalb Jahre ihrer dreijährigen Messzeit, dann für die zweiten anderthalb Jahre gebildet und die Ergebnisse voneinander abgezogen (“Jacknife test”, wörtlich “Klappmesser-Test”). Gibt es systematische Unterschiede zwischen den beiden Messreihen, dann sollten die Differenzen (eben die blauen Punkte) merklich von Null abweichen. Das ist im Rahmen der Messunsicherheit (senkrechte blaue Linien oberhalb/unterhalb jedes Messpunkts) aber nicht der Fall.
Bei den schwarzen Punkten sieht man schon mit bloßem Auge: die liegen links deutlich über der durchgezogenen roten Kurve. Irgendetwas ist da anders als bei den Modellen ohne Inflation.
Soweit, so gut. Aber den Leuten ist schnell aufgefallen, dass die schwarzen Punkte weiter rechts zum Teil deutlich über der roten gestrichelten Kurve liegen, deren Richtigkeit BICEP2 behauptet (David Spergel hier, Peter Coles hier, Phil Bull hier, Antony Lewis hier).
BICEP2 vs. sein (unveröffentlichter) Nachfolger
In ihrem Artikel ziehen die BICEP2-Leute als Antwort auf diesen Einwand erste (aber noch unveröffentlichte!) Daten des BICEP2-Nachfolgers heran, des Keck Array (vereinfacht: eine Batterie von fünf BICEP2-Teleskopen). Da beides Projekte der gleichen Gruppe sind, ist das möglich – das BICEP2-Team kennt diese Daten. Kombiniert ergibt sich das folgende Bild:
Interessant sind die sternchenförmigen Messpunkte, die BICEP2 und Keck Array-Daten kombinieren. Damit liegen die Messungen im rechten Bereich nicht mehr so stark über der Kurve wie allein für BICEP2 (was allerdings die Frage nicht löst, welche systematischen Fehler bei BICEP2 zu dem Überschuss führen). Dafür fällt allerdings auch der Buppel links, also das Zeichen für die Inflations-Gravitationswellen, niedriger aus (z.B. David Spergel hier). Der Effekt ist nach wie vor vorhanden, aber die konkreten Werte (insbesondere der erwähnte Wert r=0.2) könnten sich damit durchaus verändern. (Insgesamt zu den Fragen in diesem Abschnitt vgl. auch hier.)
Unterschiedliche Frequenzen?
Eiichiro Komatsu (einer der Direktoren am Max-Planck-Institut für Astrophysik) hat in einem Facebook-Kommentar noch einen weiteren Aspekt angesprochen. Wenn das Signal tatsächlich aus der Frühzeit unseres Universum stammt – eben die erhofften ursprünglichen Gravitationswellen – dann sollte der Kurvenverlauf der Fluktuationsstärken nicht davon abhängen, bei welcher Frequenz man misst. Für Polarisation, die nicht durch die frühen kosmologischen Effekte zustandekommt, sondern z.B. durch Staubemissionen in unserer eigenen Galaxie, gilt das nicht.
Komatsu hatte daher schon vor der Veröffentlichung am Montag zwei Kriterien festgelegt, die ein Resultat zu den frühen Inflations-Gravitationswellen erfüllen müsste, damit er überzeugt wäre: Erstens ein deutlicher Nachweis bei verschiedenen Winkel-Größenskalen (verschiedenen l-Werten auf den x-Achsen der vorangehenden Grafiken). In dieser Hinsicht, schreibt er, seien seine Erwartungen deutlich übertroffen worden. Zweitens ein deutlicher Nachweis bei mehr als einer Frequenz. Daran hapert es offenbar noch.
BICEP2 misst bei 150 GHz (also im Mikrowellenbereich, der üblicherweise von 1 bis 300 GHz gefasst wird; Mikrowellenherde arbeiten üblicherweise bei rund 2,5 GHz).
Der Vorgänger BICEP hat bei 100 GHz gemessen. Die BICEP2-Veröffentlichung setzt die Daten zwar zueinander in Bezug, aber ein Nachweis direkt bei 100 GHz kommt dabei nicht heraus (wenn das der Fall gewesen wäre, wär der ja auch schon in den BICEP-Fachartikeln veröffentlicht). Insofern sieht Komatsu sein zweites Kriterium derzeit noch nicht erfüllt.
Die anderen Teleskope, die sich die kosmische Hintergrundstrahlung ansehen (und z.T. selbst Hoffnungen gehabt haben werden, die Inflationsspuren als erste nachzuweisen) dürften seit Anfang der Woche auch aktiv daran arbeiten herauszufinden, wie sie die neuen Ergebnisse nachvollziehen, stützen, prüfen, erweitern können. Polarbear in Chile hat bislang vor allem ebenfalls bei 150 GHz gemessen, stellt aber im Rahmen des Upgrades zum “Simons Array” auf ein Doppelsystem um, das auch bei 95 GHz messen kann. Sein direkter Nachbar, das Atacama Cosmology Telescope ACT, hat gleich drei Messbereiche, nämlich bei 148GHz, 218GHz und 277GHz. Wenn sich aus diesen Quellen eine Bestätigung bei einer anderen Frequenz ergibt, wäre das Ergebnis schon deutlich sicherer.
Und dann ist da noch der Planck-Satellit, dessen Messungen bei diesen ganzen Diskussionen im Hintergrund lauern, aber derzeit noch ausgewertet werden und noch nicht veröffentlicht sind. Planck hat noch bei einer ganzen Reihe von Frequenzen mehr gemessen. Die entsprechenden Polarisations-Messungen sind allerdings noch nicht veröffentlicht – aus dem Planck-Team ist zu hören, dass damit Oktober oder November zu rechnen sei.
Was kann da im Vordergrund noch los sein?
Wie steht es generell mit den Vordergrund-Einflüssen, also all dem, was nicht aus der frühen Urknallphase sondern aus unserer kosmischen Nachbarschaft kommt? Das BICEP2-Team hat dazu in seinem Artikel diese Grafik gezeigt (dort Abb. 6):
Dabei ist oben wieder die Fluktuationsstärken-Messkurve eingezeichnet. Unten in bunt zeigen die Forscher die Fluktuationen der betrachteten Art, die sich in unserer eigenen Galaxie ergeben sollten und nicht kosmologischen Ursprungs sind. Hauptproblem: Für diese hausgemachten Fluktuationen gibt es derzeit noch kein allgemein etabliertes Modell. Auch das wird sich mit mit der Veröffentlichung der Polarisationsdaten des Planck-Satelliten ändern, aber bis es soweit ist, hat das BICEP2-Team hier zumindest gezeigt, dass für die Abschätzungen, die derzeit im Umlauf sind, der Vordergrund nicht ins Gewicht fällt. Die verschiedenenModelle unterscheiden sich z.B. dadurch, wieweit sie auf welchen Daten beruhen, und wieweit und welche Modelle des galaktischen Magnetfeldes eingehen.
Auch an dieser Vordergrund-Analyse hat es Kritik gegeben – von Clive Dickinson vom Jodrell Bank-Observatorium, dessen Forschung sich um genau solche Vordergrund-Messungen dreht, und dessen Enttäuschung mit den von BICEP2 vorgelegten Vordergrund-Analysen man daher durchaus ernst nehmen sollte. Definitiv kann man dazu wohl erst etwas sagen, wenn Ende des Jahres die entsprechenden Planck-Daten vorliegen. Andererseits gilt natürlich jetzt schon, wie in der Abbildung zu sehen: Zumindeset den bestehenden Abschätzungen nach sollte dieser Effekt keine wesentliche Rolle spielen.
BICEP2 und seine Vorgänger
Um fair zu sein und auch die Pluspunkte der Messung zu würdigen: Abb. 14 in dem erwähnten Artikel zeigt sehr schön, wieviel genauer die Messungen von BICEP2 sind als die Vorgänger; Voraussetzung dafür, dass der Nachweis des Gravitationswellen-Einflusses überhaupt möglich war:
Dass die Messpunkte der anderen Messungen dabei jeweils durch nach unten zeigende Dreiecke dargestellt sind, hat einen ganz bestimmten Sinn: Dabei handelte es sich immer nur um Obergrenzen (also “der wahre Wert ist niedriger als durch dieses Dreieck angezeigt”). Wenn man noch bedenkt, dass die y-Achse hier logarithmisch ist (einen größeren Messstrich nach unten gehen heißt eine Verbesserung um einen Faktor 10), sieht man schon, dass BICEP2 hier ganz schön zugeschlagen hat. (Allerdings sieht man eben auch in diesem Plot die abweichenden schwarzen Messpunkte im rechten Bereich, s.o.)
Diese Leistung wird auch von allen Fach-Kommentatoren, die ich da gelesen habe, anerkannt. Das ist ein solides Ergebnis, gute Messung, beeindruckende beobachterische Leistung, kann man da ziemlich universell lesen.
Kommt das mit Planck hin?
Gibt es einen Widerspruch der Messungen mit den bereits veröffentlichten Daten des Planck-Satelliten? Auch diese Frage wird von vielen diskutiert (z.B. in der Facebook-Gruppe oder auf Astrobites hier). Ich hatte oben kurz und in meinem ersten Beitrag auch schon den r-Wert erwähnt, der Informationen dazu liefert, welchen Anteil die Inflation-Gravitationswellen-typischen Fluktuationen an den Gesamtfluktuationen haben. BICEP2 hat ein r von ungefähr 0,2 geliefert – das ist Hintergrund all der Aussagen, die Urknall-Gravitationswellen seien entdeckt, es gäbe jetzt eine Bestätigung der Inflationsmodelle und so weiter. Planck hatte aber eine Obergrenze für r von 0,11 geliefert. Ein Widerspruch?
Zunächst einmal hatten wir oben gesehen: Möglicherweise holen die Daten des BICEP2-Nachfolgers Keck Array den r-Wert ja bereits etwas herunter.
Zweitens ist der r-Wert von 0,2 derjenige, der sich ergibt, bevor man (nicht-kosmologische!) Vordergrund-Beiträge abzieht (z.B. hier). Vordergrund-korrigiert kommt “nur noch” r=0,16 heraus. Aber da die Vordergründe noch nicht so sicher sind (siehe vorangehender Abschnitt) hat das BICEP2-Team beschlossen, erst einmal den unkorrigierten Messwert so stehen zu lassen – welcher korrigierte Wert sich daraus ergibt, kann dann später mithilfe der Planck-Korrekturen ausgerechnet werden. Clive Dickinson in dem bereits zitierten Kommentar sieht an dieser Stelle einiges an Potenzial, das BICEP2-Ergebnis doch noch in den Bereich der erwähnten Planck-Obergrenze von r~0.1 zu bringen.
Aber weil Planck seine schon veröffentlichten physikalischen Ergebnisse über andere Messgrößen abgeleitet hat als BICEP2, gibt es auch noch andere Möglichkeiten, wie beides zusammenpassen kann. Das Missverhältnis “r<0,11 vs. r=0,16” gilt in dieser Form insbesondere nur, wenn man eine besonders einfache Form der Abhängigkeit der Fluktuationen von der Größenskala annimmt. Bei dieser einfachen Form spielt neben dem r im wesentlichen noch ein weiterer Faktor eine Rolle, nämlich ns, der “scalar spectral index”. Herkömmliche Inflationsmodelle sagen einen Wert nahe 1 voraus. (Ein Wert von exakt 1 würde heißen, dass sich die Stärke der Fluktuationen mit der Größenskala gar nicht verändert, sogenannte Skaleninvarianz.)
Lässt man kompliziertere Abhängigkeiten zu – etwa, dass sich der Index ns selbst ein wenig von Größenskala zu Größenskala verändert – dann erhält man auch aus den Planck-Daten andere Abschätzungen. Hier ist Abb. 4 aus dem Artikel des Planck-Teams zu den Einschränkungen für Inflationsmodelle, die sich aus den ersten, im Frühjahr letzten Jahres veröffentlichten Planck-Daten ergeben (via Oliver DeWolfe):
Blau eingezeichnet sind die den Planck-Daten nach wahrscheinlichsten Wertepaare für r und ns unter der Annahme des einfachsten Modells (ns verändert sich nicht mit der Größenordnung der Fluktuationen). Die Wahrscheinlichkeit, dass das tatsächliche Wertepaar im dunkelblauen Bereich liegt, beträgt 68%, dass es im hellblauen liegt, 95%.
Die roten Flächen liefern die gleiche Abschätzung (dunkelrot 68%, hellrot 95%) für den Fall, dass sich ns von Größenskala zu Größenskala verändern kann (“laufendes ns“, “running ns“).
Bereits mit diesem Übergang zu einem Modell mit mehr Freiheiten sind die Widersprüche verschwunden. Und es kann offenbar noch eine ganze Reihe anderer Veränderungen der Modelle geben, mit denen sich die bisherigen Planck-Resultate und die BICEP2-Resultate in Einklang bringen lassen (z.B. diese Diskussion hier). Insofern dürften in den nächsten Monaten zu diesem Thema nicht nur weitere Diskussionen der Beobachtungsergebnisse, sondern auch Beiträge von diversen Theoretikern veröffentlicht werden, die ihre Modell – und da gibt es im Bereich Inflation und Umfeld ja sehr viele! – daraufhin abklopfen, ob sich diese Parameterkonstellation erreichen lässt.
Und auch an dieser Stelle dürfte gelten: Weitere Planck-Ergebnisse gibt’s im Oktober/November, und damit dürfte die Situation dann wieder klarer werden.
Fazit
Das Fazit der bisherigen Diskussionen? Von der Sache her: Eine Reihe von kritischen Nachfragen, aber zumindest bislang kein “Kaisers-neue-Kleider”-Moment.
Insofern haben wir es mit einer ganz anderen Situation als z.B. bei den angeblichen Arsen-Lebensformen der NASA zu tun, wo die Diskussionsbeiträge der Fachwissenschaftler ganz andere Werte auf der Ungläubigkeits-Skala erreichten.
Stattdessen scheint unter den Fach-Kommentatoren Einigkeit bezüglich des allgemeinen Respekts gegenüber den Messungen der BICEP2-Forscher zu herrschen. Wobei Respekt nicht heißt, dass nicht auch in der hier beschriebenen Weise kritisch nachgefragt würde. Aber bei den hier wiedergegebenen Nachfragen gibt es sämtlich gute Chancen, bis Ende des Jahres – im Vergleich mit den Zeitskalen wissenschaftlicher Forschung ein durchaus kurzer Zeitraum – allgemein akzeptierte Antworten zu erlangen. Insbesondere die bis dahin zu erwartenden neuen Daten des Planck-Satelliten werden dabei eine wichtige, wahrscheinlich die entscheidende Rolle spielen. Dann werden wir definitiv wissen, ob die BICEP2-Ergebnisse in der Tat so spektakulär sind, wie es derzeit den Anschein hat. Die Chancen stehen aber offenbar, dem aktuellen Stand der Diskussion nach zu urteilen, gut.
Der Fingerabdruck der Inflation in Form von polarisierten Gravitationswellen, die sich in den Mikrowellenhintergrund eingeprägt haben. Ein so aufschlussreiches und zugelich subtiles Indiz, dass selbst Arthur Connon Doyle neidisch wäre, hat er doch seinen Sherlock Holmes schon vertrackte, scheinbar unlösbare Kriminalfälle mit Indizien in Staukorngrösse lösen lassen und dennoch nie zur Aufklärung eines Welträtsel beigetragen.
Es geht jetzt darum, diesen Indizienbeweis durch weitere Indizien zu sichern. Anders als in einem Kriminalfall, wo oft ganz unterschiedliche, oft kaum kausal verknüpfte Indizien bei der Aufklärung helfen, geht es hier vor allem um weitere Beobachtungen durch andere Platformen und in anderen Frequenzbereichen. Letztlich gibt es nur ein Indiz – eben die B-Moden-Polarisation der Hintergrundsstrahlung. Und diese kann eigentlich nur durch Gravirationswellen entstanden sein. Diese wiederum haben nur deshalb Spuren am Himmel – also in astronomischen Dimensionen – hinterlassen, weil das Raumgebiet in dem sie sich ausbreiteten ins Gigantische aufgeblasen wurden. BICEP2 hat nur einen winzigen Himmelausschnitt – gerade einmal einen 2 Grad grossen Fleck am Himmel – untersucht. Trotzdem sind sich alle ziemlich sicher, dass der Mikrowellenhintergrund in jeder beliebigen Richtung diese B-Moden-Polarisation aufweisen wird. Und Planck vermisst sowieso den ganzen Himmel und wird wohl die B-Moden ebenfalls nachweisen.
Es bleibt natürlich wie bei jedem Indizienbeweis die Frage, ob nicht eine ganz andere Interpretation möglich wäre. Je mehr Wissen man sich über den Mikrowellenhintergrund erwirbt, desto klarer wird das Bild werden. Dass es auch noch andere Indizien als die B-Moden-Polarisation für die kosmische Inflationsphase zu Beginn unseres Universums gibt, ist eher unwahrscheinlich. Es ist nämlich ein Wunder, dass überhaupt eine Spur von der Inflation übrigblieb.
Doch vielleicht kann man sogar noch mehr aus dem Mikrowellenhintergrund herauslesen. Professor Andrei Linde jedenfalls glaubt, dass die Inflation letztlich zu einem sich fraktal entwickelnden Multiversum gehört – und hofft dass in 20 Jahren oder so, selbst Indizien für ein Multiversum gefunden werden.
Was halten sie von der Behauptung die ich mehrmals gelesen habe das diese Messergebnisse ein Multiversum wahrscheinlicher machen würden???
Ob die BICEP2-Messergebnisse auf ein Multiversum hinweisen hängt davon ab was für eine Art Inflation gefunden wurde. Andrei Linde glaubt an eine chaotische Inflation (Zitat)“it features an inflaton that decays quickly, but also allows quantum fluctuations to trigger new bursts of inflation, giving rise to other universes.”
Doch solche Feinheiten wie die Art der kosmischen Inflation (chaotisch, natürlich, Higgs-ähnlich, stufenweise) kann ein einzelnes Messresultat wie das von BICEP2 nicht beantworten. Die Hoffnungen ruhen hier auf Planck. Allerdings hat Planck noch die Technologie von BICEP1 an Bord um die Polarisation der Hintergrundsstrahlung zu bestimmen. Es könnte auch sein, dass Planck deshalb bei dieser Frage nicht wirklich weiterhilft.
Der arxiv-Artikel Dynamical Chaotic Inflation in the Light of BICEP2 beschäftigt sich gerade mit der Fate ob die BICEP2-Messungen die These vom Multiversum unterstützen. Diese These ist gleichbedeutetend mit einer dynamischen chaotischen kosmischen Inflation. Sie kommt zu folgendem Schluss:
Um zu erklären, warum genau die richtigen Bedingungen für den für. unser Universum nötigen Inflationsverlauf vorlagen, ist “Eternal inflation” schon kein schlechter Ansatz. Insofern ist das damit verbundene Multiversum meiner Meinung nach in der Tat durch die neuen Ergebnisse plausibler geworden. Aber das ist alles sehr spekulatives Terrain.
Ist es nicht so, daß auch das ekpyrotische Modell von Steinhardt und Turok B-mode Polarisation vorhersagt? Könnt ihr dazu etwas sagen?
Ekpyrotische/zyklische Modelle haben, soweit ich weiss, eher keine (oder nur sehr, sehr wenige) B-Moden. Warten wir erst einmal ab, was denn nun der richtige r-Wert ist, aber es ist gut möglich, dass wir uns dann vom ekpyrotischen Universum verabschieden müssen.