Abstand und Eigenlänge

Vier Buntstifte. Ihre Spitzen und ihre Enden sind je durch eine Kurve verbunden.

Im Kommentarbereich des Artikels zur materiellen Seite der Längenkontraktion haben wir eine kleine Diskussion zum Begriff der Eigenlänge und Gleichgewichtslänge geführt (so etwa ab dem 23. September 2019). Ich möchte hier kurz die Grundlagen erklären, wie die theoretische Mechanik mit diesen Begriffen umgeht.

Ein Bleistift auf einem Papier, auf dem die Länge markiert ist.
Die Eigenlänge eines Buntstifts ist der Abstand zwischen Spitze und Ende.

Im Bild rechts habe ich einmal für ein konkretes Objekt, einen Buntstift, die Länge eingezeichnet. Sie ist der Abstand zwischen farbiger Spitze und stumpfen Ende des Objektes.

Solch eine Buntstift ist ein recht starres Objekt. Die Länge wird im Wesentlichen durch die zwischen-atomaren Kräfte im inneren des Objektes aufrecht erhalten. Diese Länge nenne ich seine Gleichgewichtslänge.

Der Abstand zweier durch Kreuze auf Papier bestimmter Punkte.
Der Abstand zweier Punkte wird einfach durch den Differenz-Vektor der Punktkoordinaten bestimmt.

Länge ist Abstand

Nehmen wir nun den Buntstift weg, so markiert mein roter Doppelpfeil nicht mehr die Länge eines Objektes, sondern den Abstand zweier Punkte. Da diese Punkte jeweils Spitze und Ende des Buntstiftes markieren, ist das dasselbe wie die Länge des Buntstifts.

Die Länge eines Objektes in in der theoretischen Physik einfach der Abstand zweier Punkte.

Punkte werden durch Vektoren dargestellt, die in kartesischen Koordinaten eine X-Achse, eine Y-Achse und, wenn wir aus der Papierebene herausgehen, auch eine Z-Achse haben. Die Buntstift-Länge kann nun rechnerisch als Betrag des Differenzvektors dieser beiden Orts-Vektoren ermittelt werden. Durch den Satz von Pytagoras also.

Abstand von Linien

Der Abstand von Punkten ist damit recht einfach, vor allem aber eindeutig definiert. Wie ist es nun mit Linien?

Zwei parallele Geraden laufen durch das Bild. Der Abstand ist durch eine Linie eingezeichnet.
Der Abstand paralleler Geraden ist durch eine zu beiden senkrechte Strecke definiert.

Rechts sehen wir den Abstand paralleler Geraden. Da gibt es eine Definition: Man kann eine Strecke zwischen die Geraden legen, die je einen rechten Winkel, also 90° mit beiden Geraden bildet. Die Länge dieser Strecke ist unabhängig davon, wo genau die Strecke eingezeichnet wird. Deshalb definiert dieses Verfahren einen eindeutigen Abstand zwischen den Geraden.

Wären diese Beiden Geraden nicht parallel zueinander, wäre ihr Abstand nicht so klar definiert. In der Papierebene schneiden sich nicht parallele Geraden irgendwo. Ihr Abstand ist an einem Punkt sogar Null. Im dreidimensionalen Raum können auch nicht parallele Geraden aneinander vorbei laufen. Solche Geraden haben immerhin einen minimalen Abstand.

Zwei gekrümmte Linien gehen durch das Bild. In der Mitte ein Fragezeichen.
Der Abstand zweier gekrümmter Linien ist nicht eindeutig definiert.

Links im Bild habe ich nun den allgemeinsten Fall aufgezeichnet: Zwei gekrümmte Linien.

Offensichtlich ist es hier nicht mehr so einfach, einen Abstand zu definieren. Zwischen je zwei Punkten auf je einer der Linien können wir natürlich, wie zwischen allen Punkten, den Abstand angeben. Wir könnten den minimalen, einen mittleren Abstand oder ähnliches definieren. Aber einen eindeutigen Abstand zwischen beliebig gekrümmten Linien gibt es nicht.

Das liegt vor allem daran, dass wir das Verhältnis zweier Geraden zueinander eindeutig angeben können, indem wir nur ihre Parallelität und ihren Abstand nennen. Bei krummen Linien sind viel mehr Parameter notwendig, um sie zu beschreiben.

Weltlinien

Vier Buntstifte. Ihre Spitzen und ihre Enden sind je durch eine Kurve verbunden.
Ein Weg-Zeit-Diagramm stellt die Position eines Objektes zu verschiedenen Zeiten dar.

Stellen Sie sich nun vor, die vier Buntstifte im Bild rechts wären derselbe Buntstift zu vier verschiedenen Zeiten. Die beiden roten Linien würden dann jeweils die zurückgelegten Wege von Spite und Ende darstellen. Nach oben nimmt die Zeit zu, Links-Rechts ist eine Ortskoordinate.

Offensichtlich haben diese beiden Linien einen Abstand, der der Länge des Buntstifts entspricht. Aber dieser Abstand ist nur durch eine zusätzliche Konvention eindeutig: Wir bestimmen ihn stets zwischen zwei Punkten, die nebeneinander auf derselben Höhe liegen. Die also denselben Zeitpunkt bezeichnen.

Die Länge des Buntstiftes ist definiert durch den Abstand von Spitze und Ende zur selben Zeit. Wenn die Gleichzeitigkeit relativ ist, ist also zwangsläufig auch die Länge des Stifts relativ. Und so kommen wir auf die Unterscheidung zwischen Ruhelänge und bewegter Länge eines Bleistifts. Also auf die Längenkontraktion im Weg-Zeit-Diagramm. Die Eigenlänge des Stifts ist der Abstand zwischen Spitze und Ende zur Gleichzeitigkeit seines aktuellen Ruhesystems. Wenn es denn ein solches gibt. Bei beliebig beschleunigten Buntstiften ist das nicht unbedingt der Fall.

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www.quantenwelt.de/

Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

11 Kommentare

  1. Besteht bei dem Bleistift ein Gag darin, dass er ein ‘ein recht starres Objekt’ ist, bei näherer Betrachtung dann doch nicht so starr und dann nicht, streng genommen, in ein und demselben Bezugssystem als Ganzes physikalisch bearbeitet werden kann?
    MFG – WB

  2. Wenn die Gleichzeitigkeit relativ ist.

    Können Sie das bitte nochmal genauer erklären (ich, Laie, habe die damit in Zusammenhang stehenden Links aber nicht gelesen). Ich denke halt, dass der gesamte Bleistift (bei gleichförmiger/unbeschleunigter Bewegung) gleichzeitig an, wenn auch verschiedenen Orten ist (wegen seiner Ausdehnung/Länge).

    Und das aber auch bei beschleunigter Bewegung. Oder meinen Sie, dass das bei beschleunigter Bewegung nicht der Fall ist, da der Bleistift wegen seiner Ausdehnung zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten ist? “Wegen seiner Ausdehnung” so gemeint, da er ja aus Partikeln (“Quanten”) besteht, zwischen denen Abstände (“Leerräume”) sind. Und diese Quanten infolge des (unterschiedlichen) “Luftwiderstandes” (laienhafter Ausdruck für Teilchen, mit denen der beschleunigte Bleistift zusammenstößt) an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich abgelenkt werden = sich also zu verschiedenen Zeiten an verschieden Orten befinden? Was, dachte ich gerade, aber auch bei gleichförmiger Bewegung der Fall ist (unterschiedliche Dichte von Luftwiderstandsteilchen an unterschiedlichen Stellen). Und das auch, kam mir jetzt noch der Gedanke, wenn keine “Leerräume“ bestehen, da der Bleistift ja, genauer betrachtet, nicht starr ist, sondern ein “weiches“ Kontinuum aus Quanten.

    Ruhesystem gibt es, wie Sie schreiben – eigtl. (“wenn es denn”) – nicht. Bzw. nur “subjektiv” empfunden (Eigenzustand-/wert), da “eigtl.” alles immer in Bewegung ist.

  3. Wer’s etwas mathematischer mag: Hier findet sich ein Kapitel zum Bellschen Raumschiffparadox (allerdings in Englisch):

    https://itp.uni-frankfurt.de/~hees/pf-faq/srt.pdf

    Das Kapitel über “starre Körper” ist leider noch nicht geschrieben. Seit Born et al. ist aber wohlbekannt, daß “starre Körper” in der Relativitätstheorie sehr seltsame Eigenschaften haben, die unserer Alltagserfahrung widersprechen.

    Das bekannteste ist das Ehrenfest-Paradox. Demzufolge kann man einen starren Zylinder nicht um seine Achse rotieren lassen, denn da der Körper starr ist, ändert sich definitionsgemäß sein Radius nicht, wenn er als Ganzes um seine Achse rotiert. Da sich aber auf einem Kreis auf am Rand des Zylinders befindliche Punkte bewegen, unterliegen sie der Längenkontraktion, und der Umfang des rotierenden Zylinders ist um 1/gamma kleiner. Da immer noch die Euklidische Geometrie gilt, ist andererseits U=2 pi R. Man kommt also zum Schluß, daß einerseits sich einerseits der Zylinderradius R nicht ändert (starrer Körper), andererseits aber kleiner werden muß, damit die Überlegung mit dem Umfang wieder stimmt.

    Die allgemeine Folgerung ist, daß Born-starre Körper nicht existieren. In der Tat sind reale Körper ja auch stets deformierbar, und wir können ohne Probleme allerhand “quasistarre” Gegenstände zum Rotieren bringen und daher in der nichtrelativistischen klassischen Mechanik Kreiseltheorie betreiben.

  4. In dem folgenden Diagramm ist das Bellsche Raumschiffsparadoxon gut veranschaulicht:

    http://wase.urz.uni-magdeburg.de/kassner/srt/crashcourse/bellparadox.html

    Wenn im inertialen Ausgangssystem die beiden Raumschiffe gleich beschleunigen und zum Schluss die Triebwerke wieder gleichzeitig abschalten, dann fliegen sie inertial weiter:

    • Im Ausgangssystem bleibt der Raketenabstand unverändert und das Seil wurde um den Faktor “Gamma” kürzer (Längenkontraktion).
    • Im bewegten Inertial-Bezugssystem ist er Raketenabstand um den Faktor “Gamma” verlängert, gemessen mit einem mitgeführten Zollstock, und die Seillänge unverändert (wenn es hinten abgerissen ist).

    Das Bellsche Raumschiffsparadoxon ist ein rein geometrisches Problem. Man könnte sich auch die Raketen durch Punkte und das Seil durch eine Strecke konstanter Länge ersetzt denken.

  5. @Joachim (28.09.2019, 18:11 Uhr)

    “Aber selbstverständlich hat die Geometrie Einfluss auf materielle Vorgänge.”

    Ja. Würde z.B. für einen Wechsel des Inertialsystems die Galilei-Transformation anstelle der Lorentz-Transformation gelten, dann gäbe es keine Längenkontraktion und das Seil würde nicht reißen.

  6. Den Abstand zweier Linien können wir (eigentlich nur halb -hypothetisch- gemutmaßt) angeben, weil wir davon ausgehen, dass die die Linien konstituierenden Punktreihen zeitlich invariant bleiben.

    Lege ich zwei schwimmfähige Seile auf einer Wasserfläche parallel aus, werden sich vermutlich nach nicht allzu langer Zeit “gekrümmte Linien ergeben.

    Und vermutlich ist das Konzept “zweier paralleler Linien” so und so nur eine Abstraktion , die in der physikalischen Realität nur dann “erreicht” wird , wenn man die Genauigkeit der Messung nicht übertreibt. Das heist dass man in der Realität “Parallelität” nur dann misst, wen man (mechanisch oder sonstwie) bei der Messung “abstrahiert”.
    Das bedeutet eventuell, dass “Parallelität” nur ein (sehr) vereinfachtes “idealistisches” Konstrukt ist, weil es letztendlich nur “krumme” (und damit nichtparallele) Linien geben kann zu deren beschreibung dann (nahezu ?) unendlich viele Parameter nötig wären.

    Und eventuell ist es deswegen auch zweifelhaft, ob man über solcherart vereinfachte (parallele) “Weltlinien- Konzepte” sinnvolle physikalische Konzepte entwickeln kann.

    • Natürlich ist theoretische Physik eine Abstraktion der Natur. Deshalb nimmt Fehlerrechnung und -abschätzung in der Experimentalphysik einen hohen Stellenwert ein. Wir müssen bei jedem Experiment überprüfen, ob und bis zu welcher Genauigkeit die Voraussetzungen erfüllt sind, um die Theorie anwenden zu können.

      Zwei zueinander bewegte, parallele Seite sind in der Raumzeit übrigens schon parallele Ebenen. Es kommt ja immer noch die Zeitachse dazu.

  7. Die Länge des Buntstiftes und der Abstand auf dem Blatt Papier ist nur für einen Zeitpunkt gleich. Der Zeitpunkt, nach diesem Zeitpunkt, ist relativ zu diesem Zeitpunkt. Und da die Länge relativ zur Gleichzeitigkeit ist, ist auch die Länge relativ.

    Das Blatt Papier ist in Ruhe zu dem Buntstift. Doch der Tisch der in einem Haus steht, dass auf der Erde steht ist nicht in Ruhe zum Sonnensystem. Dann ist auch der Abstand auf dem Blatt Papier nur zu einem Zeitpunkt gleich der Länge des Buntstiftes. Gibt es keine Gleichzeitigkeit, dann ist auch der Abstand auf dem Blatt Papier relativ zu der Länge des Buntstiftes.

    Es kommt wohl mehr darauf an ob jemand auf dem Buntstift kaut. Sollte das nicht der Fall sein. Ist es noch Signifikant ob der Buntstift, wenn das Haus in Äquator Nähe steht, in der Nord-Süd-Achse ausgerichtet ist. Denn dann ändert sich, mit der nicht Gleichzeitigkeit, der Durchmesser und die Geometrie mehr, als die Länge. Auch ohne das jemand auf dem Buntstift kaut.

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