Das große Puzzle

BLOG: Quantenwelt

Gedanken eines Experimentalphysikers
Quantenwelt

Manchmal bekomme ich Anfragen von Alternativwissenschaftlern, ob ich mal einen Blick auf ihre Ansätze werfen kann. Ob ich vielleicht helfen kann, diese zu publizieren und bekannt zu machen. Meistens kann ich das nicht. Zum einen, weil ich kein theoretischer Physiker bin und im Bereich fundamental neuer Theorien, wie den Stringtheorien oder der Loop-Quantengravitation, nicht tief und aktuell genug informiert bin, um etwas fachliches beizutragen. Zum anderen, weil mich solche Ansätze meist selbst nicht überzeugen. Meistens aus demselben Grund: Sie passen nicht in die Physik. Vielleicht beantworten sie eine isolierte Frage irgendwo, aber zu dem Preis, dass alles andere nicht mehr passt.

Katze und Puzzle
Physik ist ein Puzzle

Die Physik ist ein großes Puzzle, die grundlegende Änderung eines Stückes der Theorie hat zur Folge, dass alle benachbarten Stücke ebenfalls angepasst werden müssen. Zudem gibt es feste Stücke, die wir nicht verändern können. Das ist die “Realität”*, der Ausgang von reproduzierbaren Experimenten. Eine Theorie muss die Ausgänge von Experimenten erklären, die sie berührt. Sonst passt sie nicht in die Physik.

Grob lassen sich also zwei Anforderungen an eine neue physikalische Theorie stellen:

  1. Sie muss zur beobachteten Natur passen (konstruktivistisch gesprochen).
  2. Sie muss ins Gesamtbild der Theorien zu anderen Gebieten passen.

Natürlich ist die erste Forderung strenger. Eine Theorie ist widerlegt, wenn sie die Beobachtungen anders vorhersagen als sie tatsächlich gemacht werden, und hat in der Naturwissenschaft nichts zu suchen. So ist jede reine Teilchentheorie des Lichts zum Scheitern verurteilt, wenn sie keine Interferenzen und Überlagerungen erklären kann. Jede Wellentheorie des Lichts muss auch Photoeffekt und Compton-Streuung erklären können.

Bei der zweiten Forderung gibt es schon einmal Ausnahmen. Das Bohrsche Atommodell erlangte zum Beispiel große Aufmerksamkeit, obwohl es willkürliche Annahmen brauchte und gar nicht so recht in die klassische Physik passen wollte. Es erklärte nämlich die Spektrallinien des Wasserstoffatoms verblüffend perfekt und griff die vorher in anderen Bereichen gefundene Quantisierung auf. Aber wirklich zufrieden war mit diesem Modell niemand.

Heute hängt die Latte deutlich höher. Die Quantenmechanik hat das Bohrsche Atommodell überholt und steht experimentell auf sicheren Beinen. Sie geht für große Maßstäbe in die klassische Physik über, passt hier also auch. Nur zur These, dass eine realistische Theorie zu jedem Zeitpunkt einen eindeutigen Ort und Zustand eines Objektes angeben muss und keine instantane Fernwirkung haben darf, passt die Quantenmechanik nicht.

Die Quantenmechanik durch eine realistische, lokale Theorie ersetzen zu wollen, ist ein löbliches Ansinnen. Ich kann diesen Wunsch gut nachvollziehen. Aber mit dem Rückgriff auf naive Teilchenmodelle wird es nicht klappen. Solche Modelle scheitern praktisch immer an dem einen oder anderen komplexen Experiment, das die Quantenmechanik mit Bravour reproduziert. Ich denke da an Experimente an Atomfallen oder in Mikrowellen-Kavitäten, für die es letztes Jahr Nobelpreise gab. Ober an Experimente zum EPR-Paradoxon mit verschränkten Zuständen.

Wenn Sie also glauben, eine gute Alternative zur Quantentheorie gefunden zu haben: Bitte erwägen Sie nicht nur die Experimente aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Über Doppelspalt und Photoeffekt sind wir hinaus. Die anderen Experimente müssen auch passen. Und dann müssen wir noch darüber reden, wie sich das neue Modell zur klassischen Physik, zum Standardmodell der Elementarteilchen, zur Thermodynamik oder zur Relativitätstheorie verhält.

Anmerkung:

*“Realität” steht hier in Anführungszeichen, weil ich mir bewusst bin, dass ein direkter Abgleich der physikalischen Theorie mit einer Realität nicht möglich ist. Theorien wie die spezielle Relativitätstheorie und die Lorentzsche Äthertheorie beschreiben eine unterschiedliche Realität ohne experimentell unterscheidbar zu sein. Dazu aber in einem anderen Beitrag mehr.

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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

13 Kommentare

  1. Wenn Physik ein Puzzle ist, dann sind Theorien, die das gefundene Puzzle in ein grösseres Bild – ein grösseres Puzzle – einbetten, kein Problem.Das erklärt vielleicht mit die Popularität von Weltformeln, Grand unified theories oder auch den diversen String-Theorien und der M-Theory.

    Ebenfalls wenig problematisch können andere Interpretationen des bereits gefundenen sein. Im letzten Spektrum der Wissenschaft (Nov. 2013) wurde eine solche neue Interpretation als Hauptthema abgehandelt. Der sogenannte QBismus, eine Abkürzung für Quantum Bayesianism Dieser Quantum Bayesianism ist eine Quanteninformationstheorie. Sie behauptet, die Wellenfunktion beschreibe keine Realität sondern nur eine subjektive Sicht. Die richtige Sicht auf die Quantenwelt sei eine quanteninformatische Sicht. Der Bayessche Ansatz bedeute, dass sich das Wissen über die Quantenrealität durch Manipulationen dieser Realität (z.B. Messungen) verändere.

    Allerdings konnte mir weder der Spektrum-Artikel noch der Wikipedia-Eintrag wirklich erklären, was wirklich neu am Quanten-Bayesschen Ansatz ist und was davon in Zukunft zu erwarten ist. Es ist auch eigenartig, wenn die Wellenfunktion plötzlich nur noch eine subjektive Sicht auf die Quantenwelt ist, diese Wellenfunktion aber weiterhin für fast alle Berechnungen in diesem Gebiet herhalten muss.

    • Ich habe den Spektrum-Artikel gelesen, als dieser hier schon halb fertig war und mich entschieden, den Punkt mit dem Puzzle erstmal fertigzustellen. Aber ich bin schon halb entschlossen, über den QBismus auch noch etwas zu schreiben. Ich denke nämlich, dass es in ihm ein paar Fallstricke gibt.
      Grundsätzlich glaube ich nicht, dass alle möglichen Interpretationen einer Theorie gleich gut in die Physik passen. Nicht alles erfüllt den zweiten Grundsatz gleich gut. Und hier ist es ja, wo die Physiker anfangen zu streiten, wenn es zum Beispiel darum geht, ob ein willkürlicher Kollaps oder die Viele-Welten-Annahme das kleinere Über ist.

  2. Aus philosophischer Sicht interessant ist, dass deine beiden Anforderungen an eine Theorie, sie müsse zur beobachteten Natur passen, und sie müsse ins Gesamtbild der Theorien zu anderen Gebieten passen, eigentlich konkurrierende Theorien darüber ausdrücken, was eine Aussage wahr macht:

    Für strenger hältst du die Forderung, eine Theorie müsse zur beobachteten Natur passen. Du präferierst damit die Korrespondenztheorie der Wahrheit, laut der eine Behauptung dann wahr ist, wenn sie dem Sachverhalt in der Welt entspricht (mit ihm korrespondiert).
    Die zweite Anforderung, die dir weniger wichtig ist, könnte man als Formulierung der Kohärenztheorie der Wahrheit ansehen: Eine Aussage ist wahr, wenn sie sich widerspruchsfrei in das System der sonstigen Aussagen fügt.

    Die Korrespondenztheorie ist weitaus älter und naiver, und hat zahlreiche Abwandlungen hervorgebracht. Die Kohärenztheorie beantwortet einige Begründungsprobleme der Korrespondenztheorie, ich würde sie daher eleganter nennen. Sie ist auch wissenschaftstheoretisch angemessener, man könnte sie als einen Vorläufer von Kuhns Paradigmenwandeltheorie (The Structure of Scientific Revolutions) ansehen.
    Ich denke, du könntest auf deine erste Anforderung verzichten, wenn du in die zweite Anforderung nicht nur Theorien einschließt, sondern auch einfache Aussagen, und wenn du zu diesen Aussagen beispielsweise die Sätze zählst, die Physiker ausrufen, während sie ein überraschend verlaufendes Experiment beobachten: “Oh, das hat die Theorie aber nicht vorhergesagt, ich glaube da ist gerade ein schwarzes Loch entst…*flupp*”

    • Aus erkenntnistheoretischer Sicht magst du recht haben und ich könnte tatsächlich auf die erste Anforderung verzichten. Aber das würde nicht den tatsächlichen Forschungsalltag der Physik widerspiegeln. Der ist gerade von der Konkurrenz zwischen experimentell arbeitenden und theoretischen Forscherinnen und Forschern geprägt. Es gibt eben Menschen, die den ersten Punkt betonen und damit die, wie du sagst, naive Sicht einnehmen, und andere, die eher den zweiten Punkt, die Harmonie in der Theorie betonen. Du dürftest aber in der Physik selten Menschen finden, die eine Theorie präferieren, obwohl die experimentellen Daten widerspricht, nur weil sie in sich schön und konsistent ist.

      Übrigens zeigt dein letzes Beispiel, wie schwer es ist zwischen Beobachtung und Theorie zu trennen. Der Satz “da ist gerade ein schwarzes Loch entstanden” ist nämlich kein Ausdruck einer einfachen Beobachtung. Es ist bereits die theoretische Deutung der Messung.
      Ein berühmter Satz, den tatsächlich mal ein Forscher bei Beobachtung der Messung ausgerufen haben soll, ist “Who ordered that!” Da ging es um eine Beobachtung zu der es noch keine Deutung gab. Messwerte, die völlig unerwartet waren.

  3. Allerdings steht es nicht von vornherein fest, was die “experimentellen Daten” und “Messwerte” sind, denen eine (jede) Theorie entsprechen muss. Es besteht ja immer die Möglichkeit von Messfehlern. Ob das nun einmalige Ausrutscher sind, die durch vielfache Reproduktion von Experimenten mit der Zeit geglättet werden können (oder die, weil sie der Theorie widersprechen, von vornherein als Messfehler aus dem Paper herausgelassen werden), oder ein prinzipiell ungenügender Laboraufbau, der zu einer systematischen Verfälschung führt: Wenn wir das, was dabei herauskommt, als die einschlägigen Messwerte ansehen, denen eine Theorie entsprechen muss, dann wird die Theorie falsch sein.

    Wie ist das eigentlich bei Experimenten in so großem Maßstab, dass sie nur an einem Ort der Welt und nur mit wenigen Wiederholungen durchgeführt werden können? Ist da zuweilen in der Fachwelt umstritten, ob überraschende Messwerte nun auf Messfehler zurückzuführen sind (und ignoriert werden können) oder die Theorie an sie angepasst werden muss?

    • Naja, Messfehler sind uns in der Physik ja nicht unbekannt. Für stochastische Fehler gibt es Theorien zur Fehlerrechnung. Sie werden mit zunehmender Datenmenge geringer. Systematische Fehler sind da schon schwieriger. Es gibt natürlich fälle, in denen es lange Zeit unklar bleibt, ob die Theorie falsch ist, oder ob ein systematischer Fehler übersehen wurde. Und natürlich gibt es manchmal Experimente, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen, weil die Experimentatoren sie nicht deuten konnten. Daten ohne Theorie sind meistens unpublizierbar.

      Zum zweiten Abschnitt fällt mir die Meldung der Überlichtschnellen Neutrinos vom September 2011 ein: https://scilogs.spektrum.de/relativ-einfach/ueberlichtschnelle-neutrinos/
      Die stellten sich als systematischer Fehler heraus.

      • Zitat:
        “Daten ohne Theorie sind meistens unpublizierbar.”

        Das ist allerdings etwas verschwenderisch – kapazitätsvergeudend. Auch auf die Gefahr hin, man könne sich aufgrund eines banalen Fehlers blamieren, gehört jeder Messwert Dokumentiert und veröffentlicht – mit dem Hinweis, dass die Messwerte leider inkonsistent sind/sein könnten, weil…
        Weil eben komplexe versuchsaufbauten nicht alltäglich sind, ist jeder Messwert von Wert – auch, wenn er offensichtlich Fehlerhaft zu sein scheint.
        .
        An jeder Ecke bekommt man zu hören, das Fehler das größte Potenzial haben, zu lehren und über Bedingungen aufzuklären.
        Aber die akademische Elite braucht ihre “Messfehler” nicht veröffentlichen? Dabei lernt man doch nie aus…!

        • Es gibt durchaus Anstrengungen, die Daten frei zugänglich zu machen. Bei Hochenergieexperimenten, wie am CERN hat ja zunächst die gesamte Kollaboration Zugang zu den Rohdaten, so dass viele verschiedene Gruppen überall auf der Welt die Möglichkeit haben, etwas zu analysieren und zu finden. Aber eine gute Publikation in einem der Top-Journals bekommt man nicht mit Rohdaten. Darum ging es mir. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, müssen die Daten schon interpretiert sein und eine “Geschichte” erzählen.

          Ich hatte dazu schonmal einen Kommentar geschrieben: https://scilogs.spektrum.de/quantenwelt/publizierbar-oder-doch-nur-reproduzierbar/

          Mit veröffentlichten Rohdaten dürften tatsächlich auch nur wenige etwas anfangen können. Aber um Transparenz zu gewährleisten, halte auch ich es für gut, wenn Rohdaten nach einer gewissen Frisst der breiten Öffentlichkeit zugänglich werden.

  4. Die Realität meint die Sachlichkeit, besser vielleicht: Natur, Physik oder Welt.

    Bei einem anderen Verständnis der Realität wären bspw. antirealistische-konstruktivistische Sichten selbstwidersprüchlich.

    MFG
    Dr. W

  5. Was ist, wenn die beobachtete Natur Bedingungen enthält, die vomBeobachter gar nicht sichtbar sind?

    Die zweite Bedingung zu neuen Theorien hat nämlich auch zur Bedingung, dass die bestehenden Theorien Anforderungen zu 1. erfüllen – was leider bedeuten kann, dass auch bei jenen bestehenden Theorien unbeobachtete Bedingungen enthalten sind, die im Naturzustand und Ablauf enthalten sind, im jeweiligen Laborversuch zur Theorie aufgrund von Reduzierung auf vermeindlich “Wesendliches” gar nicht mehr enthalten oder auch dann nicht beobachtbar sind.
    Auch der Laborversuch ist beobachtbarer “Naturablauf” – aber eben nur auf seine vermeindlich wesendlichen Bedingungen reduziert. So wäre solcherart Beweisversuch mindestens für diesen Beweisversuch gültig – nicht zwingend für alle möglichen Ablaufsituationen.

    • Es bedeutete dann im Kern, dass ein Messfehler vorliegt, weil die Messstrategie nicht optimal an die Realität angepast ist.

      Nun kann man aber tatsächlich noch von einer gültigen Messung ausgehen, wenn trotzdem konstante Messwerte ausgegeben werden, die in der Theorie und auch in der Beobachtung einer Realität eine verlässlichkeit und überprüfbares Ergebnis ausgeben. In zweifelhaften Detailbereichen wird man dann eine Anpassungsberechnung vornehmen – eine modifizierte Formel verwenden, um den Messfehler an Extrembereichen zu korrigieren. Und genau das geschieht wohl nicht selten. So kann schnell der Eindruck erweckt werden, dass es keine “Weltformel” geben kann, obwohl es aber doch eine bessere Theorie geben könnte.

      • Im Grunde sind das alles Spezialfälle, die zwar wichtig sind, ich in dem kurzen Kommentar aber nicht erwähnen konnte. Natürlich sind Experimente und freie Beobachtungen beide Teil der “beobachteten Natur” und natürlich kann ein scheinbares Nicht-Passen einer Theorie zur Beobachtung sowohl in Problemen der Theorie als auch in fehlerhafter oder unvollständig dokumentierter Beobachtung liegen.

        Es gibt ja viele Beispiele, wo Theorien modifiziert werden mussten, weil exaktere Experimente/Beobachtungen plötzlich Abweichungen zeigten. Oder umgekehrt, mussten feinere Beobachtungen angestellt werden, um exotische Vorhersagen von Theorien, wie die Quantenmechanik oder Relativitätstheorie zu überprüfen.

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