Ist das noch Bio oder schon Chemie?

BLOG: Quantenwelt

Gedanken eines Experimentalphysikers
Quantenwelt

“Physik die, die Wissenschaft von den Naturerscheinungen im Bereich der unbelebten Materie sowie von deren Eigenschaften, […]” so beginnt der erste Satz im Eintrag meines Lexikons. Das ist eine schöne Definition. Sie greift genau das auf, was sich Laien bei der Abgrenzung der Naturwissenschaften voneinander vorstellen: Biologie ist alles, was belebt ist. Chemie ist irgendwie künstlich, meist giftig. Auf keinen Fall eine Naturerscheinung, sondern von Menschen gemacht. Nur die Physik vereint Natur mit unbelebt.

Es ist gar nicht so einfach, die drei großen Naturwissenschaften1, Biologe, Chemie und Physik, voneinander abzugrenzen. Die meisten Menschen kennen diese Wissenschaften aus der Schule und haben eine klare Vorstellung davon, welches Wissen diesen Fächern zuzuordnen ist. Biologie behandelt Wissensgebiete wie Atmung, Kommunikation von Insekten, Bienchen und Blümchen, kurz: Alles was lebt. Chemie behandelt im Wesentlichen was passiert, wenn zwei Flüssigkeiten zusammengekippt werden. Seltener: Wenn eine Flüssigkeit mit einem Feststoff in Kontakt kommt.

Wenn naturwissenschaftliche Laien sagen, sie möchten keine Chemie im Essen haben oder sie bevorzugen natürliche Medizin auf biologischer Basis, verstehe ich was gemeint ist. Ich schüttle dennoch meinen Kopf, denn das Weltbild hinter diesen Vorstellungen ist naiv. Es drückt die Hoffnung aus, die Natur sorge schon irgendwie für ihre Geschöpfe. Was die Pflanzenwelt an Nahrungsmittel oder Medikamente hervorbringt, könne nicht schlecht sein. Erst der Mensch verdirbt die Natur durch chemischen Eingriff.

Naiv ist diese Sicht, weil aus naturwissenschaftlicher Sicht nichts dafür spricht, dass die Natur gut ist. Im Gegenteil: Viele Pflanzen und Pilze haben Abwehrmechanismen gegen Fressfeinde entwickelt, also auch gegen uns. Sie sind giftig, ungenießbar oder einfach nur bitter. Diese Abwehrmechanismen sind oft chemische Giftstoffe, die ganz natürlich von Pflanzen oder Pilzen gebildet werden. Chemie im Bio.

Die Grenze zwischen Biologie und Chemie ist konstruiert.2 Was in einem Organismus abläuft lässt sich chemisch oder biologisch erklären. Damit liegt der Unterschied eher in der Herangehensweise. Die Biologie untersucht biochemische Vorgänge auf historischer Grundlage. Ihre Fragestellung ist: Wie hat sich ein Merkmal entwickelt? Sie untersucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Organismen, die auf eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte zurückzuführen sind. Die Chemie untersucht dieselben biochemischen Vorgänge auf Grundlage von Bindungsmodellen und Gleichgewichtsreaktionen. Sie erklärt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Organismen aus vergleichbar ablaufenden chemischen Prozessen im Zellinneren und Änderungen im chemischen Verhalten mutierter Proteine.

Bio und Chemie sind Seiten derselben Medaille. Genießen Sie ihre Chemie im Essen. Ohne würde es nicht schmecken.

Anmerkungen:
1. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer: Astronomie, Geologie, Meteorologie, Ozeanographie,… Nehmen wir die hinzu, wird es gänzlich unübersichtlich.
2. Wie sie wissen, schätze ich den Konstruktivismus
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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

16 Kommentare

  1. Na ja, schlechtes Lexikon erwischt. In der englischsprachigen Wikipedia findet man eine vernünftigere Defintion von Physik: Physics (from Ancient Greek: φυσική (ἐπιστήμη) phusikḗ (epistḗmē) “knowledge of nature”, from φύσις phúsis “nature”) is the natural science that involves the study of matter] and its motion through space and time, along with related concepts such as energy and force
    Diese Wikipedia-Definition ist besser nicht weil sie korrekter ist, sondern weil sie einen guten Eindruck davon gibt, was der Angriffspunkt der Physiker ist. Wenn sich Physiker mit Materie, Raum und Zeit, Energie und Kraft beschäftigen ist nämlich klar, dass sie sich auch in die Chemie und Biologie einmischen können, denn dass in lebenden oder chemischen Systemen ebenfalls Materie, Raum und Zeit anwesend sind, bezweifelt wohl niemand.
    Im übrigen sind die Zeitgenossen gut zu verstehen, die Chemie mit von Menschen hergestellten Chemikalien und die Biologie mit Tieren und Pflanzen wie wir sie alle kennen, verbinden. Denn diese Zeitgenossen gehen von Objekten aus, die sie aus dem Alltag kennen wie Malerfarben, Kopfwehtabletten (gehört zur Chemie) oder die Schweine im Schweinestall oder auf dem Teller (gehört zur Biologie) mit. Letztlich sind es also die Kutlurtechniken und Technologien, die der Mensch hervorgebracht hat, die mit Wissenschaften wie Chemie und Biologie in Zusammenhang gebracht werden. Der Physiker ist in dieser Sicht nahe bei der Atombome, der Chemiker nahe bei der Pharmazie und der Biologie nah bei der Landwirtschaft oder der Naturkunde. Das ist natürlich eine naive Sicht. Und den ausgebildeten Physikern, Chemikern und Biologen ist recht klar, dass ihnen das nicht gerecht wird. Denn sie haben einen grösseren Anspruch an sich selbst und ihre Arbeitsgebiet. Für einen überzeugten Physiker gilt zudem, dass die Chemie nichts anderes als die Physik der Elektronenhülle ist und dass Bilogie nichts anderes als angewandte Chemie ist. Womit es dann klar wird, dass der Physiker am Ursprung aller anderen Naturwissenschaften steht.

    • “Im übrigen sind die Zeitgenossen gut zu verstehen, die Chemie mit von Menschen hergestellten Chemikalien und die Biologie mit Tieren und Pflanzen wie wir sie alle kennen, verbinden.”

      Diese Zeitgenossen dürften inzwischen ausgestorben sein. Heutzutage weiß doch jeder einfache Hobbygärtner, dass Insekten mittels chemischer Botenstoffe miteinander kommunizieren und man sie aus diesem Grund mit Pheromonfallen bekämpfen kann. Außerdem ist die Biochemie seit dem 19. Jahrhundert eine eigene Forschungsdisziplin. Allein in Deutschland gibt es inzwischen über 30 Bachelor-Studiengänge für Biochemie.

      Wenn Leute z.B. “Chemie” im Essen ablehnen, dann sind damit meist allerlei Zusatzstoffe in industriell gefertigten Lebensmittel gemeint. Einige davon sind durchaus als bedenklich einzustufen.
      http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/e-nummern-so-bedenklich-sind-zusatzstoffe-in-lebensmitteln-a-1039029.html

      • Die E-Nummern sind dennoch eine gute Idee, denn damit weiss der Konsument was für Zusatz-/Konservierungsstoffe in einem Produkt enthalten sind. In vielen Fällen dienen die Zusatzstoffe der Konservierung. Die Konservierung, also Haltbarmachung von Lebensmitteln ist ja nicht eine neue Erfindung, sondern uralt. Zu den Konservierungsmethoden gehört Pökeln, (Über-)Zuckern, Räuchern, Einlegen in Alkohol, etc. Diese Uralttechniken sind meist nicht weniger problematisch als die neueren Verfahren. Heute kann man diese Zusatzstoffe vermeiden indem man tiefgekühlte oder eben Frischprodukte kauft.

          • @Joachim Schulz

            Warum habe ich wohl “Chemie” in Anführungsstriche gesetzt? Ich bin mir schon darüber im Klaren was die E-Nummern bedeuten!

        • Ich möchte Konservierungsverfahren ja nicht in Abrede stellen. Das Problem bei den neueren Konservierungsverfahren ist jedoch, dass einige davon Allergien auslösen können. Eine Bekannte von mir ist gegen das Konservierungsmittel Benzoesäure (E210) allergisch. Sobald sie entsprechendes Lebensmittel verzehrt bekommt sie Nesselfieber. Leider fehlt es bei unverpackten Lebensmitteln oft an der Kennzeichnung. Beispielweise aß sie mal in einem Restaurant einen Obstsalat aus angeblich frischen Früchten, der aber offensicht doch mit Benzoesäure behandelt wurde. Sofort bekam sie am ganzen Körper rote juckende Quaddeln.

          • Benzoesäure kann auch in einem “natürlichen” Obstsalat vorkommen, liest man doch:

            Als ein Hauptbestandteil des Harzes Benzoe ist Benzoesäure in Weihrauch – vorwiegend im russisch-orthodoxen Raum[10] – enthalten. Benzoe ist das Harz zweier Baumarten aus der Gruppe der Storaxbaumgewächse (Styracaceae), der „Siam-Benzoe“ (Styrax tonkinensis) und der „Sumatra-Benzoe“ (Styrax benzoin), die beide in Südostasien beheimatet sind.[11] Daneben findet sich Benzoesäure auch in Früchten, zum Beispiel im Paradiesapfel Malus pumila, Preiselbeeren (bis 0,24 % Gehalt), Himbeeren, Heidelbeeren und Pflaumen (Gehalt 0,1–0,2 %) und im Wehrsekret verschiedener Schwimmkäfer der Gattung Dytiscus. Weiterhin kommt Benzoesäure auch in vielen Lebensmitteln wie Milch und Milchprodukten sowie in Honig vor

          • Allerdings sind die Benzoesäurekonzentrationen in Konservierungsmitteln höher als in Preiselbeeren oder Honig:

            Benzoesäure ist als organische Säure in Preiselbeeren, Heidelbeeren und vielen anderen Früchten enthalten. Sie ist darüber hinaus sowohl in Honig als auch in Joghurt, Sauermilch und Käse zu finden. Die in diesen Lebensmitteln enthaltenen Mengen Benzoesäure spielen jedoch im Vergleich zu den in Form von Konservierungsstoffen aufgenommenen Mengen keine Rolle.

            Benzoesäure hemmt in sauren Lebensmitteln das Wachstum von Hefen und Bakterien. Sie wird daher oft in Kombination mit der auch gegen Schimmel wirksamen Sorbinsäure (E 200)Sorbinsäure (E 200) eingesetzt. Die antimikrobielle Wirkung der Benzoesäure wird durch Kochsalz, Acetate und Sulfite verstärkt, weshalb sie oft in essigsauren Lebensmitteln und in Kombination mit Schwefelverbindungen zum Einsatz kommt.

  2. Hallo Herr Schulz,

    “Physik die, die Wissenschaft von den Naturerscheinungen im Bereich der unbelebten Materie sowie von deren Eigenschaften …”

    Lieber Herr Schulz, dass Wissenschaftsgebiete sehr schwer voneinander abgrenzbar sind – da haben Sie sehr Recht. Es ist – so glaube ich – auch nicht der Gegenstand der Untersuchungen, mit der man eine sichere Abgrenzung herbei führen kann, sondern der Gegenstand im Verein mit der Methode.

    Physiker und Esoteriker haben zum Beispiel einen Untersuchungegenstand gemeinsam, nämlich Energiequanten, nur die Methode ist anders.

    Außerdem unterscheiden sich die Untersuchungsgegenstände von Physik, Chemie und Biologie wesentlich in einem Punkt, nämlich in ihrer Komplexität. Ein Biologe, der seinen Untersuchungsgegenstand so reduziert, wie die Physiker komplexe Naturerscheinungen in ihren Modellen, der wird automatisch zum Physiker.

    Und ein Physiker, der über seine Reduktionen hinaus Aussagen macht über das Wesen der Naturerscheinungen, wird zum Metaphysiker.

    Die Philosophen haben übrigens den gleichen Untersuchunsegenstand wie die Physiker, heißen aber Philosophen. Eben weil sie methodisch anders arbeiten.

    Also bitte die Methode nicht vergessen.

    Grüße Fossilium

  3. Ich zitiere mal unseren Phyto-Dozenten: “Pflanzen sind die grössten Chemiker”.
    Viele der Wirkstoffe in pflanzlichen Medikamenten (und im Essen) existieren, weil die Pflanzen sie entwickelt haben, um sich gegen Fressfeinde zu wehren.

    • Und schon bekommen manche Leute Bauchprobleme mit “Bio-Erzeugnissen”,
      die mehr innere eigene Chemie enthalten, als optimierte Sorten mit äußerer
      Chemie, die biologisch abbaubar ist oder die man wegspülen kann.
      Ich verzichte auf altes Bio in Plaste, daß 1 Woche lang durch Europa gereist ist,
      lieber frisch aus der Region, wenn der Händler vertrauenswürdig ist.

      • Die scheinbar natürlichen Lebensmittel vom Bauernhof stammen von Nutzpflanzen und Nutztieren, die in den letzten zehntausend Jahren durch die Züchtung genetisch verändert wurden.
        Die Hitzebehandlung von Lebensmitteln, die zum Beispiel die Bohnen ungiftig macht, ist ebenfalls von einer natürlichen Nahrungsaufnahme weit entfernt.
        Das natürliche Leben der Menschen endete entweder vor zehntausend Jahren durch Ackerbau und Viehzucht, oder vor siebenhunderttausend Jahren durch die Anwendung des Feuers.

  4. Wenn inzwischen Mathematik für wirklich gehalten wird, die ja unveränderliche Figuen beschreibt, also angebliche Räume ohne Zeit, wo ist dann der Unterschied der Naturwissenschaften zur Esoterik?

    Das einzige, was Mathematik tatsächlich beschreibt, ist das NICHTS. Der Holzweg ist breiter, als viele glauben.

    Wettbewerb macht nur dann Sinn, wenn es eine einzig wahre Wahrheit gibt, denn es kann dann keine zweite bzw. andere wahre Wahrheit geben. Diese einzig wahre Wahrheit muß zwingend unveränderlich sein denn alles Wissen muß vollständig bekannt sein, keine neue Erfahrung, generell nichts neues kann hinzukommen.

    Das physikalische Weltbild, das statistische Universum, ist längst gescheitert, denn ein Anfang kann nur die unveränderliche einzig wahre Wahrheit sein.
    Die Reduktion, das Weglassen der Eigenschaften, der Welt, führt in den Nihilismus und seine Abarten, Determinismus und Fatalismus. Das Gegenteil von Etwas ist nicht Etwas und nicht das NICHTS.
    Mathematik ist absolut und totalitär. Ökonomie ist reine Mathematik.

    Mathematik ist keine Abstraktion, keine Verallgemeinerung. Sie ist Reduktion, weglassen von Eigenschaften.

    Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.
    Paracelsus

  5. Meine Unterscheidung von Physik, Chemie und Biologie lautet:
    “Physik ist die Lehre von der unbelebten Natur, Chemie ist die Lehre vom Verhalten der Stoffe und Biologie ist die Lehre von der belebten Natur.”
    Das ist jetzt zwar etwas verkürzt, trifft es aber meiner Ansicht nach recht gut. Zu ergänzen wäre noch, das “dort, wo die Biologie nicht mehr weiter weis, oftmals die Chemie weiter hilft und dort, wo die Chemie nicht mehr weiter kommt, die Physik weiter hilft.”
    Dann gibt es noch die Schnittmenge aus allen dreien, da sich Phänomene unterschiedlich beschreiben lassen. Man kann das meiner Ansicht nach ganz gut mit Venn-Diagrammen (Mengenkreisen) beschreiben: Jeder der 3 Naturwissenschaften ist ein Mengenkreis zugeordnet und sie überschneiden sich so, das es jeweils eine Schnittmenge von jeweils zwei der drei gibt und eine gemeinsame Schnittmenge von allen dreien. Daran erkennt man dann auch, dass es eine klare Trennung eben nicht immer gibt, weil manche Inhalte in jeder der drei vorkommen. Andere dagegen nur in jeweils zweien und wieder andere sind dann dass, was die eine von den zwei anderen besonders unterscheidet, weil es nur dort vorkommt. – Man kann jetzt natürlich die Frage stellen, was (bzw. welche Inhalte) denn dann wo in die Kreise einzuordnen wäre(n), aber das lass ich jetzt mal.

  6. Die Verbindung zweier Welten haben Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel geschafft, und den Nobelpreis für Chemie 2013 dafür bekommen.
    Ihre Computermodelle von Biomolekülen beruhen auf der Zusammenführung von quantenmechanischen Simulationen und klassischen newtonschen Simulationen.
    Man muss eben wissen, wann man wo wie genau hinsieht.

    • Ja, die Chemienobelpreisträger von 2013 haben biochemische Vorgänge mit physikalischen Modellen untersucht womit sie gar 3 Welten verbanden: Die Welt der Biologie (Biochemie), der Chemie (chemische Reaktionen) und der Physik (Quantenmodelle+Modelle der klassischen Mechanik).
      Warum haben Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel dann den Chemienobelpreis 2013 erhalten und nicht den Physiknobelpreis (einen Biologienobelpreis gibt es ja nicht)?
      Wohl weil ihr Fokus auf chemische Reaktionen gerichtet war. Von der Methodik her (Simulation mittels pyhsikalischer Modelle) hätten sie auch den Physiknobelpreis erhalten können.

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