Geiz ist geil

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Das menschliche Miteinander auf der Couch
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An einem wolkenverhangenen Sonntag genieße ich gern einen Latte Macchiato in meinem Lieblingscafé und schmökere in einer Zeitschrift. Die Zeitschrift meiner Wahl liest eine adrett gekleidete Frau mittleren Alters. Aber ihr Glas ist fast leer, daher beschließe ich wachsamen Auges zu warten und mir dann das Objekt meiner Begierde zu schnappen, wenn die nette Frau geht.

Zehn Minuten später: die Frau ist weg, die Zeitschrift auch – obwohl der Stempel des Lokals eindeutig den rechtmäßigen Besitzer kennzeichnete. Nun bleibt mir nichts anderes üprig als in der TIP zu blättern und verdutzt in der Titelstory mehr über das Wesen der Diebe zu erfahren.

Es verschwinden nicht nur vermehrt Zeitschriften, Aschenbecher und Salzstreuer, sondern auch Hygieneartikel und Einrichtungsgegenstände – alles was nicht niet- und nagelfest ist – und das nicht nur in öffentlichen Räumen wie Hotels oder Restaurants, sondern auch in den Büros. Verkehrsdelikte, Steuerbetrug, ungerechtfertigte Sozialleistungen – laut einer Umfrage von Karstedt und Farrell bewegen sich 60 Prozent der Ostdeutschen und ca. 70 Prozent der Westdeutschen regelmäßig in einer Grauzone. Sie halten Handlungen für legitim, die fern der gesellschaftlichen Moral sind, weil sie schlicht verboten sind.

Gelegenheit macht Diebe

Trotzdem fehlt diesen "knausrigen Sparfüchsen" das Unrechtsbewusstsein. Wenn die teure Hotelübernachtung schon das Budget strapaziert, ist das Mitnehmen der Handtücher schließlich gerechtfertigt. Den Aschenbecher braucht man zwar nicht, aber so schmerzt die hohe Restaurantrechnung nicht ganz so sehr.

Fühlt man sich ungerecht behandelt, steigt die Wahrscheinlichkeit selbst etwas Unrechtes zu tun. Karstedt und Farrell erklären "dass das individuelle Rechtsempfinden nicht in allgemeingültigen Normen verankert ist, sondern mit dem moralischen Klima einer Gesellschaft korrespondiert. Und dieses Klima unterliegt Schwankungen."

Das gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden wird empfindlich gestört durch bspw. politische Fehlentscheidungen oder Korruptionsskandale. Wenn sich andere ungerechtfertigt bereichern, steigt die Bereitschaft selbst unmoralisch zu handeln.

Laut Spiegel wächst die Distanz zwischen arm und reich in Deutschland. Das wird (wahrscheinlich) Auswirkungen auf die gesellschaftliche Moral und das Gerechtigskeitsempfinden haben. Auch wenn "die Wechselwirkung von Diebstahldelikten im öffentlichen Raum und Armut oder sozialer Ausgrenzung empirisch bisher nicht belegt ist." sagt Joachim Ciupka (Professor für Allgemeine und spezielle Kriminalistik an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege)

Quelle: TIP Berlin, Nr. 25/2006, 35. Jahrgang
Spiegel, Nr. 50/11.12.2006

(kat)

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Veröffentlicht von

Katja Schwab ist Diplom-Psychologin, Kommunikations- und Verhaltenstrainerin, systemische Körperpsychotherapeutin und zur Zeit in Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin.

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